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Uster, Stadthofsaal: RAFF, TSCHAIKOWSKY, BRAHMS; 06.06.2025

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Brahms Sinfonien

Applausbilder: K.Sannemann, 6.6.2025

Romantische Sehnsucht 4.0: Unter diesem Titel spielt das SWISS ACADEMY ORCHESTRA (NZO | Neues Zürcher Orchester, ALSO | Alumni- & Sinfonie-Orchester Uni Bern & Friends) unter der Leitung von Martin Studer und mit dem Violinisten Alexandre Dubach die folgenden Werke:

Joachim Raff: Chaconne in d-Moll für grosses Orchester | entstanden 1873 in Wiesbaden | Pjotr Iljitsch Tschaikowsky: VIOLINKONZERT D-DUR | Uraufführung: 4. Dezember 1881 in Wien | Johannes Brahms: Sinfonie Nr. 1 in c-Moll, op.68 | Uraufführung: 4. November 1876 in Karlsruhe

Kritik: 

Bereits zum dritten Mal wurde die SWISS PHILHARMONIC ACADEMY (zusammen mit den Partnern ALSO | Alumni-&Sinfonieorchester Bern und NZO | Neues Zürcher Orchester) zum Europäischen Orchesterfestival eingeladen, das dieses Jahr in Avignon stattfand. Der SWISS PHILHARMONIC ACADEMY fiel dabei die Ehre zu, beim Eröffnungs- und beim Schlusskonzert dieses Festivals mitzuwirken. Im Anschluss daran begab sich die SWISS PHILHARMONIC ACADEMY auf eine Konzerttournee durch die Schweiz, mit Auftritten in Rolle (VD), Zürich, Bern und schliesslich gestern Abend in Uster. 

Mit drei Werken erwies die SWISS PHILHARMONIC ACADEMY unter der Leitung von Martin Studer der Musik der Hochromantik Referenz; mit ROMANTISCHE SEHNSUCHT 4.0 war denn auch das Konzert angekündigt worden. Begonnen wurde, nach einer kurzen, sympathischen Einführung durch den Dirigenten, mit einem Romantiker par excellence, der einst zu den populärsten Komponisten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zählte, dessen vielseitiges, grossartiges Schaffen aber leider heutzutage ziemlich an den Rand des Repertoires gedrängt wird, nämlich Joachim Raff. Der in der Schweiz aufgewachsene Joachim Raff hatte Bachs berühmte Chaconne in d-Moll für grosses Orchester transkribiert. Entstanden ist ein faszinierendes Stück Musik, das einerseits das barocke Gerüst bewahrt, es aber in ein hochromantisches Gewand kleidet. Die Holzbläser geben mit ihrem punktierten Rhythmus quasi das Mantra des Stücks vor, diesen Rhythmus, der 32 mal variiert wird. Der Dirigent Martin Studer leitet sein Orchester mit präziser Zeichengebung in diesem ruhig dahinziehenden Fluss, der nur ab und an klanglich etwas anschwillt. Die Betonung liegt ganz klar auf der rhythmischen Klarheit und der Transparenz des Klangbildes. Das ist nie zu dicklich, zu pastos oder zu schwer. Die wenigen klanglichen Massierungen wirken geschmackvoll und dezent ausmusiziert, auf kurze, majestätische Erhabenheit folgt gleich wieder ein Zurücksinken in feine Verästelungen. Das Orchester spielt wunderbar weich, biegsam und fokussiert auf Schönklang, gepaart mit Präzision. Man fragt sich am Ende: Wann wird endlich mal eine Raff-Renaissance eingeläutet werden? Er war nicht nur ein blendender Orchestrator (wie diese Chaconne und seine Tätigkeit für Franz Liszt bewies), sondern auch ein brillanter Komponist. 

