Frankfurt, Oper: OTELLO; 07.07.2024
Oper in vier Akten | Musik: Giuseppe Verdi | Libretto: Arrigo Boito | Uraufführung: 5. Februar 1887 in Mailand | Aufführungen in Frankfurt: 22.6. | 30.6. | 4.7. | 7.7. | 10.7. | 12.7.2024
Kritik:
MUSIKALISCHE WUCHT UND PRACHT
Brachialer und fulminanter geht wohl kaum eine andere Oper los. Verdi steigt ohne Vorspiel mit einem gewaltigen Sturm in sein Meisterwerk OTELLO ein. Die entfesselten Kräfte der Natur schäumen bedrohlich aus dem Orchestergraben hoch, besorgte Einwürfe des Chores und einiger Offiziere, aber auch weniger besorgte, eher hoffnungsvoll auf Otellos Untergang spekulierende Gedanken Jagos und Rodrigos dringen durch das Brausen des Sturms. Untermalt wird das Ganze durch blendende Blitze aus Scheinwerferbatterien (Licht: Joachim Klein). Sesto Quatrini am Pult des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters hält die Zügel fest in der Hand, ordnet die entfesselten Klangfluten aus dem Graben und aus den Kehlen des Chors, des Extra- und Kinderchors der Oper Frankfurt (Einstudierung: Tilman Michael) mit straffer Führung und lotet dabei die die Dynamik bis an die noch erträglichen Grenzen aus. Das ist Gänsehaut pur! Erst recht, wenn dann der Tenor Alfred Kim zu seinem (von vielen Interpreten gefürchteten) Arioso Esultate! ansetzt. Bei Alfred Kim braucht man in keinem Moment bange zu sein: Seine Stimme befindet sich in stupender Form, kennt überhaupt keine Grenzen, die Kraftreserven scheinen unerschöpflich. Sein stählerner, gleißender Tenor überstrahlt alle und alles. Ich kann mich nicht erinnern, in Live-Aufführungen einen dermaßen sicheren, müheloser die enormen Anforderungen der Partie meisternderen Otello gehört zu haben. Wenn man auf ganz hohem Niveau rummosern wollte, könnte man vielleicht sagen, dass diese Interpretation eine gewisse Einförmigkeit im Dauerforte-Bereich aufweist, den verletzlichen Aspekten der Figur zu wenig Platz einräumt. Aber bei Alfred Kim muss man wenigstens in keinem Augenblick um Intonation oder Spitzentöne bangen, der hält das mit einer bewundernswerten Kraft, Ausdauer und natürlich exzellenter Technik durch, so dass man auch nicht fürchten muss, dass die Stimme durch diese Tour de force Schaden davontragen könnte. Iain MacNeil als Jago ist ihm ein mehr als ebenbürtiger Partner. Der Bariton (Ensemblemitglied der Oper Frankfurt) interpretiert den Jago mit rabenschwarzer Stimme, gekonnt leicht aufgeraute Tintura einfließen lassend. Sein Credo, dieses nihilistische Manifest, lässt einen erschauern. Wenn sich die beiden gewaltigen Stimmen von Kim und MacNeil zum Finale II vereinen, erlebt man einen weiteren Gänsehaut-Moment. Es ist ganz fantastisch zu erleben, wie die Oper Frankfurt ihr Ensemble pflegt (auch Alfred Kim gehörte einst dazu): In der wichtigen Rolle des Cassio erlebt man nämlich Michael Porter, den man als quirligen Pedrillo in Mozarts ENTFÜHRUNG zwei Abende zuvor noch in bester Erinnerung hat. Er singt einen wunderbar einnehmenden Cassio, welcher die Naivität der Figur gekonnt in seine Stimme legt. Aufhorchen ließ der Bassbariton Kihwan Sim mit seiner besorgt-balsamischen Stimme. Ergänzt wurde die Riege der Offiziere durch den Tenor Jonathan Abernathy als Rodrigo und den Bass Magnús Baldvinsson als Montano, die beide ausgezeichnet sangen.
