Zürich: LUCIA DI LAMMERMOOR, 20.06.2021
Oper in 3 Akten | Musik: Gaetano Donizetti | Libretto: Salvatore Cammarano | Uraufführung: 26. September 1835 im Teatro San Carlo, Neapel | Aufführungen in Zürich: 20.6. | 24.6. | 26.6. | 30.6.2021 und Wiederaufnahme in der Saison 21/22
Kritik:
Sowohl Emma Bovary als auch Anna Karenina (in Flauberts, respektive Tolstois Romanen) stopften sich bei Lucias als Wahnsinnsarie bekanntem Auftritt die Ohren zu und verliessen das Theater, weil es ihnen zu laut und zu schrill war. Das brauchte man gestern Abend in Zürich aufgrund der Sängerin nicht zu tun, denn Irina Lungu gestaltete diese Szene nicht als akrobatisches, exhibitionistisches Bravourstück für den Kehlkopf sondern bewegte mit dem Abdriften in den Wahnsinn durch Feinfühligkeit, Zartheit und Zerbrechlickeit, durch fein hingetupfte Koloraturen und zart vom Vibrato umflorte Phrasen. Wirkte sie in ihrem ersten Auftritt (Regnava nel silenzio) noch etwas zu forciert und unschön in der Attacke der Spitzentöne, steigerte sie sich im Duett mit dem Bruder, berührte mit ihrer Klage und ihrem Aufbegehren gegen die ihr vom Patriarchat zugedachte Opferrolle der Frau, auch in der Szene mit dem von der Regie eher blass gezeichneten Erzieher Raimondo (mit sonorer Sanftmut gesungen von Oleg Zibulko). Die Regisseurin Tatjana Gürbaca hatte sich viele sinnfällige Gedanken zur Gestalt der Lucia Ashton gemacht, pantomimische Szenen aus deren nur zum Teil glücklichen Kindheit mit Bruder Enrico, Normanno und Edgardo Ravenswood (inklusive Missbrauch durch einen als Stier verkleideten Mann und Rettung durch den jungen Edgardo) eingefügt. Auf dem Papier im Programmheft klingt das alles sehr überzeugend – in der szenischen Umsetzung im Bühnenbild von Klaus Grünberg und mit den Kostümen von Silke Willrett bestätigte sich dieser positive Eindruck der Konzeption leider nicht. Das Team arbeitet mit den üblichen Versatzstücken des als „Regietheater“ verunglimpften Inszenierungsstils an vielen westeuropäischen Bühnen: Sich zunehmend skelettierende Drehbühne mit nur leicht veränderten Räumen, eisernen Bettgestellen, Bahnhofsuhren, die zunehmend ver-rückt spielen, wirrer Kostümmix aus Kilt, Jogginghosen, Anzügen, Betten, die zu Gräbern werden, Totentänze und Polonaisen (während des Sextetts!!!) und Duelle mit mittelalterlichem Waffenarsenal in Zeitlupe, Hantieren mit Fotoapparaten und pseudo-lustigen Gruppenbildern. Die Oper ist eine irrationale Kunstform, klar. Wenn man die Irrationalität noch dermassen auf der Bühne verdoppelt, wird es absurd, berührt nicht und rüttelt schon gar nicht mit dem Kernthema auf. Die wenigen naturalistischen Einschübe (Lucia ermordet Arturo auf offener Bühne durch unzählige Messerstiche) machen das Ganze auch nicht besser. Es gibt einige wenige starke Bilder und Momente in der Aufführung, daneben aber auch viel (gewollte?) Unbeholfenheit, die an Laientheater (wegen Bescheidenheit der Mittel) erinnert.
