Zürich, Opernhaus: ROBERTO DEVEREUX, 05.02.2023
Tragedia lirica in drei Akten | Musik: Gaetano Donizetti | Libretto: Salvatore Cammarano | Uraufführung: 29. Oktober 1837 in Neapel | Aufführungen in Zürich: 5.2. | 9.2. | 12.2. | 17.2. | 22.2. | 26.2. | 4.3. | 7.3. | 17.3.2023
Kritik:
EMOTIONALE UND VOKALE BALANCEAKTE
Die Beziehungsgeflechte in dieser Oper, die am Hof Elisabeths I. spielt, sind komplex: Die Königin, damals auch die mächtigste Frau der Welt, muss sich in einer patriarchalen Welt behaupten, pflegt ihr Image als Virgin Queen, hat aber trotzdem das Bedürfnis nach (körperlicher) Liebe und umgibt sich mit jugendlichen Liebhabern. Ihr letzter ist 32 Jahre jünger als sie, Roberto Deveureux, der Earl of Essex. In Donizettis Oper ROBERTO DEVEUREUX (mit dem Text von Salvatore Cammarano) nun begegnen wir der Königin in den letzten Jahren ihres Lebens. Der Regisseur David Alden und der Bühnenbildner Gideon Davey waren als Inszenierungsteam in Zürich verantwortlich für alle drei Opern Donizettis (MARIA STUARDA, ANNA BOLENA und ROBERTO DEVEUREUX), die zusammen als Tudor-Trilogie bezeichnet werden. Alden zeigt uns eine Königin, die traumatisiert vom gewaltsamen Tod ihrer Mutter Anna Bolena durch das Beil des Henkers nicht in Würde älter werden kann. Es mutet schon fast lächerlich, jedenfalls bemitleidenswert an, wie sie sich als junges Mädchen kleidet, mit puppenhafter, leuchtend roter Perücke, sie erinnert fast an Bette Davis in Whatever Happened to Baby Jane. Die kalten, marmornen Palastwände sind bedeckt mit unzähligen Porträts der Königin, die ihre strahlende und Ehrfurcht gebietende Schönheit darstellen und ihr Image aufrechterhalten sollen. In ihrer Seele sieht es jedoch ganz anders aus. Deveureux betrügt sie, nicht nur politisch, sondern - und das wiegt in der Donizetti Oper schwerer - auch emotional, indem er seiner Liebe zur beträchtlich jüngeren Sara frönt. Die jedoch ist mit seinem besten Freund, dem Herzog von Nottingham, von Elisabeth quasi zwangsvermählt worden (als Roberto Deveureux mal wieder im Ausland weilte). All diese mixed emotions gilt es nun auf der Szene umzusetzen. Nach der etwas statisch geratenen Auslegeordnung im ersten Akt gelingt dies dem Inszenierungsteam sehr gut, die Inszenierung entwickelt einen eindrücklichen Sog nach der Pause und die Darsteller*innen offenbaren ihre emotionalen Befindlichkeiten mit Eindringlichkeit. Stephen Costello in der Titelrolle besitzt eine wunderschön gerundete, in allen Lagen gleichmässig sauber anspringende Tenorstimme. Er gestaltet den jugendlichen Sturm und Drang des Abenteurers Deveureux energiegeladen, gibt die Hoffnung auf seine Errettung durch die Begnadigung der Königin selbst nach blutigsten Torturen im Kerker nicht auf. Seine Interpolationen in hohe Lagen in der grossen Kerkerszene gelingen nicht alle makellos, aber er hat wenigsten versucht, etwas belcantistische Stimmakrobatik in seiner Interpretation einzubauen. Inga Kalna als Elisabetta I. wirft nur so mit messerscharfen, stählernen Klängen um sich. Das ist vornehmlich laut, imponierend zwar, und dann doch wieder schmerzhaft schrill. Dass sie durchaus über ein tragfähiges Piano verfügt, lässt sie leider nur vereinzelt aufschimmern. Da sind auch fein ziselierte Läufe und einige Fiorituren zu hören. Insgesamt für meinen Geschmack zeigt sie aber doch zu wenig an messa di voce, an fein auf den Atem gelegten, im Piano gesponnenen, schwebenden Kantilenen. Aber sie singt, und das beeindruckt dann doch, mit stupender Intonationssicherheit. Rasend gerät das Finale II, wo Elisabetta vom (Walküren?-) Felsen herab Robertos Todesurteil verkündet: Dieses Va, la morte sul capo ti pende evoziert den gewünschten Gänsehaut-Effekt. Bei all dieser stimmlichen Kraft hätte man eigentlich ein Acuto in der finalen Cabaletta Quel sangue, versato erwartet - doch das bleibt aus.
