Zürich: OTELLO, 20.10.2011
Oper in vier Akten | Musik: Giuseppe Verdi | Libretto: Arrigo Boito | Uraufführung: 5. Februar 1887 in Mailand | Aufführungen in Zürich: 20.10. | 23.10. | 26.10. | 30.10. | 6.11. | 13.11. | 22.11. | 27.11. 2011 | 1.1. | 5.1. | 8.1. | 21.6. | 24.6.2012
Kritik:
Kaum eine andere Oper der Musikgeschichte wartet mit einem ähnlich fulminanten Beginn auf wie Verdis OTELLO: Das gesamte Orchester setzt mit chromatischen Tonfolgen im fortissimo ein, Becken, Pauken, Hörner und Tamtam erschallen, ein dissonanter Orgelpunkt wird über 200 Takte ausgehalten, die angsterfüllten Einwürfe des Chores und der Offiziere an Land kämpfen gegen entfesselte Elemente, welche die Welt in eine Chaos zu stürzen drohen. Das ist Musik von ausserordentlicher Radikalität – und doch schien man ihr in Zürich noch nicht ganz zu trauen und verstärkte unnötigerweise den Orgelcluster elektronisch. Warum nur liess Maestro Gatti diese effekthascherische Verfremdung zu?
Wir befinden uns also mitten im Krieg, einem „desert storm“ westlicher Mächte in einem islamistischen Staat. Fernsehsender sind zur Stelle, „Al Jazeera“ berichtet live, der Fuoco-Chor wird mit Bildern von Napalm-Bomben, brennenden Ölfeldern und Flammen werfenden Helikoptern untermalt, der siegreiche Held (Otello) im Kampf gegen die Moslems wird als Marionette westlicher Interessen als Führer installiert. Doch schon bald offenbaren sich die wahren Absichten der Usurpatoren: Die Rassentrennung wird mittels an SVP-Schäfchen-Plakate angelehnte Propaganda proklamiert: weiss plus weiss=gut, weiss minus schwarz=gut, schwarz+weiss=falsch, hinter dem übergrossen Bild des „Erlösers“ erscheint das Plakat der Minarett-Verbotsinitiative. Der britische Regisseur Graham Vick und sein Ausstatter Paul Brown, welche erstmals am Opernhaus arbeiten, schöpfen aus dem Vollen: Da fahren Panzer auf, ausgebrannte Autowracks stehen herum, Fotoshootings werden mit Stacheldraht abgesichert, Marionettenregimes vor laufender Kamera ein- und abgesetzt. Dass ausgerechnet am Tag der Premiere in Libyen ein gefährlicher und unsäglicher Oberst und selbsternannter Führer, der ebenfalls lange Zeit von gewissen westlichen Potentaten hofiert worden war, gefangen und getötet wurde, verlieh Vicks Inszenierung eine beissende Aktualität. Vick setzt das Libretto äusserst wortgetreu um, in einer modernen Lesart, mit den Erfahrungen der heutigen Menschen. Dass er dabei der eigentlich aufs Private reduzierten Tragödie von Verdi/Boito einen theatralischen Überbau aus Politischem überstülpt, ist durchaus nachvollziehbar. Bewusst verloren geht dabei die Empathie für die Figuren: Sie werden in diesem Strudel der Fremdbestimmung durch amorphe Mächte zu dümmlichen Spielbällen. Otello ist ein mit Orden geschmückter, leicht manipulierbarer Kraftprotz, welcher allen Versprechungen und jedem Gerücht unbesehen Glauben schenkt. Jago, ein schleimiger Imperialist, fühlt sich im Hawaii-Hemd und der Operetten-Galauniform bedeutend wohler als im Kampfanzug. Im Gegensatz zur letzten Zürcher Inszenierung (vor zehn Jahren, durch Bechtolf – nur selten gespielt!) hält Vicks Jago die Fäden nicht eigentlich in der Hand. Desdemona ist eine naive Lady Di Imitation, die nur lieben will und von den politischen und anderen Intrigen nichts mitkriegt: Sie lässt sich gerne fotogen mit niedlichen Kopftuchmädchen ablichten, hat Freude an eleganten Kostümen und flüchtet sich, als sie die unausweichliche Katastrophe nahen sieht, zurück in ihr Brautkleid. Wie gesagt, das ist alles sehr schlüssig und handwerklich grandios inszeniert, und doch gelingt es der Inszenierung nicht, die ganz private Liebesgeschichte, welche eben auch im Werk angelegt ist, herauszuarbeiten - trotz des riesigen Kussmundes auf dem Zwischenvorhang.
