Leipzig, Gewandhaus: SAARIAHO, REINECKE, BRAHMS, 03.05.2024
Werke der Weggefährten Reinecke und Brahms, Susanne Mälkki am Pult des Gewandhausorchestert, Solist: Katalin Kramarics, Flöte
Kaija Saariaho: LUMIÊRE ET PESANTEUR, Uraufführung: 22. August 2009 in Helsinki | Carl Reinecke: Konzert für Flöte und Orchester in D-Dur, op. 283 | Uraufführung: 15. März 1909 in Leipzig | Johannes Brahms: SInfonie Nr. 2 | Uraufführung; 30. Dezember 1877 in Wien unter Hans Richter | Dieses Konzert in Leipzig: 2.5. und 3.5.2024
Kritik:
KOMPLEXE BEZIEHUNGEN
Der 200. Geburtstag des langjährigen musikalischen Leiters und Direktors des Gewandhausorchesters und (leider) heutzutage unterschätzen Komponisten Carl Reinecke ist selbstredend eines Fokus dieses Orchesters wert. Spannenderweise wird Reineckes nun erfolgreichste Komposition, sein Flötenkonzert op.283 mit der zweiten Sinfonie von Johannes Brahms (ebenfalls dessen beliebteste) kombiniert. Die Beziehung zwischen den beiden Komponisten und Klaviervirtuosen wird im Programmheft ausführlich und überaus lesenswert erläutert. Auf der einen Seite der stets um gute Manieren bemühte Reinecke, auf der anderen Seite der knorrige, nicht um Beleidigungen seines Kollegen verlegene Brahms (“Reineckes Talent ist ein ganz, ganz kleines”). Nichtsdestotrotz findet sich in Reineckes Amtszeit als Leiter des Gewandhausorchesters der Name “Brahms” auf den Programmen des Gewandhauses nicht weniger als 130 mal! Gegen Ende von Brahms' Leben und nach der unwürdigen Entlassung Reineckes in Leipzig scheinen sich die beiden anlässlich von Reineckes triumphalen Konzerten im Wiener Musikverein wieder angenähert zu haben, denn ideell hatten sie stets auf derselben Seite gestanden.
Für Reineckes himmlisches Flötenkonzert war die ehemalige Soloflötistin des Gewandhausorchesters engagiert worden, Katalin Kramarics. Auf ihrer Goldflöte der Firma PEARL brachte sie Reineckes so wunderbar romantisch-spätromantisch klingende Partitur zusammen mit dem Gewandhausorchester unter der sorgsamen, unaufgeregten Leitung von Susanna Mälkki zum Leuchten. Mit dem Beginn, der sowas von zu Herzen geht, direkt vom Himmel herabzusteigen scheint, wird man entführt in eine klangliche Welt, die es im Entstehungsjahr 1909 in solcher Schönheit eigentlich gar nicht mehr geben durfte. Zwei Monate vor Reineckes Flötenkonzert wurde im benachbarten Dresden z.B. Richard Strauss’ ELEKTRA uraufgeführt… . Katalin Kramarics ließ Phrasen voller Agilität und Wohlklang aufblühen, dosierte Dynamik und Atem ganz fantastisch, verströmte in dem einzigen erwähnenswerten Werk für Soloflöte und Orchester der Romantik und Spätromantik einen zum Dahinschmelzen feinen Klang, mal munter, mal mystisch und verinnerlicht und mit immenser Gesanglichkeit erfüllt (im zweiten Satz), in welchem sie zusammen mit dem wunderbar spielenden Orchester der schmerzerfüllten Sehnsucht nachhorchte, bevor Susanna Mälkki alle zusammen in einer tröstlichen Ruhe versinken ließ, der Katalin Kramarics einen wunderschönen Vogelsang beisteuerte. Tänzerische Rhythmen, schnelle Läufe und virtuose Verzierungen prägten das Spiel der Flötistin im dritten Satz und zusammen mit dem Orchester steuerte sie auf den markanten, fulminanten Schluss zu. Riesenapplaus. Als Zugabe spielten das Gewandhausorchester und Katalin Kramarics Reineckes allerletzte Komposition, sein Opus 288, die Ballade für Flöte und Orchester. Ein Stück mit friedvollem Charakter, ein Schwanengesang eines Komponisten, der sich nie beirren ließ von zeitgenössischen Tendenzen und Moden, sich seines Erbes in der Nachfolge von Mendelssohn und Schumann sicher war.