Nach Raff folgte Tschaikowskys einziges Violinkonzert, einst vom berühmten Kritiker Eduard Hanslick gnadenlos verrissen („ Tschaikowskys Violinkonzert bringt uns zum ersten Mal auf die schauerliche Idee, ob es nicht auch Musikstücke geben könnte, die man stinken hört“) und nun eines der populärsten und heiss geliebtesten Konzerte für Violine und Orchester. Und wenn man dann noch einem Solisten vom Kaliber Alexandre Dubachs lauschen darf, ist das Glück vollständig. Dubach, im Alter von 9 Jahren bereits an der EXPO 64 in Lausanne Preisträger (1.Platz) am Concours national, Schüler von Yehudi Menhuin, Nathan Milstein und Salvatore Acardo, mit 15 Jahren Debüt mit Mendelssohns Violinkonzert zusammen mit dem Tonhalle-Orchester unter Armin Jordan, später auch Konzertmeister dieses Orchesters, begeistert mit seinem spannungsgeladenen Spiel, das die enormen Schwierigkeiten des Werks leicht und luftig erscheinen lässt, mit seiner Virtuosität, mit seinem Reichtum an Ausdrucksmöglichkeiten (die Kadenz ein atemberaubendes Wunder an klanglicher Finesse und gespickt mit irren Läufen, Doppelgriffen, Glissandi und Trillern) in Bann schlägt. Die Tongebung ist von bestechender Klarheit, er bevorzugt eine bejahende, affirmative Klanggestaltung, verbindet gekonnt Rauheit mit Schmelz, wofür der Dirigent Martin Studer ihm genügend Raum lässt. Man kann in Tschaikowskys berauschendem Klangbad schwelgen, wird von tänzerisch-virtuosen Passagen mitgerissen, der Bogen der Solovioline hüpft und springt mit bestechender, flinker Sicherheit über die Saiten, das ist musikantisch im besten Sinne des Worts und wenn der Dirigent zusammen mit dem hervorragend spielenden Orchester das Tempo dann leicht anzieht und der Satz zu einem fulminanten Ende kommt, gibt's auch für das Publikum kein halten mehr und es wird heftig applaudiert. Das ehrfürchtige Gebahren, zwischen den Sätzen eines Solokonzerts oder einer Sinfonie nicht zu applaudieren, hat sich ja erst in den letzten etwa 100 Jahren etabliert, davor war es gang und gäbe und ist auch in Ordnung so. Mit verträumter Sinnlichkeit wird die Canzonetta angegangen, ein liedhaftes Cantabile entsteht, mit wunderbarer Phrasierung und schönem Wechselspiel zwischen dem Orchester und dem Solisten. Ohne Einbussen an rhythmischer Exaktheit schwenken das mit jugendlichem Elan aufspielende Orchester und der Solist Alexandre Dubach in den Finalsatz ein, ein Vivacissmo, das seinem Namen alle Ehre erweist. Das ist von beinahe schwindelerregender Rasanz, ja gar leicht keck diabolisch gewürzt, ungezügelt, aber nie überhastet. Wunderschön herausgehoben leuchtet der elegische Mittelteil des Satzes, wo die Solovioline das Thema erst aufnimmt, nachdem es Oboe, Flöte und Fagott mit sehr schön gespielter Vorgabe eingeführt haben. Zum Schluss dann die Reprise mit dem beschwingten, positiv stimmenden Hauptthema, flott und virtuos umspielt von der Solovioline. Alexandre Dubach bedankte sich ausgiebig bei den jungen Musiker*innen des Orchesters und schliesslich auch noch beim Publikum mit dem einfühlsam und ruhig intonierten Andante aus Bachs zweiter Violinsonate.

Nach der Pause staunte man nicht schlecht, als der Solist Alexandre Dubach ganz bescheiden an einem Pult in der dritten Reihe der ersten Geigen Platz nahm und bei der Wiedergabe von Brahms' erster Sinfonie so das Orchester unterstützte! WOW! Hatte ich zuvor bei Raff und Tschaikowsky die Akustik im Stadthofsaal Uster als sehr angenehm empfunden, befiel mich doch nach der Pause beim massiger instrumentierenden Brahms doch das Gefühl, dass die Akustik des Saals nun an Grenzen stiess. Die Einleitung dieser Sinfonie (wegen ihrer langen Entstehungszeit auch „Brahms' Schmerzenskind“ genannt) mit ihren schicksalshaften Paukenschlägen ist immer wieder eindrücklich. Gerade in den suchenden, formal ringenden, schmerzerfüllten Passagen des Kopfsatzes gestaltet der Dirigent Martin Studer zusammen mit dem Orchester mit packender Eindringlichkeit. Die einzelnen, gewaltigen Klangblöcke werden sorgsam herausgearbeitet und gegeneinander gestellt. Im zweiten Satz glänzen die Holzbläser*innen mit mit wunderschönen, beruhigenden Kantilenen, die ersten Violinen legen sich berückend schön auf den Tutti-Teppich. Sehr luftig intoniert huscht das Alegretto e grazioso des dritten Satzes vorbei, mit erneut glänzend aufspielenden Holzbläser*innen und an einigen Stellen etwas problematischeren Einwürfen des Blechs. Die Hornrufe im Finalsatz hingegen lassen nichts an Feierlichkeit vermissen. Das Zerklüftete dieses Satzes, vom Dunkel der Weberschen Wolfsschlucht aus dem FREISCHÜTZ zum lichten Gipfel des Gebirges im Berner Oberland aufsteigend, wird mit gewaltiger orchestraler Emphase erlebbar gemacht („per aspera ad astra“). Der sich zur Jubelhymne steigernde Choral am Ende verfehlt seine mitreissende Wirkung nicht. Brahms' Ringen um seine erste Sinfonie kommt zum krönenden Abschluss. Mit der fulminant alle Effekte herrlich auskostenden Zugabe von Brahms' Ungarischem Tanz Nr. 5 beschliessen die SWISS PHILHARMONIC ACADEMY und der Dirigent Martin Studer diese hochklassige Wanderung durch romantische Befindlichkeiten der Seele.

