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Winterthur, Stadthaus: WAGNER, CZERNOWIN, MOZART; 30.05.2024

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Musikkollegium Winterthur

Applausbilder: K.Sannemann, 30.05.2024

Schweizer Erstaufführung von Chaya Czernowins Auftragskomposition "Moths of Hunger and Awe" für Violine und Streichorchester, mit dem Violinisten Ilya Gringolts. Matthias Pintscher leitet das Musikkollegium Winterthur

Werke:

RICHARD WAGNER:

"Siegfried-Idyll" E-Dur, WWV 103 | Uraufführung: 25. Dezember 1870 in Tribschen bei Luzern (Privataufführung für Cosima Wagner)

CHAYA CZERNOWIN:

"Moths of Hunger and Awe" für Violine und Streichorchester (2023) Auftragskomposition, als Schweizer Erstaufführung | Uraufführung: 18. April im Prinzregententheater München

WOLFGANG AMADEUS MOZART:

Serenade Nr. 10 B-Dur, KV 361 "Gran Partita" | Uraufführung: 23. März 1784 in Wien

Dieses Konzert in Winterthur: 29., 30. und 31.5.2024 (an diesem Tag als Freikonzert, mit Beethovens 1. Sinfonie anstelle des Werks von Chaya Czernowin und ohne Mozarts Gran Partita)

Kritik:

UNENDLICHE SCHÖNHEIT

Ach, welche Musikliebhaber*innen möchten nicht am Geburtstagsmorgen mit solch betörender Musik aus der Feder ihrer Liebsten geweckt werden? Richard Wagner hat das für seine zweite Frau Cosima ausgeheckt - und damit Liebe ausgedrückt, die nicht durch den Magen sondern durchs Gehör geht und direkt Herz und Gemüt anspricht. Und wenn diese Komposition dann noch mit einer dermassen exeptionellen Klangschönheit, Lieblichkeit und Zartheit dargeboten wird wie gestern Abend vom Musikkollegium Winterthur unter der sorgsamen Leitung von Matthias Pintscher ist das Glück vollkommen. Nur schon der Beginn ist einmalig: Die ersten Violinen übernehmen den Lead, stimmen mit Behutsamkeit in das Erwecken des Liebesgefühls ein - das Thema aus Wagners Oper SIEGFRIED wunderbar wiegend interpretierend. Im weiteren Verlauf werden Wagners Themen und Leitmotive wundersam miteinander verwoben, es entsteht kein Karfreitagszauber, aber ein Siegfried-Zauber von fein ausgehorchter Transparenz, die wenigen Steigerungen werden mit bewegender Emphase angegangen, Pintscher und das hervorragend spielende Musikkollegium Winterthur legen eine herrliche und ergreifende Kantabilität an den Tag, das ist dermassen schön, dass wohl auch Nicht-Wagnerianer sich vor der kompositorischen Leistung des menschlich nicht unumstrittenen Komponisten verneigen müssen. Pastorale Idyllen, superbe Läufe der Klarinette, blitzsaubere Hornrufe, präzise Triller der Violinen und dynamisch fein integrierte Massierungen und Kulminationen sorgen für ein wundersames Klangerlebnis; Wagners unendliche (und unendlich schöne) Melodien werden mit der perfekten Dosis an schwelgerischer Emphase gewürzt. Zum drin Versinken schön und lieblich!

