Winterthur, Stadthaus: BENJAMIN/PURCELL, MOZART, HAYDN, 01.09.2023
Musikkollegium Winterthur, Leitung: Roberto Gonzáles-Monjas, Klavier: Jean-Sélim Abdelmoula
George Benjamin, Henry Purcell: "Three Consorts" Transkribiert für Kammerorchester | Uraufführung: 30. August 2021 bei den BBC Proms in London, mit dem Mahler Chamber Orchestra unter der Leitung des Komponisten | Wolfgang Amadeus Mozart: Konzert für Klavier und Orchester Nr. 20 d-Moll, KV 466 | Uraufführung: 11. Februar 1785, mit Mozart am Klavier | Joseph Haydn: Sinfonie Nr. 49 f-Moll, Hob I:49 "La passione" | komponiert 1768, während Haydns Anstellung als Kapellmeister beim Fürsten Esterházy
Kritik:
WERDEN - SEIN -VERGEHEN
Diese drei Begriffe stellen die thematischen Schwerpunkte der drei Saisons 22/23, 23/24 und 24/25 des Musikkollegiums Winterthur dar, ein Tryptichon also, inspiriert von Mozarts letzten drei Sinfonien, den Nummern 39, 40 und 41.
Anlässlich des OPEN HOUSE Tages des Musikkollegiums stellte Chefdirigent Roberto González-Monjas am abendlichen Konzert das Programm als "Gruss aus der Küche" vor, ein kulinarisches Häppchen, das Lust auf mehr machen soll. Allerdings war das Programm, das nun gespielt wurde, weit mehr als ein "Häppchen", das war schon nahrhafte Kost, mit richtig viel Fleisch am Knochen - und machte definitiv Lust auf mehr.
In dieser Saison steht nun also das SEIN im Zentrum - SEIN bedeutet immer auch LEIDEN. Bereits das erste Stück, George Benjamins THREE CONSORTS, diese Transkripiton für Kammerorchester von Henry Purcells Fantasien (wahrscheinlich für Gamben geschrieben), liess die Zuhörer*innen eintauchen in eine archaische, mystische Welt der Polyphonie, mit einem Knäuel aus gedämpftem Blech im ersten Consort, trauerumflorten Streicherfiguren im zweiten und einem von der Röhrenglocke ausgehenden Mäandern um den Ton C im dritten Consort. Das wunderbare Spiel des Musikkollegiums Winterthur unter der Leitung von Roberto González-Monjas evozierte die ganz eigenen Stimmungen dieser von Purcell inspirierten Musik ausgesprochen wirkungsvoll und nachhallend. Und das Beste ist, dass man diese Komposition im Rahmen eines Abonnementskonzertes am 8. und 9. November nochmals hören darf!
Stürmen und Drängen sind auch Aspekte des SEINS, ungestüme Jugend und Leidenschaft, gepaart mit emotionalen Achterbahnen. So in Mozarts Klavierkonzert in d-Moll, KV 466. Die lange Orchestereinleitung mit ihrem aufgeregten Puls des Herzens (ausgedrückt durch Synkopen) werden von González-Monjas und dem Musikkollegium Winterthur mit geradezu erschütternder Vehemenz gepielt. Da ist nichts von gefälliger Salonmusik zu hören, kein gemütliches Zurücklehnen im Sessel möglich, das ist packende Leidenschaft, dramatisch und wild. Manchmal scheint das Orchester geradezu zu explodieren in gewaltigen Akzenten und Sforzati. Erstaunlich dann das weiche, introvertierte Einsetzen des Klaviers. Der junge Schweizer Pianist Jean-Sélim Abdelmoula überraschte mit einer gefühlvollen Interpretation des Klavierparts, die Dialoge zwischen Klavier und der durch den Dirigenten aufgeputschten Leidenschaft des Orchesters waren dadurch überaus spannungsgeladen, liessen aufhorchen. Da entstanden quasi Robert Schummans Kunstfiguren "Florestan und Eusebius ("Florestan den Wilden, Eusebius den Milden, Tränen und Flammen, Nimm sie zusammen, In mir beide, Den Schmerz und die Freude.") González-Monjas und Abdelmoula führten exempolarisch vor, wie weit Mozarts d-Moll Konzert in die Zukunft weist, hinein in die Romantik. Dass Abdelmoulas Spiel durchaus zu Vehemenz fähig ist, zeigte er in der Kadenz des ersten Satzes, da hörte man neben aller Lieblichkeit auch eine gewisse Aufmüpfigkeit, selbstredend in stupender Virtuosität dargeboten mit blitzsauberen Läufen und Trillern. Das Spiel "Milde gegen Wildheit" setzte sich auch im zweiten Satz, einer Romance, fort: Lieblich, tänzerisch stellte Jean-Sélim Abdelmoula das Hauptthema vor, vehement und flammend griff das Orchester dieses auf. Wiederum begeisterte Abedelmoula mit seinem weichen, sanften Anschlag und den einnehmenden Piani. Tragisch-erregt und leidenschaftlich stiegen das Musikkollegium Winterthur und der Solist auch ins Finale ein, durchquerten sauber ausgeführte, flinke Passagen und stimmten nach einer kurzen Kadenz in die D-Dur Zuversicht verströmenden finalen Takte ein. Durch den begeisterten Applaus des Publikums liess sich der Solist zu einer Zugabe bewegen (der Beginn von Mozarts Klaviersonate Nr.11 ?, bin mir nicht ganz sicher, da leider ohne Ansage, dankbar für Informationen). Wiederum begeisterte Abdelmoula mit wunderbar zartem, einfühlsamem Spiel und gekonnten Schattierungen!
