Zürich, Opernhaus: LES CONTES D'HOFFMANN; 28.06.2025
Saimir Pirgu in der Titelpartie von Offenbachs Meisterwerk LES CONTES D'HOFFMANN
Opéra fantastique in fünf Akten | Musik: Jacques Offenbach | Libretto: Jules Barbier | Uraufführung: 10. Februar 1881, Salle Favart, Paris | Aufführungen in Zürich: 28.6. | 1.7. | 4.7. | 9.7. | 12.7.2025
Kritik:
Mit dem Song LIVE IS LIFE landete die österreichische Band Opus einst einen internationalen Hit – und meinte mit dem Titel, dass nur „live“ Erlebtes eben das wahre Leben sei. Diese Einsicht lässt sich getrost auf das Musiktheater übertragen, insbesondere auf die gestrige „quasi“ Premiere von Offenbachs Meisterwerk LES CONTES D'HOFFMANN am Opernhaus Zürich. „Quasi“ des deshalb, weil die Premiere zwar bereits im April 2021 stattgefunden hatte, allerdings mitten in der Pandemie, ohne Publikum und deshalb nur per Streaming in die Wohnzimmer der Menschen gelangt war. (An dieser Stelle kann man aber auch nochmals den Verantwortlichen des Opernhauses Zürich seinen Dank aussprechen für die kluge und trotz aller widriger Umstände souveräne Bewältigung der Jahre 2020/21!)
Jetzt gut vier Jahre später kommt diese fantastische Produktion dieser phantastischen Oper erstmals live und vor Publikum im fast voll besetztem Saal des Opernhauses Zürich zur Aufführung. Wie man weiter unten auf einem meiner Links nachlesen kann, war ich schon am TV begeistert – doch kein Vergleich mit dem prallen Live-Erlebnis gestern Abend. Dieses packende, unterhaltsame, mit viel Witz und augenzwinkernder Groteske mit schauerromantischem Einschlag inszenierte letzte (und unvollendete) Werk aus der Feder Offenbachs geriet zu einem begeisternden theatralischen Fest, zu einem Triumph auch für den abtretenden Intendanten und Regisseur Andreas Homoki und das gesamte Ensemble auf, vor und hinter der Bühne.
DAS FASS: Wie oft bei Andreas Homokis Konzeptionen stehen singuläre geometrisch-abstrakte oder reale Elemente (die eindrückliche Gestaltung der Bühne stammt diesmal von Wolfgang Gussmann) im Zentrum seiner Inszenierungen. Im ersten Akt ist dies ein Weinfass, das natürlich gut zur Stimmung in Luthers Weinkeller passt, aber in welchem natürlich auch der Alkohol, das Antriebsmittel des Dichters, schlummert. Deshalb bleibt das Fass dann auch in den folgenden Akten am Bühnenrand stehen. Aus diesem Fass entsteigt die Muse, die sich in Nicklausse verwandelt und zur ständigen Begleiterin/zum Begleiter des Künstlers durch all die wenigen Höhen und die abgründigen Tiefen seiner Lebens- und Liebeserfahrungen wird. Marina Viotti gestaltet ihre umfangreiche Rolle mit all der burschikosen Wucht ihres klangstarken (im fast gebrüllten „Je briserai la chaîne qu'il porte au cou! Ah!“ im Auftrittscouplet, übernahm sie die Ausrufezeichen des Textes in ihre dynamische Gestaltung), aber wo geboten auch agilen Mezzosoprans. Ihre Bühnenpräsenz ist (wie auch schon in CARMEN) beeindruckend. Das ist keine edle, sanfte Muse, sondern eine bodenständig-resolute Göttin, welche den vom Alkohol benebelten Dichter in ihrem finalen „On est grand par l'amour et plus grand par les pleurs!“ auf den Weg des grossen Künstlers weist.