Auch durch die beiden Frauenstimmen wurde man gestern Abend mit zu Herzen gehendem Wohlklang belohnt. Nino Machaidze interpretierte die Desdemona mit ihrem leicht herb timbrierten Sopran überaus anrührend und Claudia Mahnke stellte natürlich in der kleinen Rolle der Emilia eine wirkliche Luxusbesetzung dar.
Über die Inszenierung durch das Team Johannes Erath (Regie), Dirk Becker (Bühnenbild) und Silke Willrett (Kostüme) werde ich nicht allzuviel schreiben - ich habe sie schlicht nicht verstanden. Die Bühne (ein unebener Boden aus rohen Planken, wie ein Schiffsdeck) sah eigentlich noch spannend aus. Umgeben war dieser Boden aber nur von den schwarzen Wänden des Bühnenraums, eine Scheinwerferbatterie ganz hinten und einzelne Scheinwerfer an der Decke und auf der rechten Seite. Hinten links ein Regal mit Scheinwerfer und einem ausgestopften Reh. Was Bambi hier auf hoher See verloren hatte, erschloss sich mir nicht. Auf der Bühne unzählige Kampfstiefelpaare in Reihe und Glied, die von den Chormassen immer mal wieder an- und ausgezogen wurden. Auch die Uniformen wurden abgestreift, darunter trugen sie unauffällige Alltagskleidung, zwei Discokugeln und einige Pailletten-Tops brachten etwas Licht ins Dunkel, die Motivation dazu verstand ich nicht. Auch Desdemona schlüpfte in die Kampfstiefel und streifte sich einen grauen Kapuzenpulli über das blau geblümte Kleid. Mit Verlaub: Desdemona war der Spross einer reichen venezianischen Familie und muss nun wie eine Bäuerin raumlaufen, die eben aus dem Stall kommt? Eben noch habe ich Silke Willretts Kostüme für LA JUIVE gelobt - die OTELLO-Produktion war einfach nur hässlich ausgestattet. Im Programmheft ist lediglich zu lesen, dass der Otello an einen auf einer Insel gestrandeten Fisch erinnert. Dem Otello wurde zudem ein Alter Ego zur Seite gestellt, wohl sein innerer Dämon des Bösen. Den sah man denn schon in seinem beigen Mantel mit Pelzbesatz auf der offenen Bühne sitzen, bevor die Oper los ging. Da auch der Jago quasi identisch kostümiert ist wie Otello, sieht Otello wohl in Jago die Inkarnation seines Dämons, eines Dämons, von dem er glaubte, ihn während des Singens des Esultate ermordet zu haben, der ihn aber nun erneut heimsucht. Alles sehr komplex und über zu viele Ecken gedacht. So verliert man schnell den Bezug zum Leiden und den Kämpfen der Protagoniste und verfolgt das weitere Geschehen leider etwas teilnahmslos. Dabei war Verdi doch ein Meister darin gewesen, die Menschen mit seiner Musik und seinen so prägnant gefassten, hoch emotionalen Szenen zu rühren. Aber wie soll ich mich in Desdemonas Lied von der Weide oder das Ave Maria vertiefen und am traurigen Schicksal Anteil nehmen, wenn Emilia dazu auf der Bühne herumläuft und Stiefel in Löcher wirft? Es bleiben einige Fragen offen nach diesem gewaltigen musikalischen Feuerwerk.