Das trifft natürlich auch auf Johannes Brahms zu, dessen Werke aber einen viel höheren Stellenwert erreicht haben als Reineckes kompositorisches Schaffen. Dies zur Diskussion zu stellen oder zu hinterfragen hatte man an diesem Abend Gelegenheit. Vielleicht habe ich die Zweite von Brahms schon zu oft gehört, denn so richtig warm wurde ich damit gestern Abend nicht. Im ersten Satz vermisste ich den großen Bogen, das war mir allzu nüchtern durchbuchstabiert. Natürlich waren da schöne Momente zu erleben, etwa wenn die Violinen wunderbar sauber ein Hauptthema der Bläser umschmeichelten. Gerade das Holz war in blendender Verfassung. Dass Brahms heikle Passagen für die Hörner geschrieben hatte, ist hinlänglich bekannt. Selbst in einem Spitzenorchester wie dem Gewandhausorchester können sich in der Hornsektion mal kleine Unsauberkeiten und Hickser einschleichen. Im zweiten Satz ließen wiederum die Streicher mit wunderbaren emphatischen Aufschwüngen aufhorchen, die von Susanna Mälkki auch großartig disponiert wurden. Man bewunderte hier erneut ihre ruhige, überlegte Art des Dirigierens. Im Allegretto grazioso des dritten Satzes herrschte die pastorale Idylle vor, welche Orchester und Dirigentin fein auszugestalten vermochten. Im Finale kam dann endlich der Drive zum großen Bogen zum Vorschein. Das von Brahms kalkuliert Effekthascherische, Mitreißende wurde fulminant ausgespielt, hier stimmte der Spannungsaufbau mit beinahe überbordender Wirkung - der Jubel des Publikums war garantiert und verdient.
Aber noch mehr Jubel wäre angebracht gewesen für den Beginn des Konzerts, Kaija Saariahos Auskopplung LUMIÈRE ET PESANTEUR aus ihrem Oratorium LA PASSION DE SIMONE (zum Gedenken an das Leben der Philosophin Simone Weil). Die Klangsinnlichkeit, die Saariaho mit dieser irisierenden Partitur erweckt, ist wahrlich nicht von dieser Welt. Ein riesiger Orchesterapparat ist auf dem Podium versammelt, doch Saariaho setzte diesen mit einer klanglichen Finesse und Transparenz ein, die einen dank der fantastischen Wiedergabe durch das Gewandhausorchester und Susanne Mälkki in unendlichen Weiten versinken ließ.
Werke:
Kaija Anneli Saariaho (1952 - 2023) wurde in Finnland geboren. Nach dem Kompositionsstudium an der Sibelius-Akademie bildete sie sich an der Hochschule für Musik in Freiburg und an den Darmstädter Sommer-Kursen weiter. Bald jedoch war sie des strikten Serialismus ihrer Lehrer überdrüssig. Sie wollte Musik komponieren, die nicht von Verboten bestimmt war. Beeinflusst wurde sie von Tristan Murail und dessen Spektralmusik, worauf sie sich in computerbasierte Klangspektren vertiefte. Ihre eigenen Werke in den 1980er und 1990er Jahren waren geprägt von dichten Klangmassierungen in Verbindung mit vom Computer generierten Klängen. Es entstand eine Musik, die alle Sinne miteinbezog, farbenreich, lichtbezogen, Musik, die man gar riechen zu können vermeinte. Mit L'AMOUR DE LOIN schuf sie im Jahr 2000 eine Oper, die grosse Beachtung fand. In ihrer rund sechs Minuten dauernden Komposition LUMIÈRE ET PESANTEUR, die Esa-Pekka Salonen gewidmet ist, herrscht eine mystisch schwebende Atmosphäre vor, welche Licht und Schwere aushorcht. Salonen dirigierte die Uraufführung und nimmt das kurze Stück immer wieder in seine Programme auf.
Kaija Anneli Saariaho starb 2023 an einem Hirntumor.