IM INSEKTENSTAAT

Weniger gern würde man wohl am Geburtstagsmorgen von Chaya Czernowins MOTHS OF HUNGER AND AWE geweckt. In diesem 40 Minuten dauernden Werk für Solovioline und Streichorchester (Auftragskomposition des Münchner Kammerorchesters, des Musikkollegiums Winterthur und der Hong Kong Sinfonietta) gibt es rein gar nichts, das das Ohr oder das Herz erfreut. Die Musik wuselt mit Geräuschen herum, Klängen, von denen man gar nicht wusste, dass Streichinstrumente sie erzeugen können. Manchmal hat man das Gefühl, es werden einfach alle Saiten auf dem Griffbrett gedrückt, dann sul ponticello gestrichen, was hohle fahle und irgendwie leere Töne erzeugt, auch Unheimlichkeit verbreitet. Im Zusammenspiel mit der Solovioline entstehen Impressionen wie in einem der beliebten Insekten-Horrorfilme aus den 70er Jahren (z.B. Empire of the Ants mit Joan Collins). Das klingt bedrohlich, man vermeint verebbende Sirenen zu hören, wird von Peitschenhieben, welche die Musiker am Kontrabass erzeugen, aufgeschreckt. Die Solovioline von Ilya Gringolts versucht sich mit Läufen und verqueren Passagen und geradezu irrer Virtuosität durchzusetzen; alles klingt sehr schmerzhaft, von Pein geplagt. Erstaunlich ist, dass man sich innerhalb von wenigen Momenten des Eingewöhnens auf die Klänge einlässt, mit Interesse den weiteren Verlauf verfolgt - und dann doch feststellen muss, dass die Gleichförmigkeit und der repetitive Chrakter mit der Zeit nerven. Das Stück ist meines Erachtens eindeutig zu lange geraten, die vielen Teile sind zu wenig voneinander abgehoben, dem Ohr werden kaum Anhalts- oder Anknüpfungspunkte, weder melodiöser noch rhythmischer Art, geboten, das Interesse am Stück schwindet zusehends. Es knarzt, wimmelt und wuselt gewaltig, es krächzt und knirscht und quietscht wie in einem alten, verfallenen Haus, wo die Türscharniere seit Jahrhunderten nicht mehr geölt wurden. Aber es ist wie so oft bei zeitgenössischer E-Musik: Vielleicht müsste man sich das Stück mehrmals anhören können, die Partitur vor sich haben, um einen Zugang dazu zu finden. Immerhin: Im Saal blieb es während der Aufführung dieses verstörenden Violinkonzerts mucksmäuschenstill, man lauschte doch mit einer gewissen Faszination diesen ostinatohaften Klangwolken, der vergeblichen Auflehnung der Solovioline, den unheimlichen, bedrückenden und fremden Klängen und Geräuschen, gelangte streckenweise gar irgendwie in einen Sog und hörte genau hin. Was bleibt, ist die Bewunderung für den Solisten Ilya Gringolts, der die komplexe Partitur auswendig und mit verblüffender Selbstverständlichkeit spielte. Das Publikum im nicht voll besetzten Saal applaudierte freundlich, auch für die anwesende Komponistin, vor allem aber für Ilya Gringolts.

BALSAM

Das klug konzipierte Programm des Abends bot nach der Pause dann den bitter notwendigen Balsam für Ohr und Seele: Für Mozarts Bläserserenade, genannt GRAN PARTITA, kamen die während des Werks von Chaya Czernowin pausierenden 13 Bläser mit ihren Instrumenten auf die Bühne, zwei Oboen, zwei Klarinetten, zwei Bassetthörner, zwei Fagotte, das Kontrafagott und vier Hörner. Die musikantisch formende Hand des Dirigenten und die herausragenden spieltechnischen Fähigkeiten der Musiker*innen führten zu einer äusserst lebendigen Wiedergabe, gewürzt mit einer Prise spielerischen Witzes. Das war ein perfektes Miteinander, ein aufeinander Hören, ein uneitles Wechselspiel zwischen den verschiedenen Blasinstrumenten. Betörend z.B. im berühmten Adagio-Satz zwischen Oboe und Klarinette, grundiert vom pulsierenden Rhythmus, der von den Fagotten und den Hörnern vorgegeben wurde. Belebend ausmusiziert, nie allzu forsch und doch mit der richtigen Dosis an freudiger, spritziger Aufmüpfigkeit. Für den begeisterten Applaus bedankten sich die 13 Musiker*innen und Matthias Pintscher mit einem Bis des jubelnden Finales des letzten Satzes.

