Verona, Arena: LA TRAVIATA, 30.07.2022
Melodramma in drei Akten | Musik: Giuseppe Verdi | Libretto: Francesco Maria Piave, nach Alexandre Dumas LA DAME AUX CAMÉLIAS | Uraufführung: 6. März 1853 In Venedig | Aufführungen in Verona: 30.7. | 6.8. | 20.8. | 1.9.2022
Kurzkritik:
ÜBERWÄLTIGEND
Wer hätte das erwarten können, dass ausgerechnet ein so intimes Werk wie LA TRAVIATA, welches außer dem Brindisi im ersten und dem Ballett mit großem Chor im dritten Bild wenig "arenataugliches" Material enthält, zu einem dermaßen überwältigenden Triumph wird. Regie und Bühnenbild stammen noch vom legendären, stets einer historisierenden Ästhetik sich unterwerfenden Regisseur Franco Zeffirelli. Dass ein Bühnenbild (und dessen Umbau auf offener Bühne) zu spontanen Beifallsstürmen führen, erlebt man in Opernhäusern nördlich der Alpen nur noch äußerst selten. Zeffirelli bleibt mit seiner Inszenierung exakt Mitte des 19. Jahrhunderts, es sieht alles genau so aus, wie man es erwartet. Prachtvolle, historische Kostüme (Maurizio Millenotti) versetzen uns in die mondäne Welt der Pariser Salons, als Rahmen dient das Bühnenportal mit Vorhang und Seitenlogen des Palais Garnier in Paris. Doch keine Bange, es wird kein Theater auf dem Theater - intellektuelle Überstülpungen und aktualisierte Verfremdungen waren nie Zeffirellis Ding. Wohl aber vermochte er die Weitläufigkeit der Bühne in der Arena gekonnt und sinnig auszunutzen, das ist alles punktgenau inszeniert, sängerfreundlich durch die nach hinten geschlossenen Räume noch dazu - pures Opernglück. Allein schon die Tatsache, dass es im Publikum von Bild zu Bild ruhiger wurde, spricht für die Aufführung.
DIE "EINSPRINGERIN"
Über das vorgesehene und dann relativ kurzfristig von der Sängerin selbst gecancelte Arena Debüt von Angel Blue will ich hier keine Worte mehr verlieren, man kann alles dazu in meiner AIDA-Kritik nachlesen. Die Fondazione Arena di Verona jedenfalls hatte Frau Blue bis zwei Tage vor der Vorstellung alle Türen offen gelassen, um ihren Entscheid zu überdenken. Davon machte sie keinen Gebrauch. Gestern Abend nun stand Nina Minasyan auf der Bühne und ersang sich einen umjubelten Triumph. Die junge armenische Sopranistin verfügt über eine samtweich und blitzsauber intonierende, warme Stimme. Ihr "Dite alla giovine" im zweiten und das "Addio del passato" im letzten Bild gelangen mit zu Tränen rührender, überirdischer Schönheit. Für das "Amami, Alfredo" und die grosse Szene am Ende des ersten Aktes "È strano ... Sempre libera" verfügte sie über den erforderlichen großen Atem und fein ziselierte, leichtfüssige Koloraturen, ohne je unschön forcieren zu müssen, alles auf tief empfundenen Ausdruck und nicht auf oberflächliche Bravour hin ausgerichtet. Den Übergang vom Sprechgesang ins Delirium des Todesgesangs der Schlussszene habe ich noch nie so kunstfertig erlebt! Darf man heutzutage noch erwähnen, dass Nina Minasyan auch eine außergewöhnliche Schönheit ist?
TENOR UND BARITON
Vittorio Grigolo ist natürlich meinen Zürcher Opernfreunden bestens bekannt, wurde er doch seinerzeit von Pereira und Nello Santi als lautstarker Latin Lover gerne und oft besetzt. Pereira nahm ihn dann später auch an der Scala oft unter Vertrag. In Zürich war er nicht mehr zu Gast. Es wurden dann auch Gerüchte so wegen #metoo laut, die sind unterdessen verstummt. Grigolo sang gestern Abend einen erstaunlich zurückhaltenden Alfredo, zeigte gekonnt die nervöse Unbeholfenheit des Jungen vom Land in der mondänen Großstadt. Seine große Arie mit Kabaletta im zweiten Akt sang er sehr schön und verzichtete gar auf das (nicht notierte, aber erwartete) Acuto. Erst beim Schlussapplaus war Grigolo dann wieder ganz der alte: Exaltiert, Küsschen in die Menge, Anfeuern des Applauses. So ist er halt. Doch schön singen kann er immer noch.