Ähnlich disparat präsentiert sich die musikalische Seite: Die Absage Peter Seifferts führte zu einer Wiederbegegnung mit José Cura (dem gefeierten Otello der letzten Inszenierung). In den ersten beiden Akten klingt seine Stimme müde, leicht gaumig und angestrengt. Erst im dritten Akt läuft er dann zu wirklich grossartiger Form auf, gestaltet den Monolog Dio! Mi potevi scagliar und den vierten Akt mit geradezu Gänsehaut erregender Intensität. In diesem Schlussbild schleicht er sich in arabischem Gewand auf die leere Bühne und begeht den Mord an seiner weissen Gemahlin als geplanten Ehrenmord und nicht in eifersüchtigem Affekt. (Dass in diesem letzten Bild dann trotz des modernen Ambientes noch mit Dolchen und Degen herumgefuchtelt wird, erscheint nicht restlos konsequent.) Mit grosser Spannung erwartete man das Rollendebüt von Thomas Hampson als Jago. Der elegante Kavalierbariton als durchtriebener Bösewicht? Dass er solch finstere Gestalten überzeugend darstellen kann, hatte er schon als Francesco in Verdis MASNADIERI und als Scarpia bewiesen. Sein Jago ist eigentlich ein weichlicher, beinahe linkischer Schleimer. Hampson versteht es, jede Phrase, jedes Wort subtil zu gestalten und intelligent zu durchdringen. Damit gleicht er die mangelnde Schwärze seiner Stimmfarbe gekonnt aus. Im Trinklied wird er die Schwierigkeiten mit der zunehmenden Rollenerfahrung bestimmt noch besser meistern können. Das Credo hingegen (als aufrührerische Predigt vor muslimischen Jungen) und vor allem die Traumerzählung geraten beeindruckend. Fiorenza Cedolins ist eine wunderschöne Erscheinung und passt hervorragend in die Rolle der naiven Prinzessin. Während sie im finalen Duett des ersten Aktes noch mit einer leichten Unausgeglichenheit in der Stimmführung zu kämpfen hat, steigert sie sich im Verlauf des Abends hörbar und singt im vierten Akt ein an Innigkeit kaum zu übertreffendes Lied von der Weide und daran anschliessendes Ave Maria. Als Cassio ist der aufstrebende, junge Tenor Stefan Pop erstmals in Zürich zu hören – ohne nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen. Umso erfreulicher hingegen klingen die verdienten Ensemblemitglieder Benjamin Bernheim (das wäre ein hervorragender Cassio!) als Roderigo, Pavel Daniluk als Lodovico und vor allem Judith Schmid als Emilia: Mit ihrem satten, prächtigen Mezzosopran trägt sie entscheidend zur effektvollen Wirkung der Ensembles bei, sei es im Quartett des zweiten oder im Concertato des dritten Aktes. Der vielstimmige Chor (mit Zusatz- und Kinderchor) der Oper Zürich verfügt über die notwendige Durchschlagskraft und intonatorische Sicherheit, um sich gegen die von Daniele Gatti entfesselten Orchesterfluten zu behaupten. Einige Koordinationsprobleme werden sich bestimmt noch beheben lassen. Der Dirigent und das Orchester (berückend schön gestalten zum Beispiel die Holzbläser die Einleitung zum vierten Akt) werden am Ende zwar ebenfalls gefeiert, doch ist Gattis Lesart der Partitur an gewissen Stellen etwas gar analytisch, was auf Kosten der grossen Bögen und der Kantabilität geht. Da erstaunt es dann auch nicht mehr, dass das Publikum am Ende - unverzeihlich - in den traurig verklingenden Schluss hineinklatscht. Von Betroffenheit, Berührung keine Spur bei einem Teil des Zürcher Publikums. Dafür buht man dann lieber lautstark den Regisseur aus.
Fazit:
Mit "Kein Mitleid mit Otello" ist das im Programmheft abgedruckte Gespräch mit Regisseur Graham Vick übertitelt. Kein Mitleid mit dem Regisseur hatte eine lautstarke Minderheit des Premierenpublikums: Die Sicht auf OTELLO aus heutiger Perspektive wurde vehement abgelehnt. Dabei handelte es sich jedoch um eine sehr genau analysierende Lesart der Vorlage.
Wie fast immer bei Zürcher Premieren gab es hingegen viel Jubel für die Sänger - auch wenn die meisten von ihnen erst nach der Pause so richtig überzeugen konnten.