Werke:

Der in Lachen (Kanton Schwyz) geborene Joachim Raff (1822-1882), dessen Werke zu den meistaufgeführten des 19. Jahrunderts zählten, wird leider heutzutage etwas stiefmütterlich behandelt. Dabei hatte der u.a. bei Franz Liszt in Weimar als Orchestratror vieler Kompositionen Liszts tätige Komponist eine Vielzahl von Sinfonien, Konzerten, Kammermusik und Opeprn hinterlassen, die durchaus mehr Beachtung verdienen würden. Die CHACONNE in d-Moll für grosses Orchester ist eine Bearbeitung von Johann Sebastian Bachs (1685-1750) Chaconne aus der 2. Partita für Violine solo (BWV1004). Raff meinte, die Polyphonie der Komposition rufe geradezu nach einer Bearbeitung für grosses Orchester.

Pjotr Iljitsch Tschaikowsky (1840-1893) konzipierte sein einziges Violinkonzert während eines Aufenthalts in Clarens am Genfersee, wohin er sich in depressiver Stimmung nach seiner gescheiterten Ehe zurückgezogen hatte. Begleitet wurde er von seinem Freund (Geliebten?) und Schüler, dem Geiger Josef Kotek. Die Idee, das Konzert Kotik zu widmen, verwarf er wieder, da er befürchtete, dass die Art seiner Beziehung zu diesem jungen Mann damit öffentlich ausgeschlachtet würde. Kotik lehnte es später auch ab, das Konzert zu spielen. Tschikowsky zog eine Widmung für den bekannten Geiger Leopold Auer in Betracht, doch dieser wies die Partitur als unspielbar zurück. Somit verstrich weitere Zeit und erst als Tschaikovsky einen anderen bekannten Geiger, Adolph Brodsky, kontaktierte und ihm das Konzert widmete, erlebte es in Wien unter der Leitung von Hans Richter seine nicht unbestrittene Uraufführung. Vor allem Eduard Hanslick ging mit dem Werk ganz fürchterlich ins Gericht („ es bringt uns auf die schauerliche Idee, ob es nicht auch Musikstücke geben könnte, die man stinken hört“). Welcher Musikkritiker würde sich heutzutage noch erlauben, solche Worte zu schreiben? Doch wie bei allen Meisterwerken üblich: Qualität vermag sich eben doch durchzusetzen, und so wurde im Verlauf der Zeit Tschaikowskys Violinkonzert zu einem der beliebtesten Stücke seiner Gattung und ist aus dem Repertoire nicht mehr wegzudenken. Selbst Auer bereute in späteren Jahren sein Urteil und zog das Werk immer wieder für seinen Unterricht heran. Unter seinen Schülern war auch Jascha Heifetz, der einer der ganz grossen Interpreten von Tschaikowskys Opus 35 wurde.

Johannes Brahms (1833-1897) hatte bereits 67 Werke veröffentlicht, als er seine erste Sinfonie endlich der Öffentlichkeit vorstellte. Da er ein äusserst selbstkritischer und ehrgeiziger Schaffer war, vernichtete er selbst viele seiner Entwürfe und Werke. So dauerte der Entstehungsprozess der ersten Sinfonie wahrscheinlich an die 16 Jahre. Dazu kam, dass das Geltungswesen der absoluten Musik und ihrer vermeintlichen formalen Enge durch Komponisten wie Liszt und Wagner zunehmend hinterfragt wurde. Die erste Sinfonie wirkt in Brahms' Opus wie eine Art Kirchenportal, die zweite fungiert als liebliches Andantino, die dritte als heiteres Scherzo und die vierte bildet das wuchtige Finale.

Clara Schumann, welcher Brahms immer wieder Entwürfe seiner Kompositionen zuschickte, war vom ersten Satz der ersten Sinfonie „betrübt und niedergeschlagen“ von dessen Schmerzlichkeit. Und tatsächlich, der Satz hat etwas Düsteres – aber in aller Melancholie auch Glanzvolles – an sich. Nach ruhigem Beginn entdeckt man im zweiten Satz etwas störend Bohrendes, oft hinter lieblichen Melodien der Holzbläser versteckt. Mehr Heiterkeit kommt im dritten Satz auf und den vierten hat Brahms selbst mit den Worten „Hoch auf'm Berge, tief im Tal, grüss' ich dich viel tausendmal“ an Clara Schumann gesandt. Es ist ein Satz voller Erhabenheit und Frische, Moll wendet sich zu Dur, Düsternis zu Jubel. Dieses Finale weist unverschleierte Parallelen zu Beethovens neunter Sinfonie auf.

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