Zürich: LES CONTES D'HOFFMANN, 11.04.2021
Opéra fantastique in fünf Akten | Musik: Jacques Offenbach | Libretto: Jules Barbier | Uraufführung: 10. Februar 1881, Salle Favart, Paris | Aufführungen in Zürich: 11.04.2021 (Streaming-Premiere) | je nach Pandemie-Lage auch live: 4.5. | 8.5. | 13.5. | 16.5.2021
Kritik:
Die Muse bringt es am Ende der Oper LES CONTES D'HOFFMANN auf den Punkt: „On est grand par l'amour et plus grand par les pleurs!“ Aus solchen Gefühlslagen entstanden und entstehen Meisterwerke – und an einem der bekanntesten Künstlerdramen liess uns das Opernhaus Zürich gestern Abend teilhaben, liess uns weinen, lachen, berührte und begeisterte mit einem Live-Stream der Premiere von Offenbachs grandioser Oper. Unterdessen sind die Umstände dieser Live-Streams in Corona Zeiten hinlänglich bekannt. Das Opernhaus Zürich verfügt über ein einmaliges und technisch höchst ausgereiftes Schutzkonzept für alle Mitwirkenden, indem es per Glasfaserkabel das Ocrchester und den Chor aus dem Probesaal vom Kreuzplatz her ins Haus am Sechseläutenplatz überträgt, auf und hinter der Bühne die Mitarbeiter regelmässig testet, geschlossene Gruppen bildet (z.B. die herausragenden zwanzig Statisten, welche auf der Bühne – mit Masken – die Studenten darstellen). Ein Konzept, das meiner Meinung nach (aber mich fragt ja keiner) durchaus auch Publikum im Saal zulassen würde, was leider aber behördlich untersagt ist. Wie dem auch sei, dem Fluch, der seit dem verheerenden Theaterbrand in Wien über dem Werk liegt, trotzte das Opernhaus Zürich diesmal erfolgreich und hielt ein beeindruckendes Plädoyer für die Kunst.
Der Intendant des Opernhauses Zürich, Andreas Homoki, hat in der fantastischen Ausstattung von Wolfgang Gussmann (Bühne und Kostüme, an denen auch Susana Mendoza mitarbeitete) eine wunderbar genaue Inszenierung geschaffen, in welcher sowohl das Skurrile, die Schauerromantik, die Groteske als auch die Emotionalität, die ungestüme Triebhaftigkeit und das Berührende ihren Platz fanden, den Zuschauer von Beginn weg in ihren Bann zog. Eine Inszenierung, die geprägt ist von Stimmigkeit, Respekt gegenüber dem Werk und ideal den inneren Gehalt zwischen Autoren und Publikum vermittelt. Am Bildschirm wurde dies alles noch betont durch die hervorragende TV-Regie des bekannten Film-, TV- und Theaterregisseurs Andreas Morell, welcher das Auge des Zuschauers ganz gezielt auf wichtige Details zu führen wusste.
Musikalisch war der Abend ebenfalls geprägt von einer in sich überaus stimmigen Besetzung: Die mörderische Titelpartie wurde von Saimir Pirgu (Rollendebut!) mit Eleganz, Leidenschaft, seelischer und physischer Gebrochenheit und tenoraler Strahlkraft vom Feinsten verkörpert, er verlieh dem Hoffmann eine bewegende Glaubwürdigkeit und hielt die Partie von der Erzählung des Klein-Zach im ersten bis zum Zusammenbruch und der darauffolgenden Apoteose im fünften Akt mit nie nachlassender Spannkraft durch. Obwohl die vier Frauengestalen - die vier grossen Liebschaften des Hoffmann - verschiedene Facetten seiner letzten Liebe, Stella, darstellen, sind sie von Offenbach für ganz unterschiedliche Stimmtypen geschrieben worden und es ist ganz selten geschehen, dass sie von einer einzigen Sängerin gesungen werden – oft mit Kompromissen an den geforderten stimmlichen Klang. Auch in Zürich hat man sich für eine Aufteilung auf vier Sängerinnen entschieden. Gut so, denn mit der mit bestechenden Koroaturen und Fiorituren aufwartenden Katrina Galka hat man eine stupende Interpretin der Puppe Olympia gefunden. Welch famoses, augenzwinkerndes Spiel, welch messerscharfe Spitzentöne! Ganz anders geartet der lyrische Sopran von Ekaterina Bakanova als Antonia: anrührend, mit weicher, wunderschöner Intonation, sich im Gänsehaut-Terzett (mit Judith Schmid als eindrückliche Stimme der toten Mutter) mit fiebriger Ekstase in den Tod singend. An diesem Tod war der Bösewicht der Oper schuld, der in den Rahmenakten Lindorf heisst und in den Mittelakten Coppélius, le docteur Miracle und le capitaine Dapertutto. Andrew Foster-Williams bringt dabei das mephistophelische der Figur mit schauerlicher Boshaftigkeit und hinterhältigem Charme ganz herrlich zum Ausdruck. Lauren Fagan spielt und singt eine treffliche Kurtisane Giulietta, eine Rolle, die oft mit Mezzospranistinnen mit erotischem Timbre besetzt wird, hier nun von einem eher leichten Sopran gesungen wird. Iain Milne (Spalanzani), Wieland Satter (sich um seine Tochter Antonia sorgender Crespel) und Thomas Erlank als Schlémil ergänzen das hochkarätige Ensemble untadelig. Spencer Lang liefert einmal mehr den Beweis seiner darstellerischen und stimmlichen Vielseitigkeit mit der Verkörperung der vier Diener Andrès, Chochenille, Frantz und Pitichinaccio.
