Zürich, Opernhaus: COUNTERTIME (Ballettabend); 11.05.2025
Der dreiteilige Ballettabend thematisiert im Ambiente der 50er und 60er Jahre des letzten Jahrhunderts die Aufbruchsstimmung aus einer gesellschaftlichen Erstarrung heraus
CONCERTO | Musik: Dmitri Schostakowitsch | Choreografie: Sir Kenneth MacMillan | Uraufführung: 30. November 1966 in Berlin
MRS. ROBINSON | Musik: Terry Davies | Choreografie: Cathy Marston | Uraufführung: 1. Februar 2022 in San Francisco
COLORFUL DARKNESS | Musik: Leonard Bernstein (Symphonic Dances) | Choreografie: Bryan Arias | Uraufführung: 10. Mai 2025 am Opernhaus Zürich
Kritik:
Nach dem kürzlich hier besprochenen Triple-Bill-Ballettabend AUTOGRAPHS präsentiert das Ballett Zürich mit den unter dem Titel COUNTERTIME zusammengefassten Kreationen erneut einen hervorragend konzipierten Dreiteiler, der reich an spannenden Kontrasten ist. In COUNTERTIME soll der Geist der 1950/60er Jahre mitschwingen, einer Zeit der sexuellen Befreiung, des Aufbruchs, des Wagens neuer Lebensentwürfe, der Überwindung der Biederkeit der Nachkriegsjahre. Zwar stammt nur eine der drei gezeigten Choreografien wirklich aus dieser Zeit, nämlich Kenneth MacMillans CONCERTO, entstanden 1966 in Berlin. Doch auch die beiden neueren Choreografien haben durch Inhalt (Cathy Marstons MRS. ROBINSON) oder Musik (Bernsteins Symphonic Dances in Bryan Arias COLORFUL DARKNESS) einen Bezug zur angesprochenen Epoche.
Am Anfang nun steht also mit Kenneth MacMillans CONCERTO ein neoklassisches, abstraktes Ballett von stupender Reinheit, Spritzigkeit und Lebendigkeit. Wie da mit perfekter Synchronizität in der Parallele und in der Spiegelung getanzt wird, ist schlicht atemberaubend. Dazu kommt das ganze farbliche Konzept der Kostüme und des Bühnenbilds (Jürgen Rose) und das perfekte Lichtdesign von John B.Read. Zum Gesamtkunstwerk wird CONCERTO durch die Musik: Schostakowitschs reichhaltiges Klavierkonzert Nr. 2 wird zum Glück live gespielt von Kateryna Tereshchenko und der Philharmonia Zürich unter der Leitung von Robert Houssart, und die Musiker*innen des Orchesters und die hervorragende Solistin am Klavier garantieren eine aufregende, virtuose und - im zweiten Satz – wunderschön melancholisch-verinnerlichte Wiedergabe dieses rhythmisch so voll einfahrenden, humoresken Konzerts. Im ersten Satz bestechen das Solopaar McKhayla Pettingill und Sean Bates mit ihren so wunderschön rein ausgeführten Bewegungen, ihrer Präsenz, ihrer wunderbar synchronen Bein- und Armarbeit. Im Andante des zweiten Satzes übernehmen Max Richter und Brandon Lawrence den Pas de deux, dieses perfekt choreografierte Juwel an ätherischer Leichtigkeit und Schönheit, das im Hintergrund von drei weiteren Paaren dezent kopiert wird. Im Finalsatz brilliert die Gastsolistin Madoka Sugai in ihren Soli, beeindruckt in ihrem Tanz mit immenser Musikalität. Dazu gesellen sich das gesamte Corps des Balletts Zürich und des Junior Ballett zu einem überwältigenden Finale, in welchem der Grossmeister Kenneth MacMillan jede Note der Musik fein ausgehorcht und in Bewegung umgesetzt hatte. Man kann sich an dieser Reinheit des Tanzes kaum sattsehen.