Den Abschluss des Konzerts bildete Joseph Haydns Sinfonie LA PASSIONE Nr. 49 in f-Moll. Genau wie Mozarts Klavierkonzert ist sie wegweisend, führt weit weg vom "gefälligen" Haydn, zeigt die Individualität, die Einzigartigkeit des menschlichen Wesens, geprägt vom Vorwärtsstürmen und Drängen. Roberto González-Monjas machte daraus eine Erzählung von mitreissender Dramatik, man klebte quasi auf der Vorderkante des Stuhls. Die aufwallenden Bögen des Adagios, die ausgereizten dynamischen Bandbreiten versprühten eine intensive Lebendigkeit. Das kurze Innehalten im Sturm des zweiten Satzes erschien wie ein elegisches Dräuen, bevor wieder mit unkonventioellen Intervallsprüngen der Sturm fortgesetzt wurde. Die Musik schien aus der Körperspannung des Dirigenten zu fliessen, eine Spannung, welche vom grossartig aufspielenden Orchester aufgenommen und in den Saal getragen wurde. Der dritte Satz ist zwar mit Menuett überschrieben, aber es ist bei weitem kein höfischer Tanz. Unter González-Monjas Leitung klang er wie die Heimkehr eines erschöpften Helden, dem auch das Cembalo-Continuo nicht mehr auf die Beine helfen konnte. Mit einem erregten, auwühlenden Presto-Finale endete dieses Konzert, welches die leidenschaftlichen und Leiden schaffenden Aspekte des SEINS eindringlich erleben liess.
Werke:
Der britische Komponist George Benjamin (geboren 1960) ist einer der angesagtesten Komponisten der Gegenwart. So feierte z.B. seine Oper LESSONS OF LOVE AND VIOLENCE letzte Spielzeit eine erfolgreiche Aufführungsserie im Opernhaus Zürich. Für THREE CONSORTS transkribierte George Benjamin Gamben-Fantasien seines Landsmanns Henry Purcell.
Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) komponierte nur wenige - dafür sehr effektvolle - Werke in Moll Tonarten. So stellen das 20. Klavierkonzert in d-Moll und das 24. Klavierkonzert in c-Moll die beiden einzigen Vertreter in Moll Tonarten von den insgesamt 27 Klavierkonzerten aus Mozarts Feder dar. Das Konzert KV 466 stammt aus der sogenannten Sturm-und-Drang-Zeit, einer Epoche, die in der Kunstgeschichte etwa von 1765 bis 1790 dauerte und sich gegen den Rationalismus der Aufklärung stellte. Mozart beschritt mit diesem Konzert endgültig den Weg zum sinfonischen Klavierkonzert. Zudem entspricht es nicht mehr dem aristokratischen Unterhaltungsideal, sondern Mozart zeigt darin den Künstler und Menschen als selbstbestimmendes Individuum. Er spricht mit dem d-Moll in der Tonart des libertären Don Giovanni. Spätere Komponisten wie Beethoven und Brahms haben das Konzert sehr geschätzt, oft gespielt und eigene Kadenzen verfasst.
Auch Joseph Haydn (1732-1809) schrieb seine Sinfonie Nr. 49 in der Zeit des Sturm und Drangs. Die Überschrift LA PASSIONE stammt allerdings nicht von Haydn selbst, damit wurde erst später seine Sinfonie übertitelt, vielleicht weil alle vier Sätze in f-Moll stehen, der Impetus durchwegs dramatisch bleibt und der Kopfsatz - ungewöhnlich für die damalige Zeit - ein Adagio ist.