AmPult der Philharmonia Zürich waltete Antonino Fogliani, der fein ziselierte Effekte aus Offenbachs Partitur kitzelte, wunderbare, kammermusikalische Transparenz erklingen liess und den Sängerinnen und Sängern sowie dem Chor (Einstudierung: Janko Kastelic) ein solides Fundament baute.
Nachdem sich die emanzipierte Stella (wunderbar divenmässig: Erica Petrocelli) den geifernden Lindorf zeimlich handfest vom Hals geschafft hatte, stimmte die grossartige Mezzosopranistin Alexandra Kadurina, welche als Muse/Nicklausse den ganzen Abend hindurch mit ihrer satten, kangschönen Stimme begeistert hatte, zur Apoteose an: „Des cendres de ton cœur réchauffe ton génie. Dans la sérénité souris à tes douleurs, La Muse apaisera ta souffrance bénie!“
Möge es uns allen beschert sein, aus der – auch kulturellen - Dunkelheit der Pandemie wieder von der Muse direkt geküsst zu werden und nicht bloss am Bildschirm!
Inhalt:
Während einer Aufführung von Mozarts Don Giovanni flüchtet der Dichter Hoffmann in Luthers Weinkeller, um seinen Frust über die Launen seiner Geliebten, der Sängerin Stella, im Alkohol zu ertränken. Ebenfalls anwesend ist der Stadtrat Lindorf (in den Mittelakten Coppélius, Miracle, Dapertutto), die Inkarnation des Bösen, welcher sich seinerseits Hoffnungen auf Stella macht. Hoffmanns Gedanken schweifen ab, er verliert sich in scheinbaren Erinnerungen an drei seiner Geliebten. Von diesen berichten die drei Mittelakte: Die Puppe Olympia, in welche sich Hoffmann verliebt hatte, wird vor seinen Augen zertrümmert, die schwindsüchtige Sängerin Antonia wird vom Bösewicht dazu angestachelt, sich in den Tod zu singen und die Kurtisane Giulietta raubt ihm sein Spiegelbild, verspottet ihn und macht ihn zum Mörder. Am Ende der Oper befinden wir uns immer noch im Weinkeller. Lindorf hat Hoffmanns alkoholbedingten Schwächeanfall gnadenlos ausgenutzt und zieht mit Stella von dannen. Die Muse (Nicklausse) hat den Dichter für sich gewonnen.
Werk:
Als Offenbach im Oktober 1880 starb, hinterliess er sein Meisterwerk LES CONTES D'HOFFMANN als Torso. Nur die Akte I-III waren einigermassen fertig geworden. Für die Uraufführung wurde Ernst Guirod (welcher auch Bizets CARMEN mit Rezitativen versehen hatte) beauftragt, eine spielbare Fassung herzustellen. In letzter Minute wurde für die Uraufführung sowie für die deutschsprachige Erstaufführung in Wien der Gilulietta-Akt gekippt. Für spätere Aufführungen (z.B. in Monte Carlo 1904) wurden Musiknummern eingefügt, welche gar nicht von Offenbach für dieses Werk vorgesehen waren und aus Arrangements anderer Werke des Komponisten stammen (so der Hit aller Wunschkonzerte, die „Spiegelarie“, und das Septett im Giulietta-Akt). Neuere Quellenfunde in den letzten beiden Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts erlaubten weitere Rückschlüsse auf Offenbachs ursprüngliche Intentionen. In Zürich wird (wie anlässlich der letzten Premiere des HOFFMANN 2010) die so genannte Kaye/Keck-Fassung von 2005 gespielt. Doch auch damit ist die beinahe kriminalistische Spurensuche nach dem endgültigen HOFFMANN wahrscheinlich immer noch nicht beendet. Einem Wunder käme es gleich, wenn Notizen oder Noten zum eigentlich geplanten Duett Stella-Hoffmann im fünften Akt auftauchten!
Das Libretto beruht auf einem Theaterstück von Barbier/Carré, welches seinerseits auf Erzählungen des Dichters E.T.A. Hoffmann beruht („Der Sandmann“, „Rat Crespel“ und „Die Geschichte vom verlorenen Spiegelbild“). Die Protagonisten dieser Erzählungen werden in der Oper zum Dichter selbst. Die drei Frauen in den Mittelakten (Olympia, Antonia, Giulietta) stellen Hoffmanns Geliebte, die Sängerin Stella in den Facetten ihrer fatal attraction dar. Deshalb macht es Sinn, all diese Damen von ein und derselben Sängerin darstellen zu lassen, falls man über eine entsprechend vielseitige Künstlerin verfügt.
Mit einfachen, aber genialen und von grosser melodischer Einfallskraft zeugenden Mitteln gelang es Offenbach, ein Werk zu schaffen, welches (nach einer von den Nazis verordneten „Zwangspause“) zu den beliebtesten des Repertoires zählt und heute neben CARMEN sicher die meistgespielte französische Oper ist.
Musikalische Höhepunkte:
Il était une fois à la cour d'Eisenach,Chanson des Hoffmann, Akt I
Les oiseaux dans la charmille, Couplet der Olympia, Akt II
Ella a fui, la tourterelle, Romance der Antonia, Akt III
Chère enfant, que j'appelle, Trio Mère-Antonia-Miracle, Akt III
Belle nuit, ô nuit d'amour, Barcarole, Akt IV
Repands tes feux, Chanson des Dapertutto, Akt IV
O Dieu, de quelle ivresse, Romance des Hoffmann, Akt IV
Finale, Akt IV
Link zum Stream der Premiere (bis zum 30. April 2021 verfügbar)