Genf, Grand Théâtre: TUDOR TRILOGIE III, ROBERTO DEVEREUX; 30.06.2024
Teil 3 der Tudor Trilogie am Grand Théatre de Genève, Musikalische Leitung: Stefano Montanari
ROBERTO DEVEREUX | Tragedia lirica in drei Akten | Musik: Gaetano Donizetti | Libretto: Salvatore Cammarano | Uraufführung: 29. Oktober 1837 in Neapel | Aufführungen in Genf: 31.5. | 2. 6. | 4.6. | 6.6. | 23.6. | 30.6.2024
Kritik:
Was für ein atemberaubender Abschluss dieser Tudor-Trilogie am Grand Théâtre de Genève: ROBERTO DEVEREUX ist dramaturgisch bestimmt das stärkste Stück dieser drei für die Trilogie ausgewählten Opern Donizettis. Hier hatte Donzietti dazu auch noch den besten der drei Librettisten zur Verfügung: Salvatore Cammarano, der später für Verdi die Libretti zu LUISA MILLER, ALZIRA und den Rohentwurf des TROVATORE verfasste, für Donizetti u.a. LUCIA DI LAMMERMOOR, MARIA DI ROHAN und POLIUTO und auch für Mercadante diverse Libretti schrieb. Die konzisen, im Vergleich mit ANNA BOLENA und vor allem mit MARIA STUARDA viel kürzeren Szenen treiben in ROBERTO DEVEUREUX die Handlung stringent voran, was das Inszenierungsteam rund um Mariame Clément (Regie), Julia Hansen (Ausstattung), Ulrik Gad (Licht) und Clara Pons (Videos und Dramaturgie) geschickt zur Gestaltung eines Historienthrillers mit psychologischem Tiefgang zu nutzen wusste.
Der Rahmen der Bühne ist der selbe geblieben wie in den drei vorangehenden Opern: Der Kubus im blauen Zimmer dreht sich - wie in MARIA STUARDA nicht mehr. Die innere Spielfläche ist vereist, die Bäume tragen keine Blätter mehr, es ist Winter geworden, eine Dämmerung nicht der Götter wie bei Wagner, sondern eine Dämmerung der Königin, die am Ende nicht irre, sondern hell sehend wird und das Ende voraussieht: Das Ende ihres Lebens und das Ende der Tudor-Dynastie sowieso, das Ende der Monarchie eventuell.
Links und rechts hängen projizierte Porträts der Königin, durch raffinierte Viedotechnologie verändert sich die Mimik der Königin und reagiert so als stumme Beobachterin des eigenen und fremden Handelns. Wenn Elisabetta als reife Königin spürt, dass sich die ragische Geschichte ihrer Mutter Anna Bolena, die Fesseln einer fatalen Dreiecksbeziehung, zu wiederholen droht, werden auf die Rückwand die Roben der beiden Konkurrentinnen aus ANNA BOLENA projiziert: Das grüne Kleid der Bolena und das rote der Seymour. So spürt man ständig die Gewissenskonflikte Elisabettas, die mit sich ringt, den Terror ihres Vaters nicht wiederholen zu müssen und doch schon mit der Hinrichtung Maria Stuardas bereits in diese Falle getappt war - und es mit Roberto Devereux wieder tun wird, obwohl sie es bereits nach der Unterschrift unter das Todesurteil zutiefst bereut. Wunderbar herausgearbeitet hat Mariam Clément auch das Verhalten der beiden Ratgeber (eher Intriganten) am Hof: Lord Cecil und Sir Gualtiero Raleigh: Wie die beiden Speichellecker sich gegenseitig auf die Schultern klopfen, als sie sehen, dass ihr fieser Plan aufgegangen ist, Devereux auszuschalten, damit er keinen Einfluss mehr auf Elisabetta hat. Das birgt Parallelen bis hin zur Gegenwart. Mariame Clément und Julia Hansen zeigen diese assoziativen Parallelen auch durch die Kostümdramaturgie: Die Höflinge und die Damen sind alle in schwarze, zeitgenössische Anzüge gekleidet, Elisabetta verharrt in ihrem historischen Renaissance-Kostüm, wie man es von Bildern der Königin kennnt, sie trägt auch wieder den goldenen Büstier, ist wie gepanzert in diesem Kleid, ein Relikt aus der Vergangenheit. Deveureux tritt im selben Flaschengrün auf wie zuvor Leicester in MARIA STUARDA (der übrigens historisch betrachtet Deveureux' Stiefvater und Elisabettas Grossneffe - seine Grossmutter war die Schwester der Bolena - war). Sara, die siegreiche Rivalin um Deveureux' Liebe, ist in auberginefarbener Gehhose und weisser Bluse zu erleben, ihr Gemahl, der Herzog von Nottingham, in bodenständigem Braun. Auch auf der Bühne zu sehen (in der Eröffnungsszene, die erneut mit Porträtmalerei beginnt, und ganz am Ende) ist in einer stummen Rolle der Sohn Maria Stuardas, James, dem Elisabetta, die jungfräuliche Königin, die Krone Englands anvertraut. James wird als langhaariger, sehr feminin wirkender junger Mann gezeigt, vielleicht eine Anspielung auf seine überlieferte latente Homosexualität. Er bemächtigt sich schon mal des Gauntlets Elisabettas, das er auf dem Schreibtisch findet. Eine wichtige Rolle spielt auch der in MARIA STUARDA bereits aufgetauchte Brautkranz. Elisabetta sieht ihn auf ihrem immer noch vorne rechts stehenden Schreibtisch liegen, sie sieht ihn als Vision, getragen von ihrem eigenen Ebenbild. einer alten Frau mit langen strähnigen Haaren. Dorian Gray lässt grüssen! Aber verstecken tut sie ihr eigenes Aussehen unter einer Maske der ewigen Jugend, mit der klassischen roten Perücke und weit nach hinten fliehender Stirn - auch wie überliefert. Und viel hat sich seither ja nicht geändert: Emmanuel Macron oder Annalena Baerbock geben über hunderttausend Euro pro Jahr aus für Friseure und Kosmetiker"innen.
Gesungen wird diese Aufführung wiederum von den drei aus ANNA BOLENA und MARIA STUARDA bekannten Protagonist*innen: Edgardo Rocha in der Titelrolle, Elsa Dreisig als Elisabetta und Stéphanie d'Oustrac als Sara. Neu hinzugekommen ist Nicola Alaimo als Duca di Nottingham; so wird der Plot von einer Dreiecksbeziehung zu einer komplexen Vierecksbeziehung erweitert. Der Duca ist nämlich nicht bloss der gehörnte Ehemann, er ist auch - und das ist eventuell noch schwerwiegender - bitter enttäuscht von Roberto Devereux, mit dem ihm eine sehr enge Männerfreundschaft verband. Nicola Alaimo singt und gestaltet die Partie mit seinem fantastisch sitzenden Bariton mit grandioser Klangschönheit und Klangfülle, vermag Wut und Enttäuschung, aber auch Triumph (am Ende, wo er der Königin siegesgewiss entgegenposaunt Egli è spento!) mit einer stimmlichen Prachtentfaltung auszudrücken, die einen in Bann schlägt. Als seine Gemahlin Sara ersingt sich Stéphanie d'Oustrac einen verdienten Erfolg. Es scheint diejenige der drei Mezzopartien zu sein, die ihrer Stimme am besten liegt. Wunderbar zarte und trauerumflorte Phrasen singt sie zu Beginn, wo sie vergibt, wegen des Schicksals Rosamondes zu weinen, einer Romanheldin, dabei weint sie um ihren Geliebten Devereux, mit dem sie bereits verbunden war, bevor dieser Elisabettas Günstling wurde. Fantastisch gestaltet sie das grosse Duett mit Roberto in ihrem Schlafzimmer (dezent inszeniert von Mariame Clément: Sie lässt das Licht kurz löschen, wenn es wieder angeht, ziehen sich die beiden an und richten ihre Kleidung). Mit unter die Haut gehender Intensität gestaltet Stéphanie d'Oustrac die Verzweiflung Saras, wenn Nottingham sie der Untreue überführt (mit dem Schal) und sie gefangen setzt, so dass sie den rettenden Ring Devereux' nicht rechtzeitig vor der Hinrichtung Elisabetta als Robertos Pfand überbringen kann. Wie sie sich dann (zu spät) doch noch Elisabetta zu Füssen wirft, ist ganz grosse theatralische Kunst. Edgardo Rocha beigeistert erneut mit seinem stilsicheren, mühelosen und elganten Gesang und seinem einnehmenden Spiel. Wie Mariame Clément im Programmheft anmerkt, ist Devereux ja der intelligenteste der drei Tenöre in diesen drei Tudor-Opern Donizettis. Seine grosse Szene im Gefängnis, mit der Arie A ti dirò, fra gli ultimi singhiozzi, gehört zu den vielen Höhepunkten des herausragenden Abends. Elsa Dreisig krönte ihre bisherigen Darstellungen von Elisabettas Mutter Anna Bolena, der Elisabetta im Kampf mit Maria Stuarda nun mit der Elisabetta am Ende ihrer Regentschaft: Was für ein überwältigendes und reifes Porträt der für die damalige Zeit schon fast greisenhaften Regentin vermag die junge dänisch-französische Sängerin da zu zeichnen. Da sitzt jeder Ton, wird jede Phrase intelligent ausgekostet und textlich durchleuchtet, sie erreicht Anteilnahme an ihrem Schicksal, triumphiert mit leuchtender Kraft die Ensembles, macht bereits das Finale II zum Erlebnis und ist den Anforderungen sowohl an Innigkeit als auch an Fulminanz des Schlusses (Finale III) mit Vivi ingrato und Quel sangue versato mehr als gewachsen. Wenn sie auch noch den Mut aufbringt, die oktavierten Spitzentöne ein Mü länger zu halten, braucht sie sich vor prominenten Sängerinnen der Vergangenheit nicht zu verstecken.
Die Nebenfiguren haben in diesem Werk wirklich sehr wenig zu singen, sind aber für die Atmosphäre des Stücks eminent wichtig. Neben den beiden bereits erwähnten Lord Cecil (Luca Bernard) und Gualtiero Raleigh (William Meinert) sind noch Ena Pongrac (Page) und Sebastià Peris (Mitglied des Hauses Nottingham) zu erleben, die allesamt über wunderschöne Stimmen verfügen.
Mit perfekt ausbalancierter Pracht singt erneut der Choeur du Grand Théâtre (Einstudierung: Mark Biggins) und das Orchestre de la Suisse Romande legt sich unter Stefano Montanaris klar konturierender Leitung ganz vortrefflich ins Zeug. Vor der Kerkerszene sieht man Elisabetta wie suchend durch den Winterwald schreiten, dazu erklingt aus dem Graben ein zauberhaftes kurzes Intermezzo, angeführt von der superb intonierenden Solovioline. Zum Dahinschmelzen ergreifend. Wie auch der ganze Abend.
Man kann dem Grand Théâtre de Genève und vor allem den zwei Sängerinnen Elsa Dreisig und Stéphanie d' Oustrac und dem Sänger Edgardo Rocha nur zum Mut und zur Ausdauer gratulieren, diese drei Donizetti Opern als Trilogie innerhalb von je fünf Tagen aufzuführen. Das Experiment war nicht nur gelungen, es war spannend und bereichernd!
Inhalt:
London, 1601
Vorgeschichte: Roberto Devereux, Günstling Königin Elisabeths I. wartet in London auf seinen Prozess wegen Hochverrats, da er auf eigene Faust einen Waffenstillstand mit irischen Aufständischen geschlossen und Adlige in London zum Aufstand angestiftet hatte.
Oper:
Sara, die Herzogin von Nottingham, liebt den engsten Freund ihres Gatten, Roberto Devereux. Königin Elisabeth tritt ein und gesteht Sara, dass sie Roberto in einer Privataudienz empfangen wolle, wenn sie nicht an seiner Treue zu zweifeln habe. Dass sie ihre intimen Gefühle einer Rivalin offenbart, weiss sie natürlich nicht. Jedenfalls weigert sie sich, Robertos Todesurteil zu unterzeichnen. Doch bei der Begegnung mit Roberto verplappert sich dieser und spricht von seiner Liebe zu Sara. Elisabeth ist ausser sich vor Wut. Robertos Todesurteil scheint besiegelt. Der Herzog von Nottingham seinerseits weiss nicht um die Gefühle seiner Frau und erzählt Roberto, dass seine Frau an einem geheimen Kummer dahinwelke. Roberto trifft auf Sara. Er ist enttäuscht, dass sie sich mit Nottingham vermählt hatte. Sara ihrerseits wirft ihm Untreue vor, da er den Günstlingsring der Königin trage. Roberto wirft den Ring auf den Tisch, dafür bekommt er von Sara einen blauen Schal als Liebespfand.
Der Secretary of State, Lord Cecil, verkündet Robertos Todesurteil. Bei der Verhaftung Robertos findet man einen blauen Schal. Die Königin konfrontiert Roberto mit dem blauen Schal. Nottingham ist ebenfalls zugegen, erkennt den Schal seiner Gemahlin und stürzt sich auf Roberto. Die Königin unterzeichnet das Todesurteil. Roberto Devereux schweigt.
In einem letzten Brief an Sara bittet Roberto sie, der Königin den Günstlingsring zu bringen und damit sein Leben zu retten. Nottingham entreisst Sara den Brief und sperrt sie ein, bis das Urteil gegen Roberto vollstreckt sei. Roberto hofft im Gefängnis auf Saras Mission. Er wird jedoch von den Wächtern zum Richtblock geführt. Sara gelingt es doch noch, zur Königin vorzudringen, gibt ihr den Ring und gesteht, die Rivalin der Königin zu sein. Elisabeth ordnet einen Aufschub der Hinrichtung an – zu spät. Nottingham triumphiert darüber, dass der Liebhaber seiner Gemahlin tot sei. Elisabeth lässt beide abführen. Sie ist allein. In einer Schreckensvision erscheint ihr der enthauptete Roberto. Sie erklärt ihren Verzicht auf den Thron, übergibt die Insignien der Macht ihrem Neffen James, König von Schottland, und bricht, Robertos Ring an die Lippen gepresst, ohnmächtig zusammen.
Werk:
Unter allerschwersten persönlichen Umständen komponierte Donizetti seine (je nach Zählweise) ungefähr 57. Oper: Seine Eltern waren ein Jahr zuvor gestorben, seine Frau brachte ein totes Kind zur Welt, ein weiteres starb bei der Geburt und schliesslich starb auch seine junge Gemahlin drei Monate vor der Uraufführung der Oper. Der Librettist Cammarano sah sich zudem Plagiatsvorwürfen ausgesetzt, da Felice Romani ein Libretto über den CONTE D'ESSEX für Mercadante geschrieben hatte und Cammarano diesem anscheinend sehr genau folgte. ROBERTO DEVEREUX gilt als Musterbeispiel einer italienischen historischen Oper. Donizetti hatte zuvor schon zwei vom Inhalt und Ablauf her ähnliche Königinnen—Tragödien komponiert, nämlich ANNA BOLENA und MARIA STUARDA. Er konzentrierte sich dabei ganz auf das Aufeinanderprallen der Charaktere und die Ausrichtung der Konflikte der vier Protagonisten untereinander (äusserst anspruchsvolle Partien für Elisabeth, Sara, Nottingham und Roberto) und verzichtete auf „romantische“ Stimmungsschilderungen. Der Chor ist ganz auf passive Kommentierung reduziert, die Nebenfiguren dürfen Stichworte zur Erklärung der Handlung liefern. Die beiden Szenen am Ende des dritten Aktes gehören zu Donizettis eindringlichsten Kompositionen: Robertos flehende Kerkerszene und Elisabeths virtuose Schlussarie mit der halsbrecherischen Cabaletta, welche von einem hoch spannenden und expressiven Lamento eingeleitet wird.
Mit dieser quasi historisierenden Kammeroper war es Donizetti gelungen, ein Werk zu schreiben, welches den später von Verdi erhobenen Anspruch, nämlich die „musikalische ausgedrückte Wahrheit des Gefühls“, auf geradezu überwältigende Art vorwegnahm.
Musikalische Höhepunkte:
All'afflitto è dolce il pianto, Romanze der Sara, Akt I
L'amor suo mi fe'beata – Ah!ritorna, Cavatine und Arie der Elisabetta, Akt I
Donna reale, Duett Roberto-Elisabetta, Akt I
Da che tornasti, Duett Roberto-Sara, Akt I
Ecco l'indegno, Terzett und Finale Elisabetta-Roberto-Nottingham, Akt II
A te dirò...Bagnato il sen di lagrime, Arie des Roberto, Akt III
Vivi, ingrato ... Quel sangue versato, Aria finale, Akt III