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Zürich, Predigerkirche: AMICI DELL'ARTE, 23.10.2016

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Amici dell' arte

Bilder, 23.10.16: K. Sannemann

Wladimir Iwanowitsch Rebikow: FEUILLES D'AUTOMNE | John Rutter: SUITE LYRIQUE für Harfe und Streichorchester | Victor Herbert: SERENADE op.12 | Uraufführung: 1. Dezember 1888 in New York | Aufführungen dieses Konzerts in der Reformierten Kirche Pfäffikon ZH am 22.10.2016 um 19.30 Uhr und in der Predigerkirche Zürich am 23.10.2016 um 17 Uhr

Kritik:

 

Es ist schon erstaunlich: Einerseits streben wir ständig nach neuen Kicks, wollen mit immer wahnwitzigeren, ungewohnten Reizen überflutet werden – andererseits halten wir uns bei der Konfrontation mit unbekannter Musik (gerade im Klassikbereich) auffallend vornehm zurück, da werden Neugier und Wissensdrang plötzlich hinfällig, wir klammern uns an die bekannten, „bewährten“ Namen. Doch allein das Wissensportal im Internet, Wikipedia, führt etwa 8000 Seiten mit Namen von Komponisten klassischer Musik auf, von der Renaissance bis ins 21. Jahrhundert. Wenn man mal davon ausgeht, dass auf jeder Seite etwa 100 Namen stehen sind wir bei einer Fülle von 800'000 Komponist_innen. Die kann und muss niemand alle kennen. Doch dass darunter jenseits von Bach, Haydn, Mozart und Schubert auch noch weitere grosse und bedeutende Talente zu finden und entdecken sind, ist mehr als wahrscheinlich. Einen eindrücklichen Beweis für diese These haben Marcel Blanchard und das mit grandioser Spielfreude auf diese Entdeckungsreise mitgehende Kammerorchester AMICI DELL'ARTE mit ihrem diesjährigen Herbstkonzert FEUILLES D'AUTOMNE erbracht. Denn Hand aufs Herz: Wer kann aus dem Stegreif Namen wie Rebikow, Rutter oder Herbert richtig zuordnen, ihre Werke, ihren Stil benennen?

Begonnen hatte das Konzert an diesem tristen, kühl-nassen Novembersonntag (ach nein, der Kalender zeigt ja noch Oktober an...) mit Wladimir Rebikows op. 29, betitelt FEUILLES D'AUTOMNE. Es sind sechs melancholisch die weite Seele Russlands auslotende Sätze, allesamt in langsamen Tempi (Lento, Andante). Das diesmal mit einer reinen Streicherbesetzung spielende Orchester begeisterte mit einem herrlich runden Gesamtklang, aus dem immer wieder die warmen Kantilenen der Celli hervorstachen. Marcel Blanchard verstand es ausgezeichnet, mit seiner ruhigen, präzisen Art der Leitung, die Wehmut, das manchmal geradezu Schwermütige der Komposition dieses Zeitgenossen von Glasunow oder Rachmaninow (die bekannten Namen erwähne ich nur, damit ihn die Leser_innen etwas einordnen können) zu evozieren. Man kann sich einfach in diese elegische Stimmung hineinfallen lassen, zurückdenken an sonnigere Tage, sich nach dem wärmenden Kaminfeuer sehnen.

Mit einer noch romantischeren Komposition (obwohl etwa hundert Jahre später entstanden) ging es weiter: John Rutters SUITE LYRIQUE für Harfe und Streichorchester. Die Angelsachsen haben es eben auch im 20. Jahrhundert verstanden, für das menschliche Ohr zu komponieren, sich nicht von der Neuen Wiener Schule um Schönberg, Berg und Webern und der nachfolgenden seriellen Musik vereinnahmen lassen (man denke an Elgar, Ralph Vaughn Williams, Benjamin Britten – und eben John Rutter). Die junge Harfenistin Seline Jetzer spielte diese sechs zauberhaften Sätze mit glasklarem, perlendem und dynamisch fein abgestuftem Spiel, bezwingender, äussert präziser Behändigkeit, effektvollen Glissandi – ein Plädoyer für eines der ältesten Musikinstrumente der Geschichte (das sich natürlich technisch seit seinen Ursprüngen vor 3000 Jahren in Ägypten und Mesopotamien enorm weiterentwickelt hat). Wunderbar das Wechselspiel der Stimmführung zwischen Solistin, Solovioline des Konzertmeisters, den Celli, dem Orchester mit seinen Pizzicati und den Anklängen an irisch/schottische Volksmusik (im finalen Rondeau). Witzig auch das kurze Einsprengsel der Seguidilla aus Bizets CARMEN im Waltz. Und dann war da noch dieser zweite Satz, Aria, welcher das romantische Herz zum Schmelzen brachte – zum Heulen schöne Musik, stark erinnernd an die wunderbaren Kompositionen eines Francis Lai, welcher etwa in der selben Zeit wie Rutter die berührenden Partituren zu Filmen wie LOVE STORY, BILITIS oder eben das Adagio in Lelouches UN HOMME QUI ME PLAIT schrieb.

