Berlin, Staatsoper: LA BOHÈME, 09.12.2016
Oper in vier Bildern | Musik: Giacomo Puccini | Libretto: Luigi Illica und Giuseppe Giacosa | Uraufführung: 1. Februar 1896 im Teatro Regio, Turin | Aufführungen in Berlin: 9.12. | 15.12. | 17.12. | 21.12. | 26.12. | 28.12.2016 | 11.2. | 15.2. | 24.2.2017
Kritik:
Und da soll noch jemand sagen, Rezensenten seien eh schon abgebrüht und emotional erkaltet. Für mich jedenfalls trifft es nicht zu. Obwohl ich LA BOHÈME schon unzählige Male und in diversen Produktionen erleben durfte, saß ich gestern Abend im Schiller Theater das letzte Bild hindurch tränenüberströmt in meinem Sessel, wurde immer wieder von Emotionen durchgeschüttelt, von Gefühlsaufwallungen übermannt. Diese Inszenierung von Lindy Hume ist aber auch ein großer, ja geradezu genialer Wurf von einer Eindringlichkeit, emotionalen und textlichen Genauigkeit und Stringenz in der Personenführung sondergleichen. Die Produktion stammt aus dem Jahr 2001 und erlebte gestern ihre 62. Aufführung – wirkt aber keine Spur von abgestanden oder repertoire-routiniert, sondern frisch, motiviert, intensiv. Schon bevor das Licht im Zuschauerraum ausgeht, blickt man interessiert zur Bühne: Auf einer die ganze Bühne einnehmenden Leinwand sieht man ein von Eisblumen bedecktes Fenster. Von der Mitte her beginnt es langsam aufzutauen, ein alter Mann sitzt in einem Lehnsessel mit einer Schneekugel im Schoss. Es ist der alternde Rodolfo, der träumerisch auf seine Jugend zurückblickt. Immer wieder taucht er in den vier Bildern auf, bleibt jedoch dezent im Hintergrund. Hier