Inhalt:
Otello ist ein Aussenseiter: schwarzer Hautfarbe, nicht einer der wohlhabenden venezianischen Familien entstammend. Trotzdem hat er es zum Befehlshaber der venezianischen Flotte und zum Statthalter von Zypern gebracht und Desdemona geheiratet, welche aus einer edlen Familie stammt. Das Glück der beiden wird ihnen von Jago (welcher bei Beförderungen übergangen wurde) und Roderigo (welcher bei Desdemona abblitzte) geneidet. Besonders der nihilistisch denkende Jago versucht nun alles, um Otello zu zerstören. Zuerst macht er den Hauptmann Cassio betrunken, zettelt einen Streit unter den Offizieren an. Otello (eben erst siegreich aus einer Schlacht zurückgekehrt) enthebt Cassio seines Rangs. Jago spinnt seine fiese Intrige weiter: Er schürt Otellos Eifersucht, indem er Otello Gerüchte um eine heimliche Liebschaft zwischen Cassio und Desdemona zuträgt. Als Beweis nutzt er ein Taschentuch, welches Otello einst seiner Frau schenkte. Jago bemächtigt sich dieses Taschentuchs und spielt es Cassio in die Hände. Otello beginnt vor Eifersucht zu rasen, hat seine Gefühle selbst vor den Gesandten der Republik nicht mehr im Griff. Er beschimpft Desdemona vor aller Augen als Hure. Desdemona zieht sich in ihr Schlafgemach zurück, betet ein inniges Ave Maria und begibt sich zur Ruhe. Otello kommt in ihr Zimmer, sie will noch einmal ihre Unschuld beteuern. Zu spät. Otello ermordet sie. Emilia, Jagos Gattin, kommt mit der Meldung, dass Cassio Roderigo ermordet habe. Sie sieht die tote Desdemona und ruft schreiend um Hilfe. Cassio, Jago und der venezianische Gesandte erscheinen. Emilia klärt nun die Geschichte mit dem verlorenen Taschentuch Desdemonas auf. Jago flieht. Otello ersticht sich.
Werk:
Nach dem Erfolg der AIDA 1872 zog sich Verdi auf sein Landgut Sant´Agata zurück. Zwar komponierte er danach noch das REQUIEM für seinen Freund Alessandro Manzoni (1874) und überarbeitete einige seiner früheren Werke. Doch eigentlich rechnete niemand mehr mit einer neuen Verdi-Oper. Sein Verleger Ricordi machte Verdi jedoch mit dem feinsinnigen Komponisten und Dichter Arrigo Boito bekannt (mit dem Verdi dann auch bei der Überarbeitung des BOCCANEGRA zusammenarbeitete). Ricordi spielte Verdi auch einen szenischen Entwurf Boitos für OTELLO zu und weckte damit das Interesse des Maestros. Für die Komposition liess er sich allerdings viel Zeit. Erst 8 Jahre nach der ersten Begegnung mit Boito war die Partitur vollendet und wurde in der Scala mit triumphalem Erfolg für den 74 jährigen Komponisten uraufgeführt – trotz einer den Ansprüchen nicht ganz gewachsenen Besetzung (mit Ausnahme von Victor Maurel in der Rolle des Jago). Verdi wurde von einigen Banausen später Wagnerianismus vorgeworfen, was den italienischen Meister zutiefst verletzte. Nicht weil er Wagner nicht schätzte, sondern weil es schlicht nicht zutraf. Sein OTELLO ist zwar ein durchkomponiertes Werk, die Zäsuren der Arien- und Ensembleschlüsse fehlen. Doch ist auch in Verdis zweitletzter Oper das Primat der Singstimme nach wie vor in ausgeprägten Ariosi, Duetten, Quartetten und effektvollen Aktschlüssen ausschlaggebend. Doch auch das Orchester erhält viel Gewicht und trägt beredt zur Untermalung der von Boito dramaturgisch klug auf die zwischenmenschlichen Konflikte reduzierten Handlung bei. Verdi arbeitete im Gegensatz zu Wagner nicht mit einem sinfonischen Orchester und Leitmotiven, sondern lässt das Orchester lautmalerisch und mit Erinnerungsmotiven grandios auftrumpfen. OTELLO ist DER Höhepunkt der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts – ein Meisterwerk!
Musikalische Höhepunkte:
Sturm, Akt I
Auftritt Otello: Esultate!, Akt I
Trinklied Jago, Akt I
Liebesduett Otello-Desdemona, Schluss Akt I
Credo des Jago, Akt II
Racheschwur: Si per ciel, Jago-Otello, Akt II
A terra!, Finale Akt III
Mia madre aveva una povera ancella und Ave Maria, Desdemona, Akt IV