Den Abschluss des Konzerts bildete Victor Herberts SERENADE FOR STRINGS – eine beschwingte Musik, gespickt mit effektvollen, mitreissenden Crescendi, die einmal mehr das untrügliche Gespür des Dirigenten Marcel Blanchard für atmosphärisch dichtes Gestalten aufzeigten, ohne plakativ zu übertreiben. Herrlich die Anklänge an amerikanische Hillbilly-Musik aus den östlichen Staaten der USA oder die Kaffeehaus-Musik in der Canzonetta, das spritzige Finale, welches zwischen tänzerischen Music Hall Klängen und Schwelgerei pendelte, mit komplexen Begleitfiguren aufwartete und in den emphatischen Schlussteil mündete. Doch zuvor durfte man sich noch den wohligen Gefühlen der Liebes-Scene hingeben, bis hin zum auskomponierten Orgasmus und dem nachfolgenden ermatteten Zurücksinken und dem Kuscheln des Nachspiels. Wunderbare Programmmusik – und ganz ohne die sehrende Schwere von Wagners Liebesszene aus TRISTAN UND ISOLDE, welche eventuell Pate gestanden hatte für Herberts Version.

Als Zugabe, musikalische Visitenkarte und Vorschau für das traditionelle Silvesterkonzert in Pfäffikon ZH (mit welchem auch das 10jährige Bestehen des Kammerorchesters AMICI DELL'ARTE gefeiert werden wird) spielten die Musiker_innen die köstliche Pizzicato-Polka des Walzerkönigs Johann Strauss und bewiesen damit zweierlei: Erstens dass sie ihre Instrumente nicht nur mit dem Bogen perfekt beherrschen und zweitens dass sie auch das „gängige“ Repertoire nicht vernachlässigen. Nichtsdestotrotz war man dankbar für die mutige Entdeckungsreise ins Land der etwas vernachlässigten Schätze in der unendlich weiten Welt der Musik(-geschichte).

Komponisten und Werke:

Der Russe Wladimir Iwanowitsch Rebikow (1866-1920) wirkte als Musiklehrer und Komponist in Moskau, wo er etwa zehn Opern, Pantomimen, Orchestersuiten und Kirchenmusiken schuf. Zudem entwickelte er eine eigene Schallplattentechnik. Wie Tschaikovsky schrieb er viele Miniaturen und lyrische Stücke für Klavier. Dabei befand er sich in bester Gesellschaft mit anderen Komponisten aus der Zeit des Impressionismus. Doch zum Zeitpunkt seines Todes mit nur 54 Jahren war er bereits vergessen und er starb ziemlich verbittert und desillusioniert. Er behauptete stets, dass seine überaus erfolgreichen Zeitgenossen Debussy, Skriabin und Stravinsky seine Ideen kopiert hätten. Ironischerweise ist er heutzutage bloss noch für seine „Salon“-Musik bekannt. Die FEUILLES D'AUTOMNE, op 29, komponierte er zunächst für Klavier und arbeitete diese zauberhaften Miniaturen später für Streichorchester um, eine Technik, die auch Maurice Ravel oft anwandte.


John Rutter (geboren 1945 in London) kann musikalisch der Postmoderne zugeordnet werden. Er gründete den professionellen, hoch angesehenen Kammerchor THE CAMBRIDGE SINGERS, welcher oft für Aufnahmen eingesetzt wird. Rutters Kompositionsstil zeichnet sich durch eine interessante, komplexe Harmonik aus, nimmt rhythmisch auch gerne Elemente des Jazz auf und begeistert durch den melodischen Einfallsreichtum. Wie Hans Werner Henze scheut er sich nicht vor Eklektizismus. Gerne verwendet er auch Zitate aus vergangenen Epochen. Sein PSALM 150 wurde zum Goldenen Thronjubiläum von Queen Elizabeth II in der St.Paul's Cathedral in London als Auftragswerk uraufgeführt. Neben seiner Hommage an die Songs der Beatles (THE BEATLES CONCERTO) schrieb er ein REQUIEM, ein GLORIA, eine Magnificat und viele Weihnachtslieder. Die SUITE LYRIQUE für Harfe und Streicher fusst auf seiner SUITE ANTIQUE. Die sechs Sätze erkunden verschiedene Stimmungen und loten den Klang und die Möglichkeiten der Harfe auf faszinierende Art aus.

Victor Herbert (1859-1924) wurde in Irland geboren, wuchs in Deutschland auf und übersiedelte dann in die USA. Zuerst war er als Cellist in Wien und Stuttgart, später an der Met in New York. Er leitete auch das Pittsburgh Symphony Orchestra und gründete sein eigenes Orchester, das Victor Herbert Orchestra, welches er bis zu seinem Tod leitete. Er setzte sich zusammen mit Sousa und Irving Berlin für die Rechte von Autoren ein. Nach gigantischen Erfolgen mit Operetten wandte er sich nach dem Ersten Weltkrieg auch dem Musical zu. Die Operette BABES IN TOYLAND erfreute sich ganz besonderer Popularität. Sie wurde z.B. 1934 vom Komikerduo Laurel und Hardy adaptiert (MARCH OF THE WOODEN SOLDIERS), midestens dreimal fürs US-Fernsehen produziert und 1986 mit Drew Barrymore und Keanu Reeves nochmals verfilmt. Seine SERENADE FOR STRINGS, uraufgeführt 1888, wurde schnell ein durchschlagender Erfolg. Sie zeigt exemplarisch den unbändigen Einfallsreichtum des Komponisten, der zwar weiss, wie man effektvoll und populär komponiert, sich aber nicht plump anbiedert.

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