DER DIRIGENT
Es ist zu vermuten, dass dieses fehlende Acuto der musikalische Leiter Enrique Mazzola zu verantworten hat. Er hatte im Vorfeld ja betont, wie weit sich Donizetti mit ROBERTO DEVEUREUX von der tradierten Belcantokunst entfernt habe, musikdramatisch gereift sei. Dies unterstrich er mit einem Dirigat, das vorwärtsdrängend war, Schroffheiten und abrupte Tempowechsel betonte. Die Philharmonia Zürich spielte das vortrefflich, setzte klare und transparente Akzente und so wurden die vokalen und emotionalen Balanceakte auf der Bühne aus dem Graben wirkungsvoll unterstützt.
DAS EHEPAAR NOTTINGHAM
Anna Goryachova hatte die Partie der Sara innert weniger Tagen einstudiert, da die vorgesehene Sängerin krankheitshalber die Partie zurückgegeben hatte - wie übrigens (allerdings schon vor Monaten) auch Diana Damrau die Partie der Elisabetta, für die sie sich selber als noch nicht reif genug empfand. Frau Goryachovas Rollendebüt war grossartig. Ihr kräftiger, beweglicher Mezzosopran und ihr leidenschaftliches Spiel loteten die Partie der unglücklich verheirateten jungen Frau tiefgründig aus. Darstellerisch etwas steifer aber dafür mit baritonalem Schönklang und fantastisch disponierender Kraft debütierte Konstantin Shushakov als Nottingham. Er glänzte vokal nicht nur in seiner grossen Kavatine im ersten Akt, sondern bereicherte mit seiner stimmlichen Ausdruckskraft auch die Duette mit Sara, Roberto und Elisabetta und das grosse Terzett im zweiten Akt.
DIE COMPRIMARI
Ganz so häufig taucht ROBERTO DEVEUREUX, diese sängerisch grosse Herausforderungen stellende Oper aus Donizettis letzter und reifster Schaffensperiode, nicht auf den Spielplänen auf. So erstaunt es nicht, dass die gestrige Premiere im Opernhaus Zürich Rollendebüts für alle Mitwirkenden beinhaltete, ausser für Stephen Costello in der Titelpartie (er hatte den Roberto bereits 2014 in Dallas verkörpert). Die Nebenfiguren wurden von Regisseur David Alden wichtig genommen und erhielten durchdachtes Profil. So der wie ein verhuschtes Weib geisterhaft durch das Geschehen schleichende Lord Cecil von Andrew Owens, der massige Sir Gualtiero Raleigh von Brent Michael Smith, der Page von Aksel Daveyan und der mitfühlende Vertraute der Nottinghams (Gregory Feldman) sowie der Henker (Francesco Guglielmino, stumme Rolle).
DIE SZENE
Wie erwähnt wurde nun die so genannte Tudor-Trilogie Donizettis mit ROBERTO DEVEUEREUX abgeschlossen. Die von Gideon Davey konzipierten Wände aus grün-grauem Marmor, welche die Kälte und Enge des Palastes symbolisieren, sind fester Bestandteil aller drei Bühnenbilder, doch ihre Ausgestaltung verändert sich in jeder der drei Opern. Diesmal wirkt ein aufgeschnittener, riesiger, aus Marmorblöcken gemauerter Zylinder als Raumtrenner. Er wird von Manneskraft gedreht und herein- und herausgeschoben. Dies ermöglicht die schnellen Szenenwechsel, die des weiteren unterstützt werden von Vorhängen, z. B. in der Kerkerszene, wo eine schwarze, rissige Mauer mit geritten Inschriften von Gefangenen die deprimerende Ambiance eines Gefängnisses hervorruft. Auf die Szene kommen wie bei den vorangegangenen Werken zusätzliche, symbolträchtige Elemente. Bei MARIA STUARDA waren es die Pferdestatue und die Blumenwiese, bei ANNA BOLENA Aschehaufen, Kamin, Thron und Kunstledersofas. Nun dominieren bei ROBERTO DEVEUREUX die eitlen Porträts der Königin an der Aussenwand des Zylinders und ein etwas merkwürdiger Felsbrocken, den Elisabetta in gewichtigen Momenten der Oper erklimmen muss. Auch die roten Kunstledersofas tauchen wieder auf. Ein Bild Heinrichs VIII., flankiert von seinen Kindern Mary (Bloody Mary) und Edward (Edward VI., der mit 16 Jahren starb) setzt einen gewichtigen Akzent. Es ist nämlich auffallend, dass Elisabeth auf dem Bild fehlt. Sie war als Tochter Anne Boleyns ein Bastard und litt damit während ihrer gesamten Regentschaft an diesem Makel an Legitimation auf dem Thron. Beachtenswert ist das Lichtdesign von Elfried