Nachtrag: Konzert vom 31.5. im Format #TGIF (Thank God it's Friday), Gratiskonzert

Nach einem launigen Gespräch zwischen dem Direktor des Musikkollegiums Winterthur, Dominik Deuber, dem Gastdirigenten dieser Woche, Matthias Pintscher und dem Assistenzdirigenten, Paul-Boris Kertsman, erfuhr man unter anderem, dass im Archiv des Musikkollegiums eine echte Haarlocke Richard Wagners schlummert! Matthias Pintscher und das Musikkollegium Winterthur entfalteten danach mit der Wiedergabe von Wagners SIEGFRIED -IDYLL erneut den betörenden Zauberklang dieser Musik. (Besprechung siehe weiter oben). Anschliessend erklang die erste Sinfonie aus der Feder Beethovens, sein Opus 21 in C-Dur. Wie Matthias Pintscher im Vorgespräch erläutert hatte, wird diese Sinfonie zu Unrecht unterschätzt. Wenn man an Beethovens Sinfonien denkt, kommen einem die ungeraden Nummern 3, 5, 7 und 9 in den Sinn. Doch das Meiste von Beethovens charakteristischer Tonsprache ist in diesem Erstling bereits angelegt und wurde vom blendend aufspielenden Orchester unter Pintschers Leitung mit vorwärtsschreitender Frische und herrlichem Elan dargeboten. Ich war von Beginn weg geflasht: Das war dermassen spritzig, die Jubelpassagen mit Emphase herausgehoben, dynamisch sehr subtil abgestuft und mit einem Sturm und Drang, der nie schwer aber trotzdem gewichtig wirkte. Erneut zeigte sich das spontane Vertrauen des Dirigenten in die Musiker*innen des Musikkollegiums: Er liess sie oftmals praktisch ohne Zeichengebung musizieren, zeigte an entscheidenden Stellen dann aber wieder seine energiegeladene, klar gestaltende Zeichengebung. Vehemenz und Feuer prägten diesen ersten Satz. Mit wunderbarer Präzision wurde das Andante mit seinem fugierten Beginn von den exzellenten Streichergruppen gestaltet, auch hier das “con moto” wörtlich nehmend, eine Klarheit der Artikulation, die in keinem Moment kalt oder kristallin wirkte, sondern alles wurde organisch aus den Kernthemen aufgebaut und entwickelt. Den dritten Satz hatte Beethoven mit “Menuetto” überschrieben, in seinem Vivace-Charakter wirkt es aber wie ein sprühend-witziges Scherzo, mit wunderbar herausgehobenen Sforzati und synkopierten Melodien. Fantastisch einmal mehr die Holz- und Blechbläser des Musikkollegiums, die besonders im Trio zu glänzen vermochten (wie am Tag zuvor in Mozarts GRAN PARTITA). Der vierte Satz ruft mit einem Fortissimoschlag des Orchesters die Violinen zur Intonation des Hauptthemas auf, die Violinen folgen diesem Ruf zögernd und erklimmen das tänzerische Thema wie suchend. Dann aber legen alle mit einer lebensbejahenden Freude los, dass einem fast schwindelig wird. Es ist aber kein Rondo, wie man in der Tradition von Haydn und Mozart vermuten könnte, sodern Beethoven hatte auch diesen Satz in der Sonatenform gehalten. Die Blechbläser des Musikkollegiums glänzten in der Coda mit den triumphalen Signalrufen, welche Beethoven auch in späteren Werken immer wieder gerne verwendet hatte. Dankbarer und verdienter Applaus für ein hochklassiges Konzert - das, obwohl es gratis angeboten war, den Saal nicht ganz zu füllen vermochte. Angesichts des regnerischen Wetters eigentlich erstaunlich (und schade)!