Carl Heinrich Reinecke (1824-1910) wurde in Altona geboren, das damals noch zu Dänemark gehörte. Er wuchs also in unmittelbarer Nachbarschaft zu Johannes Brahms auf, der in Hamburg neun Jahre später zur Welt kam. Reinecke erhielt, vom dänischen König unterstützt, die Möglichkeit in Leipzig zu studieren. Dort lernte er neben Schumann natürlich auch Mendelssohn kennen, der als Gewandhaus-Kapellmeister Reinecke Auftrittsmöglichkeiten verschaffte. Auch war Reinecke als Klavierlehrer von Franz Liszts Töchtern tätig. Franz Liszt war es denn auch, der Reinecke Hector Berlioz empfahl. In Paris traf er dann Ferdinand Hiller wieder, den er aus seiner Leipziger Zeit kannte. Reinecke wurde am von Hiller geleiteten Konservatorium Köln Dozent für Klavier. Von Köln aus war es nicht weit nach Düsseldorf, wo die Schumanns nun wohnten. Dort traf Reinecke auch den jungen Brahms, dessen Arbeiten er förderte. Über Kapellmeisterstellen in Barmen und Breslau kam Reinecke wieder nach Leipzig, wohin er vom Gewandhausorchester als Leiter berufen worden war, eine Stellung, die er dann 35 Jahre lang innehatte. Daneben war er als Kompositions- und Klavierlehrer am Leipziger Konservatorium tätig und übernahm später auch dessen Leitung. Zu seinen Schülern zählten u.a. Edvard Grieg, Leoš Janáček , Ethel Smyth, Julius Röntgen, Isaac Albéniz, Emil Nikolaus von Reznicek, Frederic Delius und Felix Weingartner.
Als Komponist war Reinecke tief von seinen Vorbildern Schumann und Mendelssohn, sowie von Chopin geprägt. Obwohl Reinecke Brahms oft im Gewandhaus seine Werke dirigieren liess, und z.B. die Uraufführung von Brahms' Violinkonzert in Leipzig durchsetzte und dessen DEUTSCHENS REQUIEM zur Uraufführung brachte, stiess diese Hochachtung für Brahms und dessen Kompositionen nicht auf Gegenliebe: Der knorrige Brahms äusserte sich eher herablassend über Reineckes Kompositionen. Nichtsdestotrotz war es Reinecke, der zu Brahms' Sterbebett nach Wien eilte! Der feinsinnige Mensch und Komponist Reinecke hatte in seinen Kompositionen eine Neigung zum Idyllischen, manchmal auch zum Märchenhaften, immer voller Gemüt und meisterhaft im Umgang mit dem Kontrapunkt. Mit seinem Flötenkonzert in D-Dur schrieb er im hohen Alter von 84 Jahren eine Meisterwerk: Frische, ungebrochene melodische Fülle, ein elegischer Mittelsatz und ein schwungvoller Finalsatz kennzeichnen das wunderbare Flötenkonzert. Eine Musik, die sich am Beginn des 20. Jahrhunderts zurückträumt in die gute, alte Romantik, aber voll von Altersweisheit ist.
Johannes Brahms (1833-1897) schrieb vier Sinfonien. Die zweite in D-Dur entstand 1877, im Gegensatz zur ersten in relativ kurzer Zeit. Die Uraufführung unter Hans Richter in Wien war sehr erfolgreich. Der berühmt-berüchtigte Kritiker Eduard Hanslick schrieb z.B.: „ ... selten hat die Freude des Publikums an einer neuen Tondichtung so aufrichtig und warm gesprochen.“ Der erste Satz (Allegro non troppo) ist von einfallsreicher, beinahe pastoraler Melodik bestimmt. Eine schwermütige Celloweise prägt das Adagio des zweiten Satzes, untermalt mit sehnsüchtigen Hornrufen. Nach einer gewittrigen Stimmung verklingt der Satz friedlich und ruhig. Das Alegretto grazioso des dritten Satzes ist wohl der eingängigste Abschnitt der Sinfonie, voller Fröhlichkeit und wildem Galoppieren. Der Finalsatz (Allegro con spirito) ist ein wirbelndes Brio, mit schwärmerischen, naturseligen und ungarisch angehauchten Einsprengseln.