Roller, welches durch die Schattenwürfe der Protagonisten an die Marmorwand immer wieder für alptraumhafte Stimmung sorgt, eine Stimmung, wie sie in der Seele der Regentin und der weiteren Protagonisten vorherrscht. Die Personenführung von David Alden gewinnt im Verlauf des Abends an Intensität. Grandios spitzt sich die Schilderung der psychischen Verfassung Elisabettas im dritten Akt zu, sie erscheint nun nur noch im weissen Nachthemd, die Perücke ist verschwunden, ihr strähniges, schlohweisses Haar trägt sie nun offen, ihr Gang ist schleppend, hinkend, man spürt ihren körperlichen und seelischen Verfall. Die Porträts sind allesamt verhüllt. Inga Kalna stellt das grossartig und berührend dar. Eindringlich ist auch die Vergewaltigungsszene in der Ehe der Nottinghams inszeniert: Nachdem Nottingham von der Untreue seiner Gemahlin erfahren hat, fesselt er diese mit dem Schal, den sie Roberto geschenkt hatte, an die Bettpfosten und vergewaltigt sie.
CHOR
Der Chor hat bei all diesen Tudor-Opern eigentlich nur kommentierenden Charakter. Aber er steuert in einigen Szenen und Introduktionen doch stimmungsvolle Klangfarben bei. So zum Beispiel zu Beginn des zweiten Aktes, wo er mit Masken des Todes die Vorahnung auf das Todesurteil für Roberto heraufbeschwört. Für diese stimmungsvolle klangliche Ausgeglichenheit gab es zu Recht Szenenapplaus.
KOSTÜME
Wie schon bei den vorangegangenen beiden Tudor-Opern verwirrt eine gewisse Uneinheitlichkeit der von Gideon Davey entworfenen Kostüme aus verschiedenen Epochen leicht. Elisabetta tritt in den ersten beiden Akten in reichhaltigen, kostbaren Roben auf, ganz besonders bei den Staatsakten im zweiten Akt, wo ihr Spitzenstehkragen ins Absurde vergrössert wirkt - ein effektvoller Auftritt, mit dem sie ihre Unsicherheit zu kaschieren versucht. Sara trägt in den ersten beiden Akten lange Roben, die eher an die Entstehungszeit des Werks als an das elisabethanische Zeitalter erinnern, die männlichen Protagonisten sind mit hohen Lederstiefeln, Strumpf- und Pluderhosen und Wams dann wieder der Zeit der Handlung angenähert. Die Diener und die Krankenschwestern, welche die Leiche und den Kopf Anna Bolenas während des Vorspiels wegtragen, erwecken den Eindruck der vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts, als Elisabeth II. Kind war. Was damit bezweckt werden sollte, wurde mit nicht ganz klar, denn die Skandale der Windsors sind doch nicht ganz mit den Vorgängen am Hofe der Tudors im 16. Jahrhundert vergleichbar.
Aber wie dem auch sei: Der Jubel des Publikums am Ende war enthusiastisch, alle Ausführenden und das Inszenierungsteam wurden mit Ovationen überschüttet, ganz zum Schluss sogar mit stehenden!
Inhalt:
London, 1601
Vorgeschichte: Roberto Devereux, Günstling Königin Elisabeths I. wartet in London auf seinen Prozess wegen Hochverrats, da er auf eigene Faust einen Waffenstillstand mit irischen Aufständischen geschlossen und Adlige in London zum Aufstand angestiftet hatte.
Oper:
Sara, die Herzogin von Nottingham, liebt den engsten Freund ihres Gatten, Roberto Devereux. Königin Elisabeth tritt ein und gesteht Sara, dass sie Roberto in einer Privataudienz empfangen wolle, wenn sie nicht an seiner Treue zu zweifeln habe. Dass sie ihre intimen Gefühle einer Rivalin offenbart, weiss sie natürlich nicht. Jedenfalls weigert sie sich, Robertos Todesurteil zu unterzeichnen. Doch bei der Begegnung mit Roberto verplappert sich dieser und spricht von seiner Liebe zu Sara. Elisabeth ist ausser sich vor Wut. Robertos Todesurteil scheint besiegelt. Der Herzog von Nottingham seinerseits weiss nicht um die Gefühle seiner Frau und erzählt Roberto, dass seine Frau an einem geheimen Kummer dahinwelke. Roberto trifft auf Sara. Er ist enttäuscht, dass sie sich mit Nottingham vermählt hatte. Sara ihrerseits wirft ihm Untreue vor, da er den Günstlingsring der Königin trage. Roberto wirft den Ring auf den Tisch, dafür bekommt er von Sara einen blauen Schal als Liebespfand.
Der Secretary of State, Lord Cecil, verkündet Robertos Todesurteil. Bei der Verhaftung Robertos findet man einen blauen Schal. Die Königin konfrontiert Roberto mit dem blauen Schal. Nottingham ist ebenfalls zugegen, erkennt den Schal seiner Gemahlin und stürzt sich auf Roberto. Die Königin unterzeichnet das Todesurteil. Roberto Devereux schweigt.
In einem letzten Brief an Sara bittet Roberto sie, der Königin den Günstlingsring zu bringen und damit sein Leben zu retten. Nottingham entreisst Sara den Brief und sperrt sie ein, bis das Urteil gegen Roberto vollstreckt sei. Roberto hofft im Gefängnis auf Saras Mission. Er wird jedoch von den Wächtern zum Richtblock geführt. Sara gelingt es doch noch, zur Königin vorzudringen, gibt ihr den Ring und gesteht, die Rivalin der Königin zu sein. Elisabeth ordnet einen Aufschub der Hinrichtung an – zu spät. Nottingham triumphiert darüber, dass der Liebhaber seiner Gemahlin tot sei. Elisabeth lässt beide abführen. Sie ist allein. In einer Schreckensvision erscheint ihr der enthauptete Roberto. Sie erklärt ihren Verzicht auf den Thron, übergibt die Insignien der Macht ihrem Neffen James, König von Schottland, und bricht, Robertos Ring an die Lippen gepresst, ohnmächtig zusammen.
Werk:
Unter allerschwersten persönlichen Umständen komponierte Donizetti seine (je nach Zählweise) ungefähr 57. Oper: Seine Eltern waren ein Jahr zuvor gestorben, seine Frau brachte ein totes Kind zur Welt, ein weiteres starb bei der Geburt und schliesslich starb auch seine junge Gemahlin drei Monate vor der Uraufführung der Oper. Der Librettist Cammarano sah sich zudem Plagiatsvorwürfen ausgesetzt, da Felice Romani ein Libretto über den CONTE D'ESSEX für Mercadante geschrieben hatte und Cammarano diesem anscheinend sehr genau folgte. ROBERTO DEVEREUX gilt als Musterbeispiel einer italienischen historischen Oper. Donizetti hatte zuvor schon zwei vom Inhalt und Ablauf her ähnliche Königinnen—Tragödien komponiert, nämlich ANNA BOLENA und MARIA STUARDA. Er konzentrierte sich dabei ganz auf das Aufeinanderprallen der Charaktere und die Ausrichtung der Konflikte der vier Protagonisten untereinander (äusserst anspruchsvolle Partien für Elisabeth, Sara, Nottingham und Roberto) und verzichtete auf „romantische“ Stimmungsschilderungen. Der Chor ist ganz auf passive Kommentierung reduziert, die Nebenfiguren dürfen Stichworte zur Erklärung der Handlung liefern. Die beiden Szenen am Ende des dritten Aktes gehören zu Donizettis eindringlichsten Kompositionen: Robertos flehende Kerkerszene und Elisabeths virtuose Schlussarie mit der halsbrecherischen Cabaletta, welche von einem hoch spannenden und expressiven Lamento eingeleitet wird.
Mit dieser quasi historisierenden Kammeroper war es Donizetti gelungen, ein Werk zu schreiben, welches den später von Verdi erhobenen Anspruch, nämlich die „musikalische ausgedrückte Wahrheit des Gefühls“, auf geradezu überwältigende Art vorwegnahm.
Musikalische Höhepunkte:
All'afflitto è dolce il pianto, Romanze der Sara, Akt I
L'amor suo mi fe'beata – Ah!ritorna, Cavatine und Arie der Elisabetta, Akt I
Donna reale, Duett Roberto-Elisabetta, Akt I
Da che tornasti, Duett Roberto-Sara, Akt I
Ecco l'indegno, Terzett und Finale Elisabetta-Roberto-Nottingham, Akt II
A te dirò...Bagnato il sen di lagrime, Arie des Roberto, Akt III
Vivi, ingrato ... Quel sangue versato, Aria finale, Akt III