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St.Gallen, Theater: LA BOHÈME; 25.10.2025

Erstellt von Kaspar Sannemann | | La Bohème

Copyright: Ludwig Olah, mit freundlicher Genehmigung Theater St.Gallen

Mit der Neuproduktion von Puccinis LA BOHÈME kehrt eine der erfolgreichsten und beliebtesten Opern der Geschichte des Musiktheaters auf die St.Galler Bühne zurück!

Oper in vier Bildern | Musik: Giacomo Puccini | Libretto: Luigi Illica und Giuseppe Giacosa | Uraufführung: 1. Februar 1896 im Teatro Regio, Turin | Aufführungen in St.Gallen: 18.10. | 25.10. | 2.11. | 21.11. | 8.12. | 11.12. | 14.12. | 31.12.2025 | 5.1. | 9.1.| 20.1.2026

Kritik: 

Man kann es sich kaum vorstellen, dass die Kritiken über Puccinis LA BOHÈME nach ihrer Uraufführung so gemischt und teils gar vernichtend waren. Einer der Schreiberlinge sprach von Puccinis „Abdankung“, ein anderer (immerhin Turins führender Kritiker, Carlo Bersezio, meinte, LA BOHÈME werde „in der Geschichte unserer Oper kaum eine Spur hinterlassen ...“. Immerhin erhielt Puccini Lob vom Mailänder Corriere della sera („Puccini hat einen grossen Schritt vorwärts getan, die Musik fliesst lebhaft dahin, bald überschwänglich, bald herzzerreissend ...“) und ein Kritiker aus Genua schrieb: „Vielleicht bin ich Optimist, aber ich sage dieser Oper eine glänzende Laufbahn voraus.“ Recht sollte er haben! LA BOHÈME ist schlicht und einfach perfekt in ihrer Schilderung des Ambientes, der Emotionen der Protagonisten, dem melodischen Einfallsreichtum und der gekonnten, bühnenwirksamen Mischung und dem Timing von Sentiment und Humor. 

Der Dirigent der St.Galler Neuproduktion, Chefdirigent Modestas Pitrenas, bringt es im Programmheft auf den Punkt: „In dieser Oper gibt es keine einzige überflüssige Note, dafür allerdings einen Reigen an farbenreicher Instrumentierung.“ Und tatsächlich waren dies nicht bloss schöne Worte, sondern dieser Reigen an Farben wurde vom Sinfonieorchester St.Gallen unter seiner Leitung mit bestechender Transparenz umgesetzt. Da war quasi jedes Arpeggio der Harfe, jedes Zwitschern der Flöte, jeder Lauf der Klarinette, jede fein umgesetzte Phrase der Violinen kristallklar herauszuhören, ohne dass die Musik je akademisch sezierend wurde. Die gefühlvolle Emphase blieb stets gewahrt, und die Balance zwischen den herausragenden Stimmen der Solist*innen, des Chors und des Opernchors des Theaters St.Gallen und des exzellenten Kinderchors (einstudiert von Filip Paluchowski) auf der Bühne und dem sängerfreundlich unterstützenden und die Handlung facettenreich kommentierenden Spiel des herrlich aufspielenden Orchesters aus dem Graben war schlicht überragend.

Doch das Gesamtkunstwerk Oper bedeutet ja nicht bloss Musik und Stimmen, die Dimension des Theatralischen und Optischen ist genauso ausschlaggebend, um Musiktheater zum Hör- und Gefühlserlebnis zu machen. Dies ist in dieser St.Galler Neuproduktion mit überragender Stimmigkeit geglückt. Das Inszenierungsteam um Regisseurin Guta Rau (Bühne: Isabelle Kittnar, Kostüme: Melina Poppe, Licht: Andreas Enzler) hat eine wunderbare, beglückende und bewegende BOHÈME auf die Bühne gebracht, die Zeitlosigkeit des Meisterwerks betont und ein bestechendes Konzept ohne jegliche aufgemotzte, fragliche oder verstörende Mätzchen vorgelegt. Die Bühnengestaltung von Isabelle Kittnar ist aus mehreren, mobilen Fensterelementen zusammengesetzt. Im ersten Akt bilden die milchig trüben Scheiben das richtige Ambiente für das Künstleratelier dieser Wohngemeinschaft der vier lebensfrohen, aber armen Künstler. Die Nähe zum Bühnenrand und die Kleinräumigkeit dieser engen Dachwohnung bieten die Gelegenheit, die perfekte Personenführung der Regisseurin Guta Rau zu bewundern und der linke Rand bietet allerlei Möglichkeiten, Auf- und Abtritte hinter diesen Milchglasscheiben im perfekten Gegenlicht und mit dramaturgisch passender Schattenwerfung zu erleben. Die loftartigen Elemente schieben sich für den zweiten Akt, die Strassenszene vor dem Café Momus, auseinander, die Silhouetten der Bühnenelemente werden mit verschiedenfarbigen Lichtschläuchen akzentuiert, erhalten Gebäudecharakter und öffnen den Spielraum für die quirligen Szenen des vorweihnachtlichen Treibens im Quartier Latin. Vom Bühnenhimmel fahren Christbaumkugeln in metallischen Farben herunter. Bald schon entschweben Mimì und Rodolfo auf ihren Stühlen eng umschlungen nach oben (zum Himmel der Liebe ...), auch Marcello folgt ihnen nach und schliesslich auch Musetta, die von oben die Anweisungen zur Düpierung ihres reichen Liebhabers Alcindoro gibt. Die Stühle von Marcello und Musetta sind vorerst getrennt, erst nach und nach rücken auch sie im Bühnenhimmel näher zusammen, ein Sinnbild ihrer On- / Off- Beziehung. Das ist alles ganz wunderbar inszeniert, ohne überflüssigen Klamauk von Nebenhandlungen. Bevor sie entschwebt, singt Musetta ihre Walzerarie Quando me'n vo, und die Frauen aus dem Volk ahmen in der Choreografie dieses Verlangen der Frau nach Glück und Lust nach. Im dritten Akt, der im eiskalten Morgen an der Zollschranke spielt, sehen wir zwei Podeste mit den Glaselementen schräg nebeneinander stehen: Rechts das Gasthaus mit late night Party (Betrunken wanken heraus), wo Marcello mit seinen Freunden und Musetta nun quasi zu Hause sind, links der Auftrittsort Mimìs. Sie wird ihren Planeten, ihre Insel nicht verlassen; sie gehört nicht zu den Bohemiens. Das wird ganz besonders im grossen Duett mit Rodolfo in diesem Akt deutlich: Die beiden verlassen ihre getrennten Welten nicht, überwinden den Graben bloss durch das Berühren ihrer Hände über den Graben hinweg, doch die Blicke treffen sich nicht. Das geht unter die Haut! Auch Mimìs Kostüm bleibt die ganze Oper hindurch unverändert, ein Kostüm mit Anklängen ans neunzehnte Jahrhundert. Die andern sind vielfältiger gekleidet, entwickeln sich auch in der Art ihrer Kleidung, die wie aus dem Second Hand Laden mit individuellem Stil zusammengesetzt scheint: Rodolfo stets mit Wollmütze (erst gelb, dann schwarz) und dreiviertellangen Hosen und Wollstrümpfen, Marcello setzt im ersten Akt einen persönlichen Akzent mit dem violetten Mantels des Künstlers, später ist er im schwarzen Anzug mit Krawatte zu sehen, Schaunard erst im übermütigen Schottenrock als Musiker, dann in weit geschnittener, schwarzer Kleidung, Colline eher brav wie ein Sonntagsschüler, später im adretten siebziger Jahre Anzug mit Schlaghose. Musetta schliesslich ist stets billig aufreizend angezogen. Alles in allem eine sinngebende, kluge Kostümdramaturgie von Melina Poppe. Auch in diesem dritten Akt wird von der Semitranparenz der nun mit eiskaltem, grauen Licht ausgeleuchteten Fensterelemente Gebrauch gemacht. Wir sehen hinter den Scheiben einen Zeitlupentanz (Anlass zu Marcellos Eifersuchtsanfall) von Schaunard, Colline und Musetta, während Marcello mit Rodolfo vorne duettieren und Mimì auf dem zweiten Element krank und verzweifelt liebend ihre wunderbare Arie Donde lieta uscì al tuo grido d'amore singt. Für den vierten Akt befinden wir uns nicht wieder im Dachatelier, sondern in einer schicken Galerie. Marcello und Rodolfo scheinen Karriere gemacht zu haben, es findet eine Vernissage statt, die Kulturschickeria bewegt sich Cüpli schlürfend in Zeitlupe und bewundert Marcellos Gemälde, das zwar immer noch die Teilung des roten Meeres darstellt - doch nun in schickem Schwarz - auf das Marcollo, ganz angesagter Aktionsmaler, rote Farbkleckse wirft, worauf auch der Hintergrund der Bühne nun in in Andreas Enzlers wunderbarem Lichtdesign in dekoratives Rot getaucht wird. Der einsame Tod Mimìs ist in diesem Ambiente nur noch ergreifender, erschreckend die Teilnahmslosigkeit der Gäste der Vernissage, geradezu erschütternd die Reaktion Rodolfos, wo er realisiert, dass Mimì tot ist. Auch wenn man LA BOHÈME schon Dutzende Male gesehen hat, fährt dieser Moment stets aufs Neue total ein, Tränen steigen hoch. So auch in dieser einfühlsamen und spannungsgeladenen Realisation durch das Inszenierungsteam.

Gesungen wird das alles vom hochkarätigen und sich homogen auf hohem Niveau präsentierenden Ensemble des Theaters St. Gallen mit überragender stimmlicher und darstellerischer Gestaltungskraft. Sylvia D'Eramo ist eine Mimì mit berückenden Piani, die sich mit Gänsehaut erregender Emphase in den Gefühlsstrudel dieser jungen Frau zu stürzen vermag. Brian Michael Moore gibt den Rodolfo mit lichter, höhensicherer und klar artikulierender Stimme und schön ausgestaltetem Legato, lausbübisch in den komischen, mit der gebotenen Ernsthaftigkeit in den tragischen Szenen. Der Marcello von Vincenzo Neri kann die unterschiedlichen Facetten seines Charakters mit fantastischer Plastizität über die Rampe bringen, seine Eifersucht, seinen Humor, sein tiefe Freundschaft und Verbundenheit mit Rodolfo. Seine Baritonstimme klingt einfach grossartig, leicht und doch mit solidem Fundament. Die Musetta von Kali Hardwick steht ihm punkto Bühnenpräsenz und stimmlicher Souveränität in nichts nach, gestaltet ihren Wunschkonzerthit Quando me'n vo mit perlender Brillanz. Vincenzo Neri und Kali Hardwick stellen ein stimmlich perfektes Paar dar, auch wenn sie sich streiten und Eifersüchteleien überhand nehmen, spürt man doch eine innige Verbundenheit. Felix Gygli lässt als Schaunard mehr als aufhorchen: Was für ein klug gestaltender Sänger ist denn das! Von ihm (immerhin Kathleen-Ferrier-Award Preisträger und Einspringer am Opernhaus Zürich als ELIAS) wird man in Zukunft bestimmt noch viel Hörenswertes erleben dürfen. Genauso überzeugend gestaltet der Bass Jonas Jud die Rolle des Colline, singt mit fein empfundener Sensibilität die Arie Vecchia zimarra, senti (der Abschied von seinem Mantel, den er veräussern will um Medikamente für Mimì zu kaufen und der ein Ausstellungsstück in der Galerie darstellt). Grossartig gestaltet auch Riccardo Botta die beiden Rollen Benoît und Alcindoro. Gerade die Szene mit dem Hausmeister Benoît ist ganz stark inszeniert. Barna Kovács (Parpignol), Robert Virabyan (Sergeant) und Frank Uhlig komplettieren das wunderbare Ensemble bestens.

Der LA-BOHÈME-Stoff beweist mit dieser starken Aufführung einmal mehr, dass er (entgegen der Meinung einiger Kritiker der Uraufführung) unsterblich ist – auch in der Musical-Version RENT, die 2024 in St.Gallen zu erleben war, war man begeistert und berührt. Vielleicht könnte man doch auch mal wieder die gleichzeitig mit Puccinis Vertonung entstandene Oper von Ruggiero Leoncavallo zur Diskussion stellen, die 2009 erfolgreich im Theater Luzern zu sehen gewesen war. Die hat nämlich auch durchaus ihre Meriten!

Inhalt:

In einer Mansarde im Quartier Latin hausen die vier (Lebens-)Künstler Rodolfo, Marcello, Schaunard und Colline. Ihre Armut meistern sie mit zum Teil bissigem Humor. Es ist Weihnachtsabend. Der Musiker Schaunard ist zu etwas Geld gekommen und lädt seine Freunde ins Café Momus ein. Rodolfo, der Dichter, will noch schnell einen Artikel beenden und verspricht, den Freunden gleich zu folgen. Da klopft seine Nachbarin Mimi an der Tür und bittet um Feuer. Als Mimi in der Dunkelheit auch noch ihren Schlüssel verliert, nutzt Rodolfo die Gelegenheit und nähert sich ihr sachte an. (Wie eiskalt ist dies Händchen...). In einem leidenschaftlichen Duett spürt man das Aufflammen ihrer Liebe. Sie folgen den Freundin ins Café. Da herrscht eine ausgelassene Stimmung. Marcellas frühere Geliebte Musetta taucht mit einem älteren Verehrer auf. Marcello reagiert eifersüchtig. Musetta spielt mit diesen Gefühlen, wird den Alten los, wirft sich Marcello wieder in die Arme und lässt den Alten am Ende gar noch die Rechnung der Künstler bezahlen. Einige Zeit später, nach wechselhaften Wochen für die beiden Paare, befinden wir uns vor einem Gasthaus an der Zollschranke. Mimis Krankheit hat sich verstärkt, Rodolfo hat sich von ihr getrennt, was sie sich nicht erklären kann. Mimi sucht den Rat von Marcello. Als Rodolfo auftaucht, versteckt sie sich und belauscht die beiden Freunde. Da erfährt sie, dass nicht eigentlich die Eifersucht Rodolfos der Trennungsgrund war, sondern seine Hilflosigkeit gegenüber ihrer Krankheit. Mimis Husten verrät ihr Versteck. Die beiden schliessen sich erneut in die Arme, beschliessen jedoch, sich erst im Frühling zu trennen, da der Winter zur Einsamkeit nicht tauge. Marcello und Musetta streiten sich mal wieder im Hintergrund.

Im letzten Bild befinden wir uns wieder in der Mansarde des Anfangs und treffen auf die in Liebesdingen so unglücklichen Freunde Rodolfo und Marcello. Bei einem bescheidenen Mahle dominiert trotz aller Sorgen die Heiterkeit. Doch mit dem Auftauchen Musettas ändert sich alles dramatisch. Musetta bringt die todkranke, schwache Mimi mit. Alle kümmern sich rührend um sie, der Philosoph Colline nimmt gar Abschied von seinem geliebten Mantel und will ihn im Leihhaus versetzen, um Geld für den Arzt zu bekommen. Alle gehen raus, um Geld zu besorgen, Mimi und Rodolfo bleiben allein und versichern sich gegenseitig ihrer Liebe. Musetta und die anderen kommen zurück, Mimi erhält einen Muff, um ihre kalten Hände zu wärmen. Sie verstirbt - Rodolfo realisiert dies als Letzter. Mit seinen durchdringenden Schreien der Verzweiflung endet die Oper.

Werk:
In eindringlichen, atmosphärisch dichten Bildern zeichnen Puccini und seine Librettisten Szenen aus dem Leben junger Menschen. Diese träumen von Freiheit und Selbstverwirklichung, sie lieben und sie streiten sich, sie kämpfen mit Humor ums Überleben. Doch als eine von ihnen tödlich erkrankt, wird aus dem sorglosen Leben bitterer, tragischer Ernst.
Puccini hat dazu eine seiner farbenprächtigsten Partituren komponiert, lyrisch-sentimentale Stellen verschmelzen mit humorvoll kontrastierenden Passagen, die Personen sind überaus stimmig in kurzen, prägnanten Ariosi charakterisiert. Im letzten Bild verschmelzen all diese Leit- und Erinnerungmotive, der Orchesterklang wird aber zugleich dünner und führt so zum ergreifenden Schluss.

Puccinis "Rivale" Leoncavallo hat den Stoff von Murger Scènes de la vie de bohème ebenfalls vertont. Sein Werk erschien ein Jahr nach Puccini auf der Bühne, erreichte jedoch nie die Popularität von Puccinis Werk, obwohl er an sich näher bei der Vorlage blieb und seine Oper weniger von Sentimentalität gezeichnet ist.

Die Uraufführung unter der Leitung von Arturo Toscanini war kein besonderer Erfolg, die Kritik bezeichnete die Musik als oberflächlich. Erst nach der Aufführung in Palermo, im April 1896, setzte das dem Verismo nahestehende Werk zu seinem bis heute ungebrochenen Siegeszug über die Bühnen der Welt an.
Die Diskographie umfasst über hundert Einspielungen auf Schalplatte, CD und DVD. Allein die berühmtesten Interpreten der Mimi (Mirella Freni) und des Rodolfo (Luciano Pavarotti) haben das Werk über zwölf Mal mit verschiedenen PartnerInnen eingespielt. Referenzaufnahmen sind die Einspielungen unter Herbert von Karajan von 1972 (Freni/Pavarotti) und unter Thomas Beecham (de los Angeles/Björling).
Musikalische Höhepunkte:
Che gelida manina, Arie des Rodolfo, Bild I
Si, mi chiamano Mimì, Arie der Mimi, Bild I
O soave fanciulla, Duett Mimì-Rodolfo, Bild I
Quando m’en vo, Walzer der Musetta, Bild II
Addio dolce svegliare, Duett Mimì-Rodolfo mit Hintergrundgezänk Marcello-Musetta, Bild III
Vecchio zimarra, senti, Arie des Colline, Bild IV
O Mimì, tu più non torni, Arioso des Rodolfo, Bild IV

Karten

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