Inhalt:
Otello ist ein Aussenseiter: schwarzer Hautfarbe, nicht einer der wohlhabenden venezianischen Familien entstammend. Trotzdem hat er es zum Befehlshaber der venezianischen Flotte und zum Statthalter von Zypern gebracht und Desdemona geheiratet, welche aus einer edlen Familie stammt. Das Glück der beiden wird ihnen von Jago (welcher bei Beförderungen übergangen wurde) und Roderigo (welcher bei Desdemona abblitzte) geneidet. Besonders der nihilistisch denkende Jago versucht nun alles, um Otello zu zerstören. Zuerst macht er den Hauptmann Cassio betrunken, zettelt einen Streit unter den Offizieren an. Otello (eben erst siegreich aus einer Schlacht zurückgekehrt) enthebt Cassio seines Rangs. Jago spinnt seine fiese Intrige weiter: Er schürt Otellos Eifersucht, indem er Otello Gerüchte um eine heimliche Liebschaft zwischen Cassio und Desdemona zuträgt. Als Beweis nutzt er ein Taschentuch, welches Otello einst seiner Frau schenkte. Jago bemächtigt sich dieses Taschentuchs und spielt es Cassio in die Hände. Otello beginnt vor Eifersucht zu rasen, hat seine Gefühle selbst vor den Gesandten der Republik nicht mehr im Griff. Er beschimpft Desdemona vor aller Augen als Hure. Desdemona zieht sich in ihr Schlafgemach zurück, betet ein inniges Ave Maria und begibt sich zur Ruhe. Otello kommt in ihr Zimmer, sie will noch einmal ihre Unschuld beteuern. Zu spät. Otello ermordet sie. Emilia, Jagos Gattin, kommt mit der Meldung, dass Cassio Roderigo ermordet habe. Sie sieht die tote Desdemona und ruft schreiend um Hilfe. Cassio, Jago und der venezianische Gesandte erscheinen. Emilia klärt nun die Geschichte mit dem verlorenen Taschentuch Desdemonas auf. Jago flieht. Otello ersticht sich.
Werk:
Nach dem Erfolg der AIDA 1872 zog sich Verdi auf sein Landgut Sant´Agata zurück. Zwar komponierte er danach noch das REQUIEM für seinen Freund Alessandro Manzoni (1874) und überarbeitete einige seiner früheren Werke. Doch eigentlich rechnete niemand mehr mit einer neuen Verdi-Oper. Sein Verleger Ricordi machte Verdi jedoch mit dem feinsinnigen Komponisten und Dichter Arrigo Boito bekannt (mit dem Verdi dann auch bei der Überarbeitung des BOCCANEGRA zusammenarbeitete). Ricordi spielte Verdi auch einen szenischen Entwurf Boitos für OTELLO zu und weckte damit das Interesse des Maestros. Für die Komposition liess er sich allerdings viel Zeit. Erst 8 Jahre nach der ersten Begegnung mit Boito war die Partitur vollendet und wurde in der Scala mit triumphalem Erfolg für den 74 jährigen Komponisten uraufgeführt – trotz einer den Ansprüchen nicht ganz gewachsenen Besetzung (mit Ausnahme von Victor Maurel in der Rolle des Jago). Verdi wurde von einigen Banausen später Wagnerianismus vorgeworfen, was den italienischen Meister zutiefst verletzte. Nicht weil er Wagner nicht schätzte, sondern weil es schlicht nicht zutraf. Sein OTELLO ist zwar ein durchkomponiertes Werk, die Zäsuren der Arien- und Ensembleschlüsse fehlen. Doch ist auch in Verdis zweitletzter Oper das Primat der Singstimme nach wie vor in ausgeprägten Ariosi, Duetten, Quartetten und effektvollen Aktschlüssen ausschlaggebend. Doch auch das Orchester erhält viel Gewicht und trägt beredt zur Untermalung der von Boito dramaturgisch klug auf die zwischenmenschlichen Konflikte reduzierten Handlung bei. Verdi arbeitete im Gegensatz zu Wagner nicht mit einem sinfonischen Orchester und Leitmotiven, sondern lässt das Orchester lautmalerisch und mit Erinnerungsmotiven grandios auftrumpfen. OTELLO ist DER Höhepunkt der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts – ein Meisterwerk!
Musikalische Höhepunkte:
Sturm, Akt I
Auftritt Otello: Esultate!, Akt I
Trinklied Jago, Akt I
Liebesduett Otello-Desdemona, Schluss Akt I
Credo des Jago, Akt II
Racheschwur: Si per ciel, Jago-Otello, Akt II
A terra!, Finale Akt III
Mia madre aveva una povera ancella und Ave Maria, Desdemona, Akt IV