Wie gesagt, bei der Interpretin der Lucia musste man sich die Ohren nicht zuhalten. Bei ihren Bühnenpartnern schon eher. So laut braucht man im relativ kleinen Opernhaus Zürich, das nur mit 100 Zuhörer*innen besetzt werden durfte, nicht zu brüllen. Sowohl Massimo Cavalletti als auch der (umjubelte) Piotr Beczala nutzten ihre Auftritte als Vehikel zur (zugegeben) eindrücklichen Stimmprotzerei. Beczala nimmt mit dieser Aufführungsserie Abschied von der Rolle des Edgardo und wendet sich dem schwereren Fach zu. Eine richtige Entscheidung. Seine Stimme gleisste zwar blendend, die Phrasierung und der grosse Atem waren bewundernswert – allein die charakterliche Differenzierung und die Sensibilität für den unglücklichen Edgardo blieben auf der Strecke. Ebenfalls im Dauerfortissimo sang Massimo Cavalletti (er war schon 2008 in der Rolle des Enrico in Zürich zu hören gewesen), wobei bei ihm dann auch in der effektvoll herausgebrüllten Kabaletta von Cruda, funesta samnia die Intonation nicht über alle Zweifel erhaben war. Immerhin fand er dann im schön gestalteten Duett mit der Schwester zeitweise zu beinahe tröstend-väterlichen Tönen, doch damit war es dann in der Gewitterszene schnell wieder vorbei. Hier wollten sich die beiden Kontrahenten wohl mit der Dezibelzahl - und nicht mit Waffen - gegenseitig niedermachen. Die Statisten (der Chor sang aus dem Off und wurde vom Kreuzplatz her mittels Glasfaserkabel zugeschaltet) in Klamotten, die wohl im Fundus zusammengekratzt waren, lagen zuerst wie tot auf dem Boden und erhoben sich dann zu den erwähnten absurden Zeitlupe-Duellen. Überhaupt hatten diese Statisten viel zu tun und lösten ihre Aufgaben innerhalb der gewöhnungsbedürftigen Konzeption mit Hingabe. Iain Milne sang einen forschen Normanno, durchtrieben und ein bisschen wollüstig (machte sich im Hochzeitsbild an Lucias Vertraute Alisa ran). Roswitha Christina Müller liess als Alisa mit kräftigem Mezzosopran aufhorchen. Arturo wurde von Andrew Owens mit schön timbriertem Tenor gesungen, von der Regisseurin leider der Lächerlichkeit preisgegeben.
Wie der Chor wurde auch die Philharmonia Zürich (pandemiebedingt) aus dem Probesaal am Kreuzplatz akustisch zugeschaltet. Der Tonmeister Michael Utz leistete hervorragende Arbeit, so dass man die schönen Feinheiten, welche die Dirigentin Speranza Scapucci zusammen mit dem Orchester herauarbeitete, wunderbar geniessen konnte. Die Wahnsinnsszene der Lucia wurde (wie in der Originalpartitur vorgesehen) von der Glasharmonika begleitet, welche von Thomas Bloch mit grosser Senisbilität gespielt wurde. Das Resultat war ein feinfühliges, ungemein spannende Reibungen ergebendes Duettieren mit der Sopranistin Irina Lungu.
Die Reaktion des (sehr kleinen) Premierenpublikums auf diese Neuproduktion war sehr verhalten. Wenig Zwischenapplaus und am Ende Jubelrufe eigentlich nur für Piotr Beczala, die restlichen Sänger*innen erhielten leider kaum mehr als freundlichen Applaus, das Inszenierungsteam gar deutliche Missfallenskundgebungen, obwohl man unter der Maske nicht schreien sollte.
Für die Wiederaufnahme im Mai/Juni 2022 sind Lisette Oropesa (Lucia) und Benjamin Bernheim (Edgardo) als Liebespaar besetzt.