Werke:

Richard Wagner (1813-1883) lebte von 1866-1871 in der Tribschener Villa bei Luzern, es war für ihn eine glückliche Zeit. 1870 war die Scheidung Cosimas von Hans von Bülow endlich rechtskräftig geworden und Richard Wagner konnte Cosima im Sommer 1870 heiraten, die Zeit der "wilden" Ehe war vorüber. Der gemeinsame Sohn Siegfried war nun ein Jahr alt. Zu Cosimas 33. Geburtstag am 25. Dezember 1870 komponierte Wagner heimlich das „Tribschener Idyll mit Fidi-Vogelgesang und Orange-Sonnenaufgang, als Symphonischer Geburtstagsgruss. Seiner Cosima dargebracht von Ihrem Richard“. Er liess das Stück von 15 Mitgliedern des Zürcher Tonhalle-Orchesters auf der Treppe und in den Gängen der Villa als morgendlichen Geburtstagsgruss für Cosima aufführen. Cosima war zu Tränen gerührt. Es ist aber auch ein wunderschönes, idyllisches Musikstück geworden und stellt die einzige sinfonische Dichtung aus der Feder Wagners dar. Wagner entnahm dazu einige Motive aus seinem kürzlich vollendeten SIEGFRIED, dem dritten Teil seines RING DES NIBELUNGEN. Das intime Werk war eigentlich nicht für eine Veröffentlichung gedacht, vor allem Cosima sträubte sich dagegen. Doch Wagner war 1878 mal wieder in Geldnöten und liess es drucken, den langen Titel änderte er jedoch in Siegfried-Idyll.

Chaya Czernowin (geboren 1957) ist eine israelische Komponistin. Sie unterrichtete unter anderem bei den Darmstädter Ferienkursen und war Professorin für Komposition an der University of California in San Diego. Ihre Werke wurden erfolgreich an vielen Festivals aufgeführt. Chaya Czernowin arbeitet gerne mit extremen Klangkontrasten. Sie selbst sagt: „Lebendig, intuitiv, wild und so undefiniert wie das reine Erleben – kann Musik das sein? Ich habe solche Musik gehört – selten zwar, aber sie hat mein Leben verändert. Darauf hinzuarbeiten, ist ein schwieriger Balanceakt: Man muss so sensiblen Sinnes sein, als hätte man keine Haut, während man die analytische Klarheit, Präzision und Konzentration eines Chirurgen mit dem Skalpell walten lässt.“  MOTHS OF HUNGER AND AWE ist eine Komposition, welche gemeinsam vom Münchner Kammerorchester, dem Musikkollegium Winterthur und der Hong Kong Sinfonietta in Auftrag gegeben worden war. Die Uraufführung erfolgte in München. Nun ist Winterthur an der Reihe und Hong Kong folgt 2025. Das Werk sprengt die Form des traditionellen Violinkonzerts, arbeitet stark mit den unterschiedlichen Bedürfnissen und Gegebenheiten von Solist gegenüber dem Orchester. Czernowin sagt: "Das Stück stellt einen Prozess dar, bei dem diese sehr unterschiedlichen Kräfte (gemeint sind Solist und Orchester, Anm. K.S.) einen parallelen Weg finden, indem sie jeweils auf eigene Weise versuchen, ihre anfänglichen Begrenzungen zu überwinden".Ddie Komposition enthält unter anderen Sätzen vier Hiernoymus-Bosch-Windows, welche die “Wimmel”-Bilder des Malers musikalisch aufgreifen. 

Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) komponierte die Serenade Nr. 10 in B-Dur für zwölf Bläser und Kontrabass zu Beginn der 1780er Jahre. Der Titel “Gran Partita” stammt nicht vom Komponisten, findet sich aber mittig über dem ersten Notensystem. Von den sieben Sätzen wurden bei der Uraufführung vermutlich nur deren vier gespielt. Der dritte Satz, das wunderbare Adagio, hat auch Eingang in die Populärkultur gefunden, so etwa in Peter Shaffers Theaterstück AMADEUS, oder in eine Episode von HOW I MET YOUR MOTHER.

 

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