Cathy Marston hat mit MRS ROBINSON das einzige „storytelling“ Ballett zu diesem Dreiteiler beigesteuert, ihre Sicht auf die Geschichte von THE GRADUATE. Dabei hat Cathy Marston nicht – wie im Buch und dessen Verfilmung mit Dustin Hoffman – die Perspektive des Studenten Benjamin eingenommen, sondern den Fokus auf die sexuell frustrierte, reifere Vorstadt-Ehefrau Mrs. Robinson gelegt. Marston und ihrem Dramaturgen Edward Kemp gelingt es dabei ausgezeichnet, die Personen einzuführen und dem Publikum näher zu bringen, auch wenn man Film und Buch nicht kennt. Nancy Osbaldeston interpretiert mit hervorragender Darstellungskunst diese frustrierte Frau, die aus ihrem drögen Ehealltag ausbrechen will, sich ganz egoistisch den unbedarften Jungen Benjamin als Objekt der Begierde schnappt, den Erik Kim empfindsam in seiner Unbeholfenheit mit dem erwachenden Sexualtrieb tanzt. Wie Mrs. Robinson von Sexszene zu Sexszene immer eine weitere Schicht Kleidung auszieht, ist köstlich gemacht. Da Cathy Marston den Blick jedoch vor allem auf Mrs. Robinson richtet, kommt das Verhältnis zu ihrer Tochter Elaine (jungmädchenhaft getanzt von Ruka Nakagawa) etwas zu kurz. Dafür ist die (kaum mehr vorhandene) Beziehung zu ihrem machohaften Alkoholikergatten Mr. Robinson sehr treffend herausgearbeitet: Charles-Louis Yoshiyama zeigt eine eindringliche Charakterisierung dieses Unsympathen. Witzig und jovial werden dagegen die Eltern Benjamins gezeichnet, welche von Max Richter und Brandon Lawrence wunderbar erfrischend dargestellt werden. Gelungen ist die Thematisierung des Kontrasts zwischen den Bedürfnissen Mrs.Robinsons, die in ihrem Vorstadtgarten mit der perfekt getrimmten Grünhecke und dem Beton- / Glasbungalow im Stil der Mid-Century-Architektur (wie man sie heute noch vor allem in Palm Springs bewundern kann) gefangen scheint. Angewidert schaut Mrs. Robinson auf die biederen Tänze der restlichen „Desperate Housewives“ um am Ende (nach der kathartischen Wirkung des in flagranti beim Sex mit Benjamin ertappt Werdens), durch ein plötzlich auftauchendes, weisses Gartentor in der Grünhecke aus ihrer „Gefangenschaft“ auszubrechen im Stande ist. Ein wunderschöner, poetischer Schluss! Die Musik von Terry Davis unterstreicht das Geschehen mit ihren jazzigen und melancholischen Anklängen, die Choreografie ist gefällig, lyrisch-erzählend gehalten, kommt vielleicht etwas zu „brav“ daher, man hätte sich durchaus etwas härtere, aggressivere Dramatik vorstellen können. Sehr überzeugend sind die Lichtgestaltung von Jim French und vor allem das Bühnenbild und die Kostüme von Patrick Kinmonth, die den Geist und das Ambiente des Lebens in der amerikanischen Kleinstadt perfekt abbilden. In Erinnerung bleiben wird vor allem die genau herausgearbeitete Beziehung zwischen Mr. und Mrs. Robinson, diese Kälte, diese Frustration (auf beiden Seiten!), diese Eifersucht auf die Jugend, dieses Nachtrauern auf verpasste Chancen, die in Hass und Desillusionierung und schliesslich in Flucht übergehen.
COLORFUL DARKNESS von Bryan Arias bildet den fulminanten Abschluss dieses Dreiteilers. Bryan Arias hat die eindringlichen, rhythmisch so vertrackten SYMPHONIC DANCES aus Bernsteins WEST SIDE STORY (mit eindringlicher Schlagkraft gespielt von der Philharmonia Zürich unter Robert Houssard) wahrhaftig farbenprächtig, karnevalesk und albtraumhaft umgesetzt. Die knallbunten, fantasievollen Kostüme und angsteinflössenden Tiermasken von Bregje van Balen, das fabelhafte Lichtdesigen von Lukas Marian mit den auf zwei kreisrunden Scheiben angeordneten Lichtbatterien, die in atmosphärisch eindringlichen Farben ihre Lichtstrahlen und -säulen auf die Bühne werfen und der (auf Sohlen) ausgeführte, archaisch anmutende Tanz bilden eine faszinierende, in Bann schlagende Einheit. Das ist eine Art SACRE DU PRINTEMPS GOES SIXTIES, Riten, die sich aus ungeordneten Menschenknäueln entwickeln, zusammenfinden und sich wieder in Individualität aufzulösen scheinen. Ruhepunkte gibt es nur wenige (bei Somewhere z.B.), solistische Passagen (eindringlich ausgeführt von Caroline Perry, Karen Azatyan, Inna Bilash, Lucas Valente, Ruka Nakagawa und Jesse Fraser) verschmelzen und verschlingen sich in und mit der Gruppe (Mariko Ackermann, Sean Bates, Wei Chen, Wesley Cloud, Marià Huguet, Sujung Lim, Yun-Su Park, McKahyla Pettingill, Joel Woellner). Bryan Arias dankt im Programmheft ausdrücklich den Tänzer*innen des Balletts Zürich für deren Mitarbeit bei der Entstehung dieses Werkes. Auf geradezu unheimliche Art berauschend (wie ein LSD Trip) findet der vielschichtige Dreiteiler so zu einem begeisternden Abschluss.