Grandios gestaltete Ludovic Tézier die Rolle des Vaters Germont, machte die Wandlung vom kaltherzigen Patriarchen zum empathisch fühlenden, tiefe Hochachtung vor der menschlichen Grösse Violettas empfundenen Mannes plausibel. Verdientermaßen erhielt Ludovic Tézier für diese herausragende Interpretation besonders warmherzigen Applaus. Lilly Jørstad sang eine ausgezeichnete Flora und Yao Bohui war die besorgte Annina. Besonderen Applaus erhielt das Ballett der Fondazione Arena di Verona für das traditionell choreographierte Matador-Ballett im dritten Bild, inklusive Glitter-Konfettiregen. Etwas Spektakel erträgt selbst eine Open Air TRAVIATA unbeschadet.
DIRIGENT UND ORCHESTER
Wie bereits in der AIDA stand der routinierte Marco Armiliato am Pult des an diesem Abend erstaunlich gut disponierten Orchesters und ließ viele Feinheiten der Partitur aufblühen. Besonders das subtile, intensive Spiel der Soloklarinette verdient eine Erwähnung.
Ein rundum beglückender Opernabend in der um Mitternacht immer noch heißen Luft Italiens hinterließ tiefen, bewegenden Eindruck.
Werk:
LA TRAVIATA bildet zusammen mit IL TROVATORE und RIGOLETTO die so genannte Erfolgstrias aus Verdis mittlerer Schaffensperiode. Die drei Opern gehören nicht nur zu den populärsten und meistgespielten Werken Verdis, sondern des gesamten Repertoires. Die TRAVIATA vermochte sich zuerst nicht durchzusetzen. Erst nach einigen kleinen Änderungen (und einer Umbesetzung der korpulenten Sopranistin der Uraufführung) setzte das Werk seinen langsamen Siegeszug an. Indem Verdi und sein Librettist eine ausserhalb der anständigen Gesellschaft stehende Frau (wörtlich bedeutet LA TRAVIATA „Die vom rechten Weg abgekommene“) ins Zentrum einer Oper stellten, betraten sie inhaltlich Neuland, ja die TRAVIATA gilt sogar als Vorläuferin der veristischen Opern des späten 19. Jahrhunderts. Musikalisch ist die gefühlvolle Komposition ganz als Seelendrama der Protagonistin angelegt, die Sympathien Verdis für diese Ausgestossene werden deutlich hörbar. Nur schon das an trauriger Empfindsamkeit kaum zu übertreffende Vorspiel zum dritten Akt lässt keine Zuhörerin, keinen Zuhörer unberührt.
Inhalt:
In ihrem Salon begegnet die Kurtisane Violetta dem jungen, unerfahrenen Alfredo Germont. Diese Begegnung stürzt die kränkelnde Frau in einen Zwiespalt der Gefühle. Einerseits fühlt sie sich zu dem jungen, rücksichtsvollen Mann hingezogen, andererseits will sie ihr genussreiches Leben nicht einfach so aufgeben. Doch die beiden ziehen zusammen. Das wenige Geld ist jedoch bald aufgebraucht, Violetta veräussert ihren Schmuck. Alfredo findet das heraus, ist beschämt und versucht seinerseits Geld zu beschaffen. Während seiner Abwesenheit trifft Alfredos Vater ein und verlangt von Violetta um der Familienehre willen, die Beziehung zu seinem Sohn zu beenden. Schweren Herzens stimmt Violetta zu, auch im Wissen um ihre Krankheit (Tuberkulose). In einem Brief teilt sie Alfredo mit, dass sie sich entschieden habe, zu ihrem alten Leben zurückzukehren. Alfredo lässt sich von seinem Vater nicht zur Rückkehr in den Schoss seiner Familie überreden. Er reist Violetta nach. Auf einem Ball macht er Violetta schwerste Vorwürfe und bezeichnet sie als Hure. Die Gaäste, unter ihnen auch der Vater Germont, sind entsetzt. Violetta wird immer schwächer und kränker. Der alte Germont enthüllt seinem Sohn die Wahrheit über Violettas Verzicht. Alfredo und die sterbende Violetta können sich ein letztes Mal in die Arme schliessen und sich gegenseitig um Verzeihung bitten. Violetta meint, ihre Lebensgeister wieder erwachen zu spüren - sie ehebt sich und stirbt.
Musikalische Höhepunkte:
Libiamo ne' lieti calici, Trinklied Alfredo, Violetta, Akt I
A fors' è lui .... sempre libera, Violetta, Akt I
De miei bollent spiriti, Alfredo, Akt II
Pura siccome un angelo, Violetta – Germont, Akt II
Amami Alfredo, Violetta, Akt II
Di Provenza il mar, Germont, Akt II
Alfredo, Alfredo, die questo core, Violetta, Finale Akt II
Vorspiel Akt III
Addio del passato, Violetta, Akt III