Basel: LES CONTES D'HOFFMANN, 03.10.2014
Opéra fantastique in fünf Akten | Musik: Jacques Offenbach | Libretto: Jules Barbier | Uraufführung: 10. Februar 1881, Salle Favart, Paris | Aufführungen in Basel: 17.09 | 20.09. | 22.09 | 28.09. | 3.10. | 6.10. | 8.10. | 11.10. | 19.10. | 25.10. | 28.10. | 30.10. | 2.11. | 8.11. | 14.11. | 16.11. | 14.12. | 31.12.2014
Kritik:
"Wir spielen die Fassung von Kaye/Keck - plus alles was schön ist" wurde in der Einführung zu Offenbachs LES CONTES D'HOFFMANN am Theater Basel in einem Nebensatz etwas salopp erwähnt. Gut so. Die Aufführung mag dadurch ein paar Minuten länger dauern, vielleicht spart man diese durch kürzere Umbaupausen und das Weglassen der einen oder anderen Strophe wieder ein. Jedenfalls kommt das Publikum so sowohl in den Genuss der Diamantenarie als auch des "Septetts" im Giulietta-Akt (das ja eigentlich ein Sextett mit Chor ist). Inszeniert wird dieser Showstopper auch als solcher - alle (auch diejenigen, die in diesem Akt nichts mehr zu suchen haben, also Olympia, Antonia usw.) versammeln sich zum Gruppenfoto nicht im nächtlichen Venedig, sondern an der Tankstelle im städtischen Niemandsland. Regisseur Elmar Goerden, die Bühnengestalter Silvia Merlo und Ulf Stengel und die Kostümbildnerin Lydia Kirchleitner begleiten ihren Hoffmann nämlich in einem nächtlichen Trip durch triste Stadtlandschaften (ja, Drogen sind durchaus auch im Spiel, die sind im Rauschhaften von Offenbachs Partitur hörbar). Der betrunkene Dichter wird aus einem Theater (oder Club) geworfen, in Strümpfen und derangiertem Anzug stolpert er auf die Bühne,die Lackschuhe fallen wenig später von oben dazu. Seine Muse sitzt in schwarzen Dessous in einer Vitrine (wie wir sie z.B. auf dem Kurfürstendamm antreffen). Hoffmann wühlt in einem Müllcontainer, die gefundenen Gegenstände inspirieren ihn zu seinen fantastischen Erzählungen - was ist Wirklichkeit, was Fiktion des Betrunkenen? Wenn's gar zu fantastisch werden soll, streut die Muse etwas Goldstaub oder Feenstaub, bewirkt so das Irreale und greift auch gerne mal selbst vehement in die Handlung ein. Goerden bleibt jedoch mit seiner exakten Personenführung und Charakterzeichnung stets ganz nah beim Text. Die Versatzstücke des Regietheaters werden mehr oder weniger dezent eingesetzt (Mikrofone für Antonia, Rollstuhl für Spalanzani, Rollator für Schlemihl, der Running Gag des Müllcontainers). Alles Romantisch-Verklärende bleibt aussen vor - und doch entsteht im schönsten Akt, dem Antonia-Akt, in der Tristesse der kargen Imbissbude unter der Autobahnbrücke eine berührend poetische Stimmung. Ein weiteres Merkmal von Goerdens Inszenierung sind die Verdoppelungen der Personen: Hoffmann/Bösewichte, Cochenille/Spalanzani, Franz/Crespel, Pitichinaccio/Schlemihl ... . Das Mephistophelische, das Fantastische, das Komische, das Tragische, das Lasterhafte sind alle eins, Ausformungen unsrer Psyche, unseres Sehnens und Wähnens.