DAS SOFA: Doch dazu muss dieser Künstler diverse Stationen des Lebens, der Tragik, der Enttäuschung durchlaufen. Der Fokus auf diese Situationen wird mittels einer sich öffnenden, rautenartigen Blende ermöglicht, welche den Blick auf eine in alle Richtungen kippbare und vorwärts und zurückfahrende weitere Raute mit Trompe-l’œil Boden freigibt. Auf dieser Wippe steht ein Sofa, Mittel- und Angelpunkt für die Auftritte der mechanischen Puppe Olympia, welcher Katrina Galka mit ihrer stupende Koloraturstimme Leben einhaucht. Was für eine atemberaubende Virtuosität, was für eine humoristische Darstellungskraft. So macht Oper Spass! Dafür bekam sie nach ihrer Arie auch zu recht verdienten und tosenden Applaus! Daniel Norman gibt einen herrlich durchtrieben-trotteligen Spalanzani, den „Vater“ Olympias. Der Olympia-Akt ist mit seiner inhärenten Komik natürlich ein Bonbon für jeden Regisseur und Homoki schafft grossartige, slapstickartige Effekte, welche auch dank der Puppenkleidung, diesem mehrschichtigen Cancan – Rock, urkomisch funktionieren (die leicht überzeichneten Kostüme haben Wolfgang Gussmann und Susana Mendoza entworfen).
DER FLÜGEL: Der dritte Akt ist der mit der ergreifendsten Musik dieser an Melodien so überreichen Oper. Hier sitzt, nachdem Docteur Miracle die Blende geöffnet hat, Antonia am Flügel und singt, das Porträt ihrer verstorbenen Mutter vor Augen, ihre Romanze Elle a fui, la tourterelle. Adriana Gonzalez besitzt eine biegsame Sopranstimme mit üppigem, sattem Timbre, „a lush voice“, wie die Engländer sagen würden. Viele mögen vielleicht in dieser Partie eine ätherische, jungmädchenhafte Stimme, doch persönlich fand ich Frau Gonzalez mit ihren luxuriös aufwallenden Phrasen ganz wunderbar besetzt, ein starkes Rollendebüt jedenfalls. Eindringlich auch Judith Schmid als Erscheinung der Mutter, die Stimme aus dem Grab, welche das sich grandios hochschraubende Terzett Chère enfant que j'appelle Antonia – Dr. Miracle – Mutter mit ihrem satten Mezzosopran wunderbar bereicherte. Andrew Foster-Williams ist dieser dämonische Docteur Miracle, legt Autorität, Verführungskunst und blanken Hohn in seine Stimme, ein mephistophelischer Charakter, den er auch in den restlichen Akten als Lindorf, Coppélius und Dapertutto offenbart. Sein Bariton klingt nicht allzu schwarz, doch gelingt es ihm, die Boshaftigkeit seines Agierens eindringlich zu akzentuieren. Nathan Haller liefert als schwerhöriger Diener Frantz mit seinem Couplet Jour et nuit ein virtuoses vokales und darstellerisches Kabinettsstückchen ab. Genauso vermag er im vorangehenden Akt als Cochenille, im ersten Akt als einsilbiger Andrès (Oui, Non) und im vierten Akt als unheimlicher, grotesker Pitichinaccio zu begeistern. Grossartig ist auch Stanislav Vorobyov als Antonias besorgter Vater Crespel besetzt, der seinen runden, balsamischen Bass herrlich strömen lassen kann. Am Ende diese Aktes folgt ein veritabler Coup de théâtre. Mehr verrate ich nicht, das muss man gesehen haben!