Werke:
CONCERTO: Sir Kenneth MacMillan (1929-1992) war einer der bedeutendsten Choreografen des 20. Jahrhunderts. Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen in Schottland kam er als Tänzer dank eines Stipendiums ans Sadler's Wells Ballet. Bald begann er zu choreografieren. Sein erstes Handlungsballett für das Royal Ballet London war ROMEO AND JULIET, das mit Rudolf Nurejew und Margot Fonteyn auch verfilmt wurde. (Obwohl MacMillan das Ballett für seine Muse Lynn Seymour und Christopher Gable konzipiert hatte, setzte sich der Londoner Intendant durch und betraute Nurejew und Fonteyn mit den Hauptrollen, was höherer Einnahmen versprach. Dieser Choreografie folgten unzählige weitere, unsterbliche Schöpfungen für London, Stuttgart und Berlin, wie MANON, DAS LIED VON DER ERDE, LE SACRE DU PRINTEMPS, REQUIEM (Fauré UND Andrew Lloyd Webber), ISADORA, die Klassiker SWAN LAKE und SLEEPING BEAUTY. In seiner Rolle als Ballettdirektor und Choreograf wurde MacMillan weder in Berlin (1966-1969) noch beim Royal Ballet (1970-1977) glücklich. Ab 1977 bis zu seinem Tod 1992 war er dann “nur” noch kreativ als Chefchoreograf des Royal Ballet tätig. Während einer Aufführung seines Balletts MAYERLING erlitt er backstage einen Herzinfarkt und verstarb im Theater.
CONCERTO, ein abstraktes Ballett, entstand während seiner Zeit in Berlin. Es folgt den drei Sätzen von Schostakowitschs 2. Klavierkonzert. Für den berühmten Pas de deux des zweiten Satzes liess er sich von den Aufwärmübungen seiner Muse Lynn Seymour an der Stange inspirieren. Das Ballett wurde ins Repertoire vieler Compagnien weltweit aufgenommen.
MRS. ROBINSON: Für ihre Choreografie liess sich die Zürcher Ballettdirektorin Cathy Marston vom Roman THE GRADUATE von Charles Webb und dessen Verfilmung (in deutsch DIE REIFEPRÜFUNG) durch Regisseur Mike Nichols inspirieren. Roman und Verfilmung erzählen die Geschichte des jungen Studenten Benjamin Braddock (im Film: Dustin Hoffman), der von einer reiferen Frau aus der Nachbarschaft, Mrs. Robinson (Anne Bancroft) sexuell verführt - missbraucht - wird. Benjamin erliegt den Verführungskünsten von Mrs. Robinson, verliebt sich aber gleichzeitig in deren Tochter Elaine (Katherine Ross) und brennt schliesslich mit ihr durch. Ende offen. Der Film erhielt den Oscar für die beste Regie, mehrere Golden Globes und British Film Academy Awards. Die Filmmusik mit den Songs von Simon & Garfunkel (Sound of silence, Mrs. Robinson) wurde unsterblich.
Während Buch und Film Benjamin in den Mittelpunkt stellen, rückt Cathy Marston in ihrer Adaption für das Ballett nun die reife Frau und deren seelische Befindlichkeiten ins Zentrum ihres Fokus.
COLORFUL DARKNESS: Der in Puerto Rico und New York aufgewachsene Choreograf Bryan Arias hatte sich mit PURE COINCIDANCE 2021 (choreografiert für das Junior Ballett) in Zürich vorgestellt. Nun kreiert er für das Ballett Zürich Bernsteins SYMPHONIC DANCES (eine Orchestersuite aus Tanznummern der WEST SIDE STORY). Aus urheberrechtlichen Gründen darf jedoch diese Orchestersuite weder Teile der Story des Liebesdramas innerhalb der Gangszene New Yorks beinhalten noch auf Jerome Robbins' Choreografie verweisen. Arias beabsichtigt in dieser Uraufführung karnevaleske Themen aus Puerto Rico zu verarbeiten, wo die VEJIGANTES (aufgeblasene, bemalte Kuhblasen) den Kampf zwischen Gut und Böse symbolisieren.