Zur Umsetzung seiner Intentionen steht dem Regisseur ein Ensemble mit ausgesprochen viel darstellerischem Talent zur Verfügung. Rolf Romei ist ein Hoffmann wie aus dem Bilderbuch: Gross gewachsen, attraktiv, wirr und widerspenstig, romantisch und verwegen. Seinen durchschlagkräftigen, in allen Lagen ebenmässig timbrierten Tenor setzt er wirkungsvoll in Szene. Mit kernigem Bassbariton und nicht allzu schwarz, dafür mit viel Schalk, gibt Simon Bailey das Alter Ego Hoffmanns, die diabolischen Figuren Lindorf, Coppelius, Mirakel und Dappertutto. Seine Diamantenarie trägt er relativ nüchtern, gänzlich unromantisch vor. Kein Wunder, wenn man erst Perlen vor die S.... spucken muss, will heissen die einleitenden Phrasen mit vollem Mund zu singen gezwungen ist. Ein stimmakrobatisches Koloratur-Ereignis ist Agata Wilewska als Olympia auf ihrem pinkfarbenen Karussellpferdchen in der Kunstgalerie. Sunyoung Seo bezirzt als üppig aufblühende Giulietta an der kargen Tankstelle. Zu diesem Akt ist dem Regieteam ausser den uniformen Blumenkleidern der Damen nicht viel eingefallen, sie verlassen sich ganz auf den erotischen Rausch der Musik. Da passt auch die etwas herb eingedunkelte und fantastisch höhensichere Stimme von Solenn'Lavanant Linke in der Rolle der enorm aufgewerteten Muse bestens dazu, die eifersüchtig über ihren Dichter wacht. Um diese Eifersucht zu unterstreichen, trägt sie im Antonia-Akt auch noch ein knallgelbes Kleid. Frau Lavanant Linke legt die Rolle nicht als androgynes Wesen an, sondern ist von Beginn weg die dominierende, alles lenkende Frau an Hoffmanns Seite, welche seine amourösen Eskapaden ins Lächerliche abgleiten lässt und so ihren Geliebten seiner eigentlichen Bestimmung zuführt. Als Antonia begeistert Maya Boog mit energischem, leicht metallisch timbriertem Sopran, welcher wunderbar zu ihrem Outfit als Rockergöre mit entsprechenden Karriereambitionen passt. In glutvollen, emphatischen Aufschwüngen verleiht sie ihren Sehnsüchten Ausdruck. Karl-Heinz Brandt scheinen die Rollen der Diener wieder einmal wie auf den Leib geschrieben. Das sind wahre stimmliche und darstellerische Kabinettstückchen, die er da als Franz oder Cochenille abliefert. Rita Ahonen hat einen glamourösen Auftritt als Marilyn/Marlene/Lana Verschnitt als Antonias Mutter. Der Chor des Theater Basel singt mit subtil differenzierter Klanggebung mal aus dem Graben, mal als maoistisch uniforme, ziemlich amorphe Masse auf der Bühne. Enrico Delamboye entlockt dem Sinfonieorchester Basel stimmungsvolle Orchesterfarben und sorgt für prägnante (und auch humorvolle) rhythmische Akzente.
Das Ende naht dann in Windeseile: Nach dem Trip sind alle schnell gealtert. Die ganze Gesellschaft hockt wie Ausflügler eines Altersheims zur kitschigen Apotheose vor den hässlichen Wohnsilos der Stadt. Nur der Muse im flammend roten Kleid und Hoffmann/Lindorf scheint die ewige Jugend (dank der Kunst?) erhalten geblieben zu sein.