DER KRISTALLLÜSTER: Auch wenn in der hier (und heutzutage meist, da auf neuesten Forschungsergebnissen beruhend) verwendeten Kaye/Keck Fassung von LES CONTES D'HOFFMANN die berühmte Diamantenarie im Venedig-Akt gestrichen ist, funkelt es in dieser Inszenierung doch, da der über dem Trompe-l’œil Boden sich leicht drehende Kristalllüster für diesen Effekt besorgt ist. Überhaupt ist die gesamte Lichtgestaltung durch Franck Evin einmal mehr zu loben. Das spuk- und alptraumhafte der Erzählungen Hoffmanns sind atmosphärisch überaus plastisch herausgearbeitet. Unter dem Lüster sehen wir, nachdem Nicklausse die berühmte Barcarole angestimmt hatte, die Kurtisane Giulietta, welche in den Gesang miteinstimmt und die beiden Mezzosoprane vereinigen sich aufs Schönste in den wiegenden Phrasen. Lauren Fagan verleiht der Figur der zwielichtigen Giulietta einen gekonnt ordinären Klang. Den Nebenbuhler Hoffmanns, Schlémil, wird von Samson Setu dargestellt.
Nun ist es aber höchste Zeit, auf den Titelhelden Hoffmann zu sprechen zu kommen: Für die überwältigende Leistung Saimir Pirgus in dieser anspruchsvollen und umfangreichen Partie kann man kaum Worte finden. Er bewältigt die Rolle mit einer Souveränität, die beglückt und erstaunt. Ohne jegliche Ermüdungserscheinungen agiert er fünf Akte lang auf der Bühne, und ja, er agiert wirklich und steht nicht einfach herum. Was er mit seiner Stimme alles auszudrücken vermag, ist schier unfassbar. Wie er sich aus einem Parlandoton zu berückender Emphase hochschwingen kann, wie er die dynamische Bandbreite von Voix mixte bis zu tiefster Verzweiflung im fortissimo auskostet, das ist alles einfach stupend! Pirgu ist einer jener Sänger, deren Stimme direkt aus dem Herzen strömt, die jede Phrase vom Text durchdrungen zu interpretieren vermögen.
Diese Differenzierungskunst praktizieren auch Antonino Fogliani und die Philharmonia Zürich. Offenbachs Musik erhält durch das Dirigat Foglianis genau die federnde Spritzigkeit, die sie braucht; sie bekommt den Drive, der die Handlung vorwärts bringt und - wo geboten - das farbenreiche, poetische Verweilen. Der exzellente Chor der Oper Zürich setzt diese teils temporeichen Vorgaben in den chorischen Passagen mit Genauigkeit der Intonation und rhythmischer Präzision um.
Die Besetzungsliste dieser Opéra fantastique ist lang, doch alle verdienen sie erwähnt zu werden: Valeriy Murga (Luther), Steffan Lloyd Owen (Hermann), Christopher Willoughby (Nathanaël), Maximilian Lawrie (Wolfram), Lobel Barun (Wilhelm/Le Capitaine des Sbires) und last but not least die Frau, die alle anderen drei Geliebten Hoffmanns in sich vereint: Stella, gesungen von Maria Stella (!) Maurizi, welche in den beiden Aussenakten auftritt, aber nur im Schlussakt eine Phrase singen darf. Doch diese eine Phrase liess aufhorchen! (Wäre es Offenbach bloss vergönnt gewesen, den Akt fertig zu stellen!)
Wie sang doch die Band Opus (neben viel na na na na naaa ...):
When we all give the power
We all give the best
Every minute of an hour
Don't think about the rest
And you all get the power
You all get the best
An diesem Abend hat das Publikum tatsächlich das Beste bekommen! DANKE!!!
