Zürich, Opernhaus: LUCIA DI LAMMERMOOR; 26.10.2024
Oper in 3 Akten | Musik: Gaetano Donizetti | Libretto: Salvatore Cammarano | Uraufführung: 26. September 1835 im Teatro San Carlo, Neapel | Aufführungen in Zürich: letzte Vorstellung dieser Wiederaufnahme, 26.10.2024
Kurzkritik:
Manchmal ist es ja so, dass man die Inszenierung einer Oper beim ersten Ansehen nicht ganz so toll findet, man lange darüber nachdenkt, versucht zu entschlüsseln, irgendwie nicht damit klarkommt und sich das Ganze ein zweites Mal antut - und es dann besser findet. Mir erging es z.B. so bei Baumgartens DON GIOVANNI in Zürich. Aber leider nicht so beim zweiten Besuch von Tatjana Gürbacas Inszenierung der LUCIA DI LAMMERMOOR. Noch immer finde ich das Ganze zu hässlich, mit zu vielen (wahrscheinlich) bedeutungsschwangeren Hinweisen versetzt, zu wenig klar erzählt (wenn man schon eine Art “Vorgeschichte” in die Handlung einfliessen lässt). Ja, es ist eine “hässliche” Geschichte, wie hier eine Frau ausgenutzt und missbraucht wird. Ja, man soll diese Hässlichkeit auch zeigen dürfen. Aber wild zusammengewürfelte Kostüme, Uhren, die durchdrehen oder auch mal ganz fehlen, identische Räume (ok, mal etwas verschimmelter und ohne Uhr) mit einem Bett, das zum Grab wird auf der Drehbühne, machen die Handlungsweisen der Protagonisten leider nicht zugänglicher. So sehr ich Arbeiten von Frau Gürbaca zu schätzen glelernt habe (RIGOLETTO, WERTHER in Zürich, LA JUIVE in Frankfurt), bei der LUCIA DI LAMMERMOOR wurde ich auch beim zweiten Ansehen nicht warm.
Die Besetzung dieser Wiederaufnahme hingegen lässt keine Wünsche offen: Nina Minasyan sang eine berührende Titelfigur, schöne, strahlende Acuti, wunderbare Koloraturen, ohne ins Zirzensche abzudriften. Piotr Buszewski entlockte seinem angenehm hell timbrierten Tenor herrliche Phrasen voll jugendlicher Innigkeit und Emphase. Boris Pinkhasovich sang einen fiesen, verzweifelten Enrico, ohne jedoch zu chargieren, punktete mit seinem wunderbar warm stömenden Kavaliersbariton. Maxim Kuzmin-Karavaev verlieh dem Pater Raimondo mit seinem gerundet fliessenden Bass Gewicht. Daniel Kluge war ein intelligent gestaltender Wüstling Normanno. Raúl Gutiérrez hätte man gerne noch länger zugehört, leider wurde er von Lucia noch in der Hochzeitsnacht auf bestialische Art mittels Kehlenschnitt auf offener Bühne ins Jenseits befördert. Ann-Kathrin Niemczyk ergänzte das Ensemble der Protagonisten aufs Vortrefflichste und half mit, das berühmte Sextett im zweiten Akt zum Showstopper zu machen. Leonardo Sini leitete die Philharmonia Zürich mit grossem Feingefühl für Dynamik und Balance, so dass niemand auf der Bühne zu forcieren brauchte (im Gegensatz zur Premiere 2021, die noch zur Corona-Zeit stattgefunden hatte und ziemlich schnell wegen der Lautstärke des Tenors und des Baritons aus den Fugen geriet. Der Chor der Oper Zürich agierte diesmal auf der Bühne und sang hervorragend. Musikalisch war das eine gelungene Aufführung, szenisch gab's einige gelungene Ansätze neben viel Rätselhaftem.
Von mir erlebte Aufführungen von LUCIA DI LAMMERMOOR am Opernhaus Zürich:
ab 1977, 2 Vorstellungen: Nello Santi/Peter Rasky (sehr poetische Inszenierung); Sona Ghazarian und Karin Ott als Lucia, Jon Buzea und Luis Lima als Edgardo, Norman Mittelmann als Enrico
ab 1989, 3 Vorstellungen: Ralf Weikert/Robert Carsen (die grandiose Inszenierung war bis 2007 im Spielplan); Edita Gruberova, Marina Bolgan und Elena Mosuc als Lucia, Vesselina Kasarova als Alisa (!), Francisco Ariaza und Alejandro Ramirez als Edgardo, Alexandru Agache und Wolfgang Brendel als Enrico
ab 2008, 2 Vorstellungen: Nello Santi/Damiano Michielotto; Elena Mosuc und Nadine Sierra als Lucia, Vittorio Grigolo und Ismael Jordi als Edgardo, Massimo Cavalletti als Enrico
Das Werk:
Lucia di Lammermoor ist das Prunkstück der italienischen Opernromantik. Ein überragendes, unglaublich zeitüberdauerndes Libretto inspirierte Donizetti zu seinen wohl schönsten musikalischen Eingebungen. Lucia ist ganz im wörtlichen Sinne eine Lichtgestalt der Opernwelt, die unbefleckte Mörderin. Die seit der Uraufführung ungebrochene Popularität dieser Oper hat auch in der Literatur ihre Spuren hinterlassen, von Flauberts Madame Bovary über Tolstois Anna Karenina bis zu Lampedusas Il Gattopardo, in welchem das Tenorfinale aus Lucia di Lammmermoor den inneren Monolog des Don Fabrizio begleitet.
Dieses Tenorfinale stellt einen formgeschichtlichen Geniestreich dar, steht doch – im Gegensatz etwa zu Bellinis Hauptwerken – für einmal nicht die Primadonna mit einem Bravourstück am Ende einer Belkanto Oper, sondern der Primo Uomo in einer Szene, welche den Lebenspessimismus, der dieses Werk prägt, so berührend vermittelt.
Inhalt:
Höchst brisant und leider immer noch aktuell:
Verfeindete Familien, Zwangsheirat, Unterdrückung der Selbstbestimmung der Frau, zwielichtige Rolle der kirchlichen Würdenträger …
Lucia Ashton liebt Edgardo Ravenswood, den Todfeind ihres Bruders Enrico.
Edgardo muss aus politischen Gründen fliehen, doch die beiden Liebenden schwören sich beim letzten heimlichen Rendez-vous ewige Treue.
Enrico fängt sämtliche Briefe Edgardos an Lucia ab, ja er fälscht sogar Briefe, um Lucia von der Untreue ihres Geliebten zu überzeugen. Mit Hilfe des Priesters Raimondo zwingt er Lucia zur Heirat mit Arturo Talbot, von dem er sich politische Unterstützung erhofft.
Mitten in die Hochzeitszeremonie platzt Edgardo und überhäuft Lucia mit Vorwürfen des Verrats und der Untreue.
Lucia hat in der Hochzeitsnacht in zunehmender geistiger Umnachtung Arturo erstochen.
Enrico fordert Edgardo zum Duell bei den Gräbern der Ravenswoods. Edgardo erfährt von Lucias Tat und ihrem Wahnsinn. Die Totenglocke erklingt. Edgardo folgt der Geliebten durch Selbsttötung in den Tod.
Musikalische Höhepunkte:
Cruda funesta smania, Kavatine des Enrico, Akt I
Regnava nel silenzio, Auftrittsarie der Lucia, Akt I
Sulla tomba che rinserra … Verranno a te, Duett Lucia-Edgardo, Akt I
Se tradirmi tu potrai, Duett Lucia-Enrico, Akt II
Chi mi frena in tal momento, Sextett, Finale Akt II
Il dolce suono … Ardon gli incensi, Wahnsinnsszene der Lucia, Akt III
Tombe degli ave miei … Tu che a dio spiegasti l’ali, grosses Tenorfinale des Edgardo, Akt III