Inhalt:
Während einer Aufführung von Mozarts Don Giovanni flüchtet der Dichter Hoffmann in Luthers Weinkeller, um seinen Frust über die Launen seiner Geliebten, der Sängerin Stella, im Alkohol zu ertränken. Ebenfalls anwesend ist der Stadtrat Lindorf (in den Mittelakten Coppélius, Miracle, Dapertutto), die Inkarnation des Bösen, welcher sich seinerseits Hoffnungen auf Stella macht. Hoffmanns Gedanken schweifen ab, er verliert sich in scheinbaren Erinnerungen an drei seiner Geliebten. Von diesen berichten die drei Mittelakte: Die Puppe Olympia, in welche sich Hoffmann verliebt hatte, wird vor seinen Augen zertrümmert, die schwindsüchtige Sängerin Antonia wird vom Bösewicht dazu angestachelt, sich in den Tod zu singen und die Kurtisane Giulietta raubt ihm sein Spiegelbild, verspottet ihn und macht ihn zum Mörder. Am Ende der Oper befinden wir uns immer noch im Weinkeller. Lindorf hat Hoffmanns alkoholbedingten Schwächeanfall gnadenlos ausgenutzt und zieht mit Stella von dannen. Die Muse (Nicklausse) hat den Dichter für sich gewonnen.
Werk:
Als Offenbach im Oktober 1880 starb, hinterliess er sein Meisterwerk LES CONTES D'HOFFMANN als Torso. Nur die Akte I-III waren einigermassen fertig geworden. Für die Uraufführung wurde Ernst Guirod (welcher auch Bizets CARMEN mit Rezitativen versehen hatte) beauftragt, eine spielbare Fassung herzustellen. In letzter Minute wurde für die Uraufführung sowie für die deutschsprachige Erstaufführung in Wien der Giulietta-Akt gekippt. Für spätere Aufführungen (z.B. in Monte Carlo 1904) wurden Musiknummern eingefügt, welche gar nicht von Offenbach für dieses Werk vorgesehen waren und aus Arrangements anderer Werke des Komponisten stammen (so der Hit aller Wunschkonzerte, die „Spiegelarie“, und das Septett im Giulietta-Akt). Neuere Quellenfunde in den letzten beiden Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts erlaubten weitere Rückschlüsse auf Offenbachs ursprüngliche Intentionen. In Basel wird die Kaye/Keck Fassung gespielt. Doch auch damit ist die beinahe kriminalistische Spurensuche nach dem endgültigen HOFFMANN wahrscheinlich immer noch nicht beendet. Einem Wunder käme es gleich, wenn Notizen oder Noten zum eigentlich geplanten Duett Stella-Hoffmann im fünften Akt auftauchten!
Das Libretto beruht auf einem Theaterstück von Barbier/Carré, welches seinerseits auf Erzählungen des Dichters E.T.A. Hoffmann beruht („Der Sandmann“, „Rat Crespel“ und „Die Geschichte vom verlorenen Spiegelbild“). Die Protagonisten dieser Erzählungen werden in der Oper zum Dichter selbst. Die drei Frauen in den Mittelakten (Olympia, Antonia, Giulietta) stellen Hoffmanns Geliebte, die Sängerin Stella in den Facetten ihrer fatal attraction dar. Deshalb macht es Sinn, all diese Damen von ein und derselben Sängerin darstellen zu lassen, falls man über eine entsprechend vielseitige Künstlerin verfügt.
Mit einfachen, aber genialen und von grosser melodischer Einfallskraft zeugenden Mitteln, gelang es Offenbach, ein Werk zu schaffen, welches (nach einer von den Nazis verordneten „Zwangspause“) zu den beliebtesten des Repertoires zählt und heute neben CARMEN sicher die meistgespielte französische Oper ist.
Musikalische Höhepunkte:
Il était une fois à la cour d'Eisenach, Chanson des Hoffmann, Akt I
Les oiseaux dans la charmille, Couplet der Olympia, Akt II
Ella a fui, la tourterelle, Romance der Antonia, Akt III
Chère enfant, que j'appelle, Trio Mère-Antonia-Miracle, Akt III
Belle nuit, ô nuit d'amour, Barcarole, Akt IV
Repands tes feux, Chanson des Dapertutto, Akt IV
O Dieu, de quelle ivresse, Romance des Hoffmann, Akt IV
Finale, Akt IV