Inhalt:
Während einer Aufführung von Mozarts Don Giovanni flüchtet der Dichter Hoffmann in Luthers Weinkeller, um seinen Frust über die Launen seiner Geliebten, der Sängerin Stella, im Alkohol zu ertränken. Ebenfalls anwesend ist der Stadtrat Lindorf (in den Mittelakten Coppélius, Miracle, Dapertutto), die Inkarnation des Bösen, welcher sich seinerseits Hoffnungen auf Stella macht. Hoffmanns Gedanken schweifen ab, er verliert sich in scheinbaren Erinnerungen an drei seiner Geliebten. Von diesen berichten die drei Mittelakte: Die Puppe Olympia, in welche sich Hoffmann verliebt hatte, wird vor seinen Augen zertrümmert, die schwindsüchtige Sängerin Antonia wird vom Bösewicht dazu angestachelt, sich in den Tod zu singen und die Kurtisane Giulietta raubt ihm sein Spiegelbild, verspottet ihn und macht ihn zum Mörder. Am Ende der Oper befinden wir uns immer noch im Weinkeller. Lindorf hat Hoffmanns alkoholbedingten Schwächeanfall gnadenlos ausgenutzt und zieht mit Stella von dannen. Die Muse (Nicklausse) hat den Dichter für sich gewonnen.
Werk:
Als Offenbach im Oktober 1880 starb, hinterliess er sein Meisterwerk LES CONTES D'HOFFMANN als Torso. Nur die Akte I-III waren einigermassen fertig geworden. Für die Uraufführung wurde Ernst Guirod (welcher auch Bizets CARMEN mit Rezitativen versehen hatte) beauftragt, eine spielbare Fassung herzustellen. In letzter Minute wurde für die Uraufführung sowie für die deutschsprachige Erstaufführung in Wien der Giulietta-Akt gekippt. Für spätere Aufführungen (z.B. in Monte Carlo 1904) wurden Musiknummern eingefügt, welche gar nicht von Offenbach für dieses Werk vorgesehen waren und aus Arrangements anderer Werke des Komponisten stammen (so der Hit aller Wunschkonzerte, die „Spiegelarie“, und das Septett im Giulietta-Akt). Neuere Quellenfunde in den letzten beiden Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts erlaubten weitere Rückschlüsse auf Offenbachs ursprüngliche Intentionen. Heutzutage wird meist die so genannte Kaye/Keck-Fassung von 2005 gespielt. Doch auch damit ist die beinahe kriminalistische Spurensuche nach dem endgültigen HOFFMANN wahrscheinlich immer noch nicht beendet. Einem Wunder käme es gleich, wenn Notizen oder Noten zum eigentlich geplanten Duett Stella-Hoffmann im fünften Akt auftauchten!
Das Libretto beruht auf einem Theaterstück von Barbier/Carré, welches seinerseits auf Erzählungen des Dichters E.T.A. Hoffmann beruht („Der Sandmann“, „Rat Crespel“ und „Die Geschichte vom verlorenen Spiegelbild“). Die Protagonisten dieser Erzählungen werden in der Oper zum Dichter selbst. Die drei Frauen in den Mittelakten (Olympia, Antonia, Giulietta) stellen Hoffmanns Geliebte, die Sängerin Stella in den Facetten ihrer fatal attraction dar. Deshalb macht es Sinn, all diese Damen von ein und derselben Sängerin darstellen zu lassen, falls man über eine entsprechend vielseitige Künstlerin verfügt.
Mit einfachen, aber genialen und von grosser melodischer Einfallskraft zeugenden Mitteln gelang es Offenbach, ein Werk zu schaffen, welches (nach einer von den Nazis verordneten „Zwangspause“) zu den beliebtesten des Repertoires zählt und heute neben CARMEN sicher die meistgespielte französische Oper ist.
Musikalische Höhepunkte:
Il était une fois à la cour d'Eisenach,Chanson des Hoffmann, Akt I
Les oiseaux dans la charmille, Couplet der Olympia, Akt II
Ella a fui, la tourterelle, Romance der Antonia, Akt III
Chère enfant, que j'appelle, Trio Mère-Antonia-Miracle, Akt III
Belle nuit, ô nuit d'amour, Barcarole, Akt IV
Repands tes feux, Chanson des Dapertutto, Akt IV
O Dieu, de quelle ivresse, Romance des Hoffmann, Akt IV
Finale, Akt IV