Von mir erlebte Aufführungen von LUCIA DI LAMMERMOOR am Opernhaus Zürich:
ab 1977, 2 Vorstellungen: Nello Santi/Peter Rasky (sehr poetische Inszenierung); Sona Ghazarian und Karin Ott als Lucia, Jon Buzea und Luis Lima als Edgardo, Norman Mittelmann als Enrico
ab 1989, 3 Vorstellungen: Ralf Weikert/Robert Carsen (die grandiose Inszenierung war bis 2007 im Spielplan); Edita Gruberova, Marina Bolgan und Elena Mosuc als Lucia, Vesselina Kasarova als Alisa (!), Francisco Ariaza und Alejandro Ramirez als Edgardo, Alexandru Agache und Wolfgang Brendel als Enrico
ab 2008, 2 Vorstellungen: Nello Santi/Damiano Michielotto; Elena Mosuc und Nadine Sierra als Lucia, Vittorio Grigolo und Ismael Jordi als Edgardo, Massimo Cavalletti als Enrico
Das Werk:
Lucia di Lammermoor ist das Prunkstück der italienischen Opernromantik. Ein überragendes, unglaublich zeitüberdauerndes Libretto inspirierte Donizetti zu seinen wohl schönsten musikalischen Eingebungen. Lucia ist ganz im wörtlichen Sinne eine Lichtgestalt der Opernwelt, die unbefleckte Mörderin. Die seit der Uraufführung ungebrochene Popularität dieser Oper hat auch in der Literatur ihre Spuren hinterlassen, von Flauberts Madame Bovary über Tolstois Anna Karenina bis zu Lampedusas Il Gattopardo, in welchem das Tenorfinale aus Lucia di Lammmermoor den inneren Monolog des Don Fabrizio begleitet.
Dieses Tenorfinale stellt einen formgeschichtlichen Geniestreich dar, steht doch – im Gegensatz etwa zu Bellinis Hauptwerken – für einmal nicht die Primadonna mit einem Bravourstück am Ende einer Belkanto Oper, sondern der Primo Uomo in einer Szene, welche den Lebenspessimismus, der dieses Werk prägt, so berührend vermittelt.
Inhalt:
Höchst brisant und leider immer noch aktuell:
Verfeindete Familien, Zwangsheirat, Unterdrückung der Selbstbestimmung der Frau, zwielichtige Rolle der kirchlichen Würdenträger …
Lucia Ashton liebt Edgardo Ravenswood, den Todfeind ihres Bruders Enrico.
Edgardo muss aus politischen Gründen fliehen, doch die beiden Liebenden schwören sich beim letzten heimlichen Rendez-vous ewige Treue.
Enrico fängt sämtliche Briefe Edgardos an Lucia ab, ja er fälscht sogar Briefe, um Lucia von der Untreue ihres Geliebten zu überzeugen. Mit Hilfe des Priesters Raimondo zwingt er Lucia zur Heirat mit Arturo Talbot, von dem er sich politische Unterstützung erhofft.
Mitten in die Hochzeitszeremonie platzt Edgardo und überhäuft Lucia mit Vorwürfen des Verrats und der Untreue.
Lucia hat in der Hochzeitsnacht in zunehmender geistiger Umnachtung Arturo erstochen.
Enrico fordert Edgardo zum Duell bei den Gräbern der Ravenswoods. Edgardo erfährt von Lucias Tat und ihrem Wahnsinn. Die Totenglocke erklingt. Edgardo folgt der Geliebten durch Selbsttötung in den Tod.
Musikalische Höhepunkte:
Cruda funesta smania, Kavatine des Enrico, Akt I
Regnava nel silenzio, Auftrittsarie der Lucia, Akt I
Sulla tomba che rinserra … Verranno a te, Duett Lucia-Edgardo, Akt I
Se tradirmi tu potrai, Duett Lucia-Enrico, Akt II
Chi mi frena in tal momento, Sextett, Finale Akt II
Il dolce suono … Ardon gli incensi, Wahnsinnsszene der Lucia, Akt III
Tombe degli ave miei … Tu che a dio spiegasti l’ali, grosses Tenorfinale des Edgardo, Akt III