Zum Hauptinhalt springen Skip to page footer

St.Gallen: LA BOHÈME, 21.10.2017

Erstellt von Kaspar Sannemann | | La Bohème

Oper in vier Bildern | Musik: Giacomo Puccini | Libretto: Luigi Illica und Giuseppe Giacosa | Uraufführung: 1. Februar 1896 im Teatro Regio, Turin | Aufführungen in S.Gallen: 21.10. | 28.10. | 1.11. | 5.11. | 6.11. | 19.11. | 21.11. | 24.11. | 28.11. | 3.12. | 16.12. | 29.12.2017 | 4.1. | 17.1. | 30.1. | 25.2. | 4.3.2018

Kritik:

Er gehört zweifelsohne zu den ergreifendsten Opernmomenten der gesamten Literatur, der Schluss von Puccinis LA BOHÈME, diese Szene, in der alle von Rodolfos Freunden wissen, dass Mimì ihr Leben ausgehaucht hat, nur Rodolfo nicht. Und wenn er es dann realisiert, seine Erschütterung und Verzweiflung musikalisch von Puccini so wirkungsvoll eingefangen wird, dann kann man sich auch nach gut zwei Dutzend erlebten BOHÈME – Aufführungen der emotionalen inneren Aufruhr, der Tränen kaum erwehren. Das war auch gestern Abend in St.Gallen der Fall – man spürte die Ergriffenheit des Premierenpublikums deutlich, der Schlussapplaus war erst relativ zurückhaltend steigerte sich dann jedoch allmählich zum Begeisterungssturm für alle Ausführenden. Er war aber auch berührend und bewegend inszeniert, dieser Moment, in dem die Gesangsstimmen und das Orchester schweigen und nur ein paar geflüsterte Sätze zu vernehmen sind, bevor sich dann die Musik ins Herz bohrt, begleitet von Rodolfos verzweifeltem, finalem Ausbruch. Das Inszenierungsteam Renaud Doucet (Regie) und André Barbe (Ausstattung) drehte nun durch die Einbettung der Geschichte um Rodolfo und Mimì in eine Rahmenhandlung einer an Krebs erkrankten jungen Frau aus der Gegenwart noch zusätzlich an dieser emotionalen Schraube. Begonnen wird auf einem Marché des Puces in Paris in der Gegenwart, mit Touristen, einer schwarzen Strassensängerin und einer jungen Frau, welche durch die feil gebotenen Waren stöbert, ein antikes Grammophon entdeckt. Die ersten Takte aus LA BOHÈME erklingen aus dem Grammophon, die Frau (sie nimmt ihr Kopftuch ab, man sieht deutlich die Folgen der Chemotherapie) träumt sich in die Scènes de la vie de bohème hinein, sieht sich selbst in der Rolle der kranken Mimì. Das ist alles fantastisch gekonnt gemacht, dieser fliessende Übergang von der Gegenwart in die Vergangenheit. Der Regisseur und der Ausstatter verlegen die eigentliche Handlung der Oper ins Paris der Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts, in die Zeit, in der viele Künstler und junge Menschen, welche nach dem ersten Weltkrieg nicht in ihre Heimatländer zurückzogen, sondern in Kontinentaleuropa blieben und insbesondere das aufregende und freizügige Leben in Paris geniessen wollten. Sie wurden von Gertrude Stein als „die verlorene Generation“ bezeichnet, Künstler und Schriftsteller wie Hemingway, T.S. Eliott, F.Scott Fitzgerald, Beckett, Joyce, Picasso, Braque, Giacometti (eine seiner Skulpturen war auch auf der Bühne zu sehen) u.v.a.m. gehörten zu dieser Gruppe. In diesem Setting nun entwickeln Doucet und Barbe mit einer Plastizität und Plausibilität sondergleichen die tragische Geschichte um Mimì und Rodolfo. Dabei gelingt ihnen eine Personenführung von geradezu beispielhafter Intensität und Genauigkeit, da ist bis in die kleinsten Nebenfiguren und die Rollen der Menschen im Chor einfach alles mit einer überragenden Stimmigkeit und Detailgenauigkeit inszeniert, die von Beginn weg fesselt. (Es handelt sich um eine Koproduktion mit der Scottish Opera Glasgow, für die szenische Einstudierung in St.Gallen war Peter Lorenz verantwortlich.) Dem Theater St.Gallen ist es gelungen, die Rollen dieser jungen, ausgelassenen Künstler mit herausragenden, ihre Charaktere mit immenser Genauigkeit auslotenden Sängerinnen und Sängern zu besetzen. Ein solch intensiv turtelndes und bis über beide Ohren verliebtes Paar, wie es Sophia Brommer (Mimì) und Leonardo Capalbo (Rodolfo) darstellen, habe ich persönlich noch nie in den ersten zwei Bildern einer BOHÈME erlebt. Das Spiel dieser beiden ist von einer begeisternden Glaubwürdigkeit, genauso wie das aller anderen Protagonisten. Vor allem David Stout als Marcello spielt den Maler umwerfend gut, die Achterbahn seiner Gefühle zu Musetta wunderbar transportierend, dabei immer der überbordende Spassmacher, vom Urinieren auf sein Gemälde von der Teilung des Roten Meeres (wobei das überhaupt nicht provozierend ist, sondern der Regisseur hat den Text einfach wortgetreu umgesetzt, Marcello „ersäuft“ den Pharao auf dem Bild ...) bis zur ausgelassenen Gavotte, welche er zusammen mit Rodolfo im vierten Bild tanzt. Seine Musetta wird als Josephine Baker – Verschnitt dargestellt. Jeanine de Bique macht das überragend (sie interpretiert auch schon die Strassensängerin in der eingefügten Rahmenhandlung), spielt verführerisch und augenzwinkernd mit ihren Reizen in der Verführungsszene im zweiten Bild (ein table dance an der Stange eines Karusselpferdchens). Im dritten Bild streitet sie sich herrlich selbstbewusst mit dem eifersüchtigen Marcello und im letzten Bild ist sie die rührend besorgte Freundin der Mimì. Auch die beiden anderen Künstler dieser WG, Colline und Schaunard, erhalten durch Tomislav Lucic und David Maze prägnantes Profil. Doch die erwähnten Interpreten sind nicht nur überragende Darsteller, nein sie singen auch vortrefflich. Sophia Brommer begeistert mit ihren wunderbaren Piani und Diminuendi. Im ersten Bild klingt ihre Stimme im mezzoforte bis forte Bereich noch etwas kühl, doch dieser Eindruck legt sich zusehends und man erfreut sich an einer klug die dynamischen Bandbreiten auskostenden vokalen Interpretation. Sehr gut passt der weich und samten ansetzende Tenor von Leonardo Capalbo als Rodolfo zu ihr, kein tenoral protzender Schluchzer-Held, sondern ein ehrlich und geradlinig singender junger Mann, mit wunderbarer Phrasierung und sicherer, unprätentiöser Höhe. David Stout als Marcello verfügt über einen satten, voluminösen und charaktervollen Bariton, bei ihm stimmt einfach alles, jede Regung des Gefühls findet ihren Ausdruck in der gesanglichen Umsetzung. Jeanine de Bique singt ihr Chanson im Vorspiel (vom Akkordeon begleitet) mit herrlich jazzigem Einschlag, den Walzer auf dem Karusselpferdchen mit einschmeichelnder, warmer Farbgebung und gekonnten Stakkati – Lachern und findet im Gebet im letzten Bild zu berührender Innigkeit. David Maze verleiht dem Schaunard durch viel Witz und Variabilität Gewicht und Tomislav Lucic als trotteliger Philosoph Colline nimmt bewegend Abschied von seinem alten Mantel. Paulo S.Medeiros füllt seine beiden Partien (als altersgeiler Vermieter Benoît und als reicher Verehrer Musettas, Alcindoro) mit komödiantischer Kunst überzeugend aus. Die Farbigkeit des zweiten Bildes wird durch den grossartig singenden und fantastisch agierenden Chor, Opernchor und Kinderchor des Theaters St.Gallen (Einstudierung: Michael Vogel) bereichert. Im Orchestergraben leuchten ebenfalls die wunderbaren Farbschattierungen der so kunstvoll instrumentierten Partitur Puccinis auf, welche der Dirigent Hermes Helfricht den Musikerinnen und Musikern des Sinfonieorchesters St.Gallen entlockt. Er versteht es, sowohl die emotionalen Momente als auch die humoristisch überbordenden Szenen mit durchdachter Agogik zu evozieren. Ein besonderes Lob gebührt dem Akkordeonspieler Raphael Brunner. Seine Variationen des Musetta-Walzers sind eine kleine Preziose in der Umbaupause zum Schlussbild. André Barbes Bühne und die Kostüme aus der Zeit der Zwanzigerjahre und der Gegenwart ergeben eine augenzwinkernde Postkartenkulisse einer Ecke im Quartier Latin, mit wunderbar stimmiger Flohmarktatmosphäre, die sich schnell in Künstler-WG, Kneipen-Szene und winterliche Zollschranke verändern lässt. Der transparente Zwischenvorhang mit dem Blick über die Dächer der Grossstadt wird im vierten Bild mit frappanter Wirkung eingesetzt. Einzig der Beginn des dritten Bildes an der Zollschranke wollte sich mir szenisch nicht recht erschliessen: Da wurde man wieder kurz in die Gegenwart versetzt, mit Obdachlosen, Security – Männern, streikenden Milchbäuerinnen und einem Karl Lagerfeld, der mit zwei leicht bekleideten Models aus der heruntergekommenen Gaststätte an der Zollschranke kommt. Doch dieser Ausrutscher war dann zum Glück schnell vorbei, und das ergreifende Terzett Mimì – Rodolfo – Marcello, das sich dann mit der dazutretenden Musetta zum Quartett erweiterte, konnte seine volle Wirkung entfalten.

Am Ende stirbt Mimì auf dem Trödler – Sofa in der WG der Künstler, die Freunde und Musetta stehen trauernd vor dem Sofa, treten weg – doch da liegt niemand mehr, nur ein heller Scheinwerfer beleuchtet die Stelle, an der Mimì ihr Leben ausgehaucht hatte. Stark!

André Barbe und Renaud Doucet widmen diese Inszenierung „allen an Krebs erkrankten Menschen, die viel zu früh aufhören mussten zu träumen.“

Inhalt:

In einer Mansarde im Quartier Latin hausen die vier (Lebens-)Künstler Rodolfo, Marcello, Schaunard und Colline. Ihre Armut meistern sie mit zum Teil bissigem Humor. Es ist Weihnachtsabend. Der Musiker Schaunard ist zu etwas Geld gekommen und lädt seine Freunde ins Café Momus ein. Rodolfo, der Dichter, will noch schnell einen Artikel beenden und verspricht, den Freunden gleich zu folgen. Da klopft seine Nachbarin Mimi an der Tür und bittet um Feuer. Als Mimi in der Dunkelheit auch noch ihren Schlüssel verliert, nutzt Rodolfo die Gelegenheit und nähert sich ihr sachte an. (Wie eiskalt ist dies Händchen...). In einem leidenschaftlichen Duett spürt man das Aufflammen ihrer Liebe. Sie folgen den Freundin ins Café. Da herrscht eine ausgelassene Stimmung. Marcellas frühere Geliebte Musetta taucht mit einem älteren Verehrer auf. Marcello reagiert eifersüchtig. Musetta spielt mit diesen Gefühlen, wird den Alten los, wirft sich Marcello wieder in die Arme und lässt den Alten am Ende gar noch die Rechnung der Künstler bezahlen. Einige Zeit später, nach wechselhaften Wochen für die beiden Paare, befinden wir uns vor einem Gasthaus an der Zollschranke. Mimis Krankheit hat sich verstärkt, Rodolfo hat sich von ihr getrennt, was sie sich nicht erklären kann. Mimi sucht den Rat von Marcello. Als Rodolfo auftaucht, versteckt sie sich und belauscht die beiden Freunde. Da erfährt sie, dass nicht eigentlich die Eifersucht Rodolfos der Trennungsgrund war, sondern seine Hilflosigkeit gegenüber ihrer Krankheit. Mimis Husten verrät ihr Versteck. Die beiden schliessen sich erneut in die Arme, beschliessen jedoch, sich erst im Frühling zu trennen, da der Winter zur Einsamkeit nicht tauge. Marcello und Musetta streiten sich mal wieder im Hintergrund.

Im letzten Bild befinden wir uns wieder in der Mansarde des Anfangs und treffen auf die in Liebesdingen so unglücklichen Freunde Rodolfo und Marcello. Bei einem bescheidenen Mahle dominiert trotz aller Sorgen die Heiterkeit. Doch mit dem Auftauchen Musettas ändert sich alles dramatisch. Musetta bringt die todkranke, schwache Mimi mit. Alle kümmern sich rührend um sie, der Philosoph Colline nimmt gar Abschied von seinem geliebten Mantel und will ihn im Leihhaus versetzen, um Geld für den Arzt zu bekommen. Alle gehen raus, um Geld zu besorgen, Mimi und Rodolfo bleiben allein und versichern sich gegenseitig ihrer Liebe. Musetta und die anderen kommen zurück, Mimi erhält einen Muff, um ihre kalten Hände zu wärmen. Sie verstirbt - Rodolfo realisiert dies als Letzter. Mit seinen durchdringenden Schreien der Verzweiflung endet die Oper.

Werk:
In eindringlichen, atmosphärisch dichten Bildern zeichnen Puccini und seine Librettisten Szenen aus dem Leben junger Menschen. Diese träumen von Freiheit und Selbstverwirklichung, sie lieben und sie streiten sich, sie kämpfen mit Humor ums Überleben. Doch als eine von ihnen tödlich erkrankt, wird aus dem sorglosen Leben bitterer, tragischer Ernst.
Puccini hat dazu eine seiner farbenprächtigsten Partituren komponiert, lyrisch-sentimentale Stellen verschmelzen mit humorvoll kontrastierenden Passagen, die Personen sind überaus stimmig in kurzen, prägnanten Ariosi charakterisiert. Im letzten Bild verschmelzen all diese Leit- und Erinnerungmotive, der Orchesterklang wird aber zugleich dünner und führt so zum ergreifenden Schluss.

Puccinis "Rivale" Leoncavallo hat den Stoff von Murger Scènes de la vie de bohème ebenfalls vertont. Sein Werk erschien ein Jahr nach Puccini auf der Bühne, erreichte jedoch nie die Popularität von Puccinis Werk, obwohl er an sich näher bei der Vorlage blieb und seine Oper weniger von Sentimentalität gezeichnet ist.

Die Uraufführung unter der Leitung von Arturo Toscanini war kein besonderer Erfolg, die Kritik bezeichnete die Musik als oberflächlich. Erst nach der Aufführung in Palermo, im April 1896, setzte das dem Verismo nahestehende Werk zu seinem bis heute ungebrochenen Siegeszug über die Bühnen der Welt an.
Die Diskographie umfasst über hundert Einspielungen auf Schalplatte, CD und DVD. Allein die berühmtesten Interpreten der Mimi (Mirella Freni) und des Rodolfo (Luciano Pavarotti) haben das Werk über zwölf Mal mit verschiedenen PartnerInnen eingespielt. Referenzaufnahmen sind die Einspielungen unter Herbert von Karajan von 1972 (Freni/Pavarotti) und unter Thomas Beecham (de los Angeles/Björling).
Musikalische Höhepunkte:
Che gelida manina, Arie des Rodolfo, Bild I
Si, mi chiamano Mimì, Arie der Mimi, Bild I
O soave fanciulla, Duett Mimì-Rodolfo, Bild I
Quando m’en vo, Walzer der Musetta, Bild II
Addio dolce svegliare, Duett Mimì-Rodolfo mit Hintergrundgezänk Marcello-Musetta, Bild III
Vecchio zimarra, senti, Arie des Colline, Bild IV
O Mimì, tu più non torni, Arioso des Rodolfo, Bild IV

Karten

Zurück