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Zürich, Opernhaus: THE CELLIST, Ballett, 14.05.2023

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Cathy Marston

Copyright aller Bilder: Gregory Batardon, mit freundlicher Genehmigung Opernhaus Zürich

Ballett von Cathy Marston | Musik: Philip Feeney nach Edward Elgar, Ludwig van Beethoven, Gabriel Fauré, Felix Mendelssohn Bartholdy, Alfredo Piatti, Sergej Rachmaninow und Franz Schubert | Uraufführung: April 2020 in London (Royal Ballet) | Aufführungen in Zürich: 6.5.| 14.5. | 18.5. | 20.5. | 15.6.| 16.6.|20.6. | 22.6.2023

Kritik:

65 Minuten greifbare, atemlose Spannung: Kein Husten, kein Rascheln von Bonbonpapier, nicht mal das Klingeln eines Smartphones - das Publikum konzentriert, gebannt, am Ende ergriffen und die Begeisterung in stehenden Applaus mündend. Die zukünftige Ballettdirektorin des Balletts Zürich, Cathy Marston, präsentierte mit THE CELLIST eine zutiefst bewegende Tanzschöpfung und damit einen vielversprechenden Einstieg in ihre Direktion, welche im September starten wird.

Cathy Marston liess sich für THE CELLIST vom Leben der im Alter von nur 42 Jahren an Multipler Sklerose verstorbenen Ausnahmecellistin Jacqueline du Pré inspirieren, hat zusammen mit Edward Kemp ein Szenarium von chronologischen, prägnanten und konzis gearbeiteten Szenen erarbeitet. Dabei ging es glücklicherweise nicht um eine exakte Biografie, sondern im Zentrum stand der Weg einer talentierten Künstlerin, ja eines Wunderkindes, zu Weltruhm und auch zu persönlichem Glück, ein Weg der jäh brach, als die schnell und schmerzhaft voranschreitende Krankheit weitere Auftritte verunmöglichte. Cathy Marston hat weitgehend alles vermeintlich Skandalöse und Boulevardjournalistische ausgelassen, konzentriert sich ganz auf die Cellistin, ihr intimes Verhältnis zu ihrem Instrument, ihre Euphorie und Lebenslust (sie wurde ja auch liebevoll "Smiley" genannt) im Kreis der Musikerfreunde. Deshalb werden auch keine Personen namentlich auf der Besetzung aufgeführt, sie sind anonymisiert als Cellistin, Instrument, Dirigent, Schwester, Lehrer ... . Damit wird das persönliche Schicksal du Prés ins Allgemeingültige, Parabelhafte gehoben. Gut so! Selbst als dann die Krankheit ausbricht, der Körper, die Hände und die Beine nicht mehr dem Willen gehorchen, der Kontrollverlust jegliches Musizieren (quasi ihr Lebensinhalt, da sie sich nie gross für etwas anderes interessiert oder begeistert hat, als das Spielen ihres Cellos) verunmöglicht, ihre Schritte und Bewegungen jäh abbrechen, ist man nie peinlich berührt, sondern leidet mit. Das liegt neben der wunderbaren choreografischen Arbeit natürlich an der Protagonistin des Abends: Giulia Tonelli. Einmal mehr begeistert die Erste Solistin des Balletts Zürich mit einer Darstellungskraft, die unter die Haut geht und zutiefst bewegt. Als jugendlich, quirlige Cellistin, die jeden Wettbewerb gewinnt, mit fliessender Eleganz, Humor und Anmut Publikum und Musiker-Kollegen begeistert ist sie genauso überzeugend wie als Frischverliebte, welche zum jüdischen Glauben konvertiert, weil der Dirigent (Esteban Berlanga) dies für eine Heirat zur Voraussetzung gemacht hatte. Ihre geradezu erotische Beziehung zu ihrem Instrument, das von Wei Chen mit fantastischer Einfühlsamkeit "getanzt" wird, steht voll und ganz im Zentrum des Stücks. Diese Pas de deux mit Wei Chen sind von unfassbarer Subtilität, die fragile Beziehung prägt den Abend. Dabei hat Cathy Marston für die beiden ein umwerfendes Bewegungsvokabular entwickelt, das "menschlichste" aller Instrumente des Orchesters erwacht zu einem eigenen Leben (das ist dann auch der Beginn des Abends, wo Wei Chen quasi dem Cellokasten entsteigt zur ersten aus dem Graben klingenden Cellokantile). Ziemlich genau zur Mitte der Choreografie kommt es zum zentralen Pas de trois mit der Cellistin, dem Instrument und dem Dirigenten. Das ist grossartig gemacht und ausgeführt, das Instrument als eifersüchtiger Partner in dieser Ménage à trois. Esteban Berlanga ist ein differenziert tanzender Dirigent, verliebt (der erotische Akt der Hochzeitsnacht, die sexuelle Ekstase der beiden hervorragend umgesetzt von Berlanga und Tonelli) ungestüm, immer ambitioniert bleibend. Gegen Ende, wenn die Krankheit seiner Frau immer dramatischere Züge annimmt, auch unbeholfen wirkend und sich distanzierend. Das ist von Cathy Marston sehr einfühlsam gezeichnet, ohne den Mann blosszustellen. (Man muss sich vorstellen: Barenboim war beim Ausbruch der Krankheit seiner Frau 30 Jahre alt, stand am Beginn seiner einmaligen Karriere als Dirigent, ein junger Mann voller Tatendrang!) Und nun, in diesem zweiten Teil des Abends, wo die Symptome der Krankheit offensichtlich werden, reift Giulia Tonelli zur kongenialen Interpretin von Marstons Choreografie. Die Beziehung zum Cello wird zur Hassliebe, sie stösst es von sich, der Dirigent bringt die beiden wieder zusammen, ein letzter Comebackversuch wird unternommen, muss abgebrochen werden, es geht nicht mehr. Das lässt niemanden kalt. Wie Giulia Tonelli da zittert, Wut sich bemerkbar macht, auch Einsamkeit, das Cello von Wei Chen mit ihr trauert, das ist schon starke Kost. Mit unfassbarer Genauigkeit werden Muskelkrämpfe sichtbar, Stolpern, Zittern, falsche Töne, weil sie das Vibrato nicht mehr zu kontrollieren imstande ist. Die Szenen mit den Ärzt*innenen, Pfleger*innen, die Rückkehr zur Familie, das alles läuft im Zeitraffer ab. Ihre Schwester (Inna Bilash) bringt ihr das Strickjäckchen, das die Cellistin schon als kleines Mädchen getragen hatte (wunderbar erfrischend getanzt von Oceana Zimmermann), schliesslich verglüht ein tragisches Künstlerschicksaal im Ohrensessel, nur die Schallplatte dreht sich weiter, das künstlerische Vermächtnis, das sie zur unsterblichen Legende macht.

Auch wenn sich Marston natürlich auf die drei Hauptpersonen Cellistin, Instrument und Dirigent konzentriert, hat sie dennoch einige wenige Nebenpersonen nicht vernachlässigt: Die Schwester (sehr elegant und mit wunderbar ausholenden Bewegungen: Inna Bilash), die ambitionierte Mutter (Mélissa Ligurgo vermag wunderbar Strenge, Liebe und Fürsorglichkeit auszudrücken), der liebevolle Vater wird von Daniel Mulligan dargestellt, die Musiker-Freunde und die Cello-Lehrer (man muss weder Casals, noch Rostropowitsch, noch Zubin Mehta, Pinchas Zuckerberg, Itzhak Perlman erkennen, denn wichtig sind die Atmosphären, nicht die Personen!) werden prägnant von Kevin Pouzou, Matthew Knight, Lucas Valente, Mlindi Kulashe, Mark Geilings und Anthony Tette dargestellt.

Hildegard Bechtler hat ein wunderbar stimmiges und funktionales Bühnenbild geschaffen, mit drei elegant geschwungenen, leicht beweglichen Elementen auf dem Boden und einem entprechend geschwungenen Lampenbogen, der über der Bühne schwebt. Diese vier Elemente greifen geschickt Bauteile des Cellos auf. Ein Kritikpunkt ist die Beleuchtung (Jon Clark), welche die Bühne meist in ein eher diffuses, aber schön wames Licht taucht. Für meinen Geschmack (und mein Sehvermögen) dürfte es gerne ab und an eine Spur heller sein. Die an die 50er/60er Jahre angelehnten, weich fallenden Kostüme von Bregje van Balen sind sehr tänzerfreundlich und kommen den sanft fliessenden Bewegungen - inklusive Spitzentanz - wunderbar entgegen.

Genauso genial wie Choreografie und Ausführende ist die musikalische Seite der Produktion. Philip Feeney hat eine Partitur geschrieben, die in jedem Moment dichte atmosphärische Stimmungen evoziert. Er hat Elemente aus du Prés Repertoire von Edward Elgar, Ludwig van Beethoven, Gabriel Fauré, Felix Mendelssohn Bartholdy, Alfredo Piatti, Sergej Rachmaninow und Franz Schubert geschickt in seine Komposition einfliessen lassen. Lev Sikov spielt die verführerischen Kantilenen des Cellos aus dem Graben mit herrlich warmem Ton, einem Ton, dem man sofort verfällt. Kateryna Tereshchenko spielt mit weichem Anschlag am Klavier zusammen mit ihm die kammermusikalischen Passagen und die Philharmonia Zürich unter Paul Connelly untermalt das Geschehen mit farbenreichem Musizieren aus dem Graben. Vor allem Jacqueline du Prés Signature-Piece, Edward Elgars Cellokonzert, klingt in entscheidenden Momenten immer wieder an - und mit dieser elegischen Melodie im Ohr geht man bereichert, aber auch ergriffen von einem traurigen Künstler*innenschicksal hinaus in die dunkle, regnerische Nacht.

Anmerkungen:

- Die intensive, genaue Arbeit Cathy Marstons und Giulia Tonellis kann man ermessen, wenn man sich die Aufnahmen aus du Prés Leben und die Live-Mittschnitte auf YouTube ansieht (in dieser Beziehung ist YouTube ein Segen für die Menschheit, man kann in die Vergangenheit eintauchen, kriegt kulturelle Highlights einfach so auf den heimischen Bildschirm serviert!). Die berühmte Körperlichkeit von Jacqueline du Prés Cellospiel hat Giulia Tonelli wunderbar adaptiert, genauso wie ihre stürmische Ausgelassenheit, die in einem BBC Film von Christopher Nupen dokumentiert ist, in dem sie Schuberts Forellenquintett probt, mit Barenbiom, Perlman, Zuckermann und Mehta. Die Lebenslust, die sie in einem anderen Film am Swimmingpool zusammen mit Barenbiom und Mehta an den Tag legt, kontrastiert mit dem brutal geführten Interview Nupens von 1980 (von du Pré abgesegnet!) mit der bereits schwer kranken und verstockt wirkenden Jacqueline du Pré, die erst gegen Ende des Interviews, trotz der fortgeschrittenen Krankheit, endlich ihr "smiley face" zeigt.

- Barenboim fand Cathy Marstons Idee zu einer Choreografie über Jacqueline du Pré "charming" und äusserte den Wunsch "make me handsome!"

- Jacqueline du Prés Ehe mit Barenboim blieb bis zu ihrem Tod auf dem Papier bestehen, obwohl Barenboim unterdessen bereits zwei Kinder mit seiner späteren zweiten Ehefrau Jelena Baschkirowa hatte. Er unterstützte sie finanziell grosszügig.

- Barenboim hat Elgars Cellokonzert nach dem Tod du Prés knapp 25 Jahre lang nicht mehr dirigiert, bis er in New York die junge Cellistin Alisa Weilerstein entdeckte und sie sowohl mit den Berliner Philharmonikern als auch mit seiner Staatskapelle Berlin begleitete, inklusive DVD und CD.

- Mit einer Spieldauer von insgesamt 65 Minuten ist das Stück nicht ganz ausreichend für einen Abendfüller zum Vollpreis. Man hätte gut ein zweites - eventuell abstraktes - Tanzstück als Paarung vor einer Pause in Erwägung ziehen können. Ich kann mich an Zeiten in Zürich erinnern, da empfand die Ballettdirektion selbst GISELLE als zu kurz und stellte dem Ballett von Adolphe Adam Borodins Polowetzer Tänze voran ... .

Inhalt:

Ein ungespieltes Instrument. 
Erweckt vom Nachhall vergangener Konzerte, beginnt es,
die Geschichte einer grossen Interpretin zu erzählen: 
Wie ein kleines Mädchen den Klang des Cellos vernimmt
und sich in das Instrument verliebt. 
Wie seine Mutter beginnt, das Mädchen zu unterrichten,
bis sie dem Talent ihrer Tochter nicht mehr gerecht wird.
Wie ein neuer Lehrer ihr den Weg in eine Gemeinschaft 
einzigartiger Musiker weist, 
und sie einen Dirigenten kennenlernt, 
der ihr Gefährte und Seelenverwandter wird:
ihre Liebe, beflügelt von der Musik. 
Wie die beiden zu Stars werden, 
deren Ruhm durch zahlreiche Aufnahmen immer weiterwächst. 
Wie sie heiraten und sich auf ausgedehnte Konzerttourneen begeben – 
bis die Cellistin zu ermüden beginnt, sie nicht mehr mithalten kann,
und die Beziehung des Paares allmählich zerbricht. 
Denn die Cellistin kämpft nicht nur mit ihrer Müdigkeit, sie ist krank.
Sie leidet an einer Krankheit, die ihre Nerven zerstören, ihre Karriere
und schliesslich ihr Leben beenden wird. 
Wie die Cellistin darum kämpft, weiterzuspielen, 
und wie sie, als sie nicht mehr kämpfen kann, 
das Instrument in die Ecke stellt und schliesslich verstummt. 
Wie sie ihre Stimme verliert und dennoch bis heute inspiriert. 
Weil ihre Musik nachhallt – in den Erinnerungen derer, die sie hörten, 
und in den Aufnahmen, die sie hinterliess.

Text von Cathy Marston und Edward Kemp, Übersetzung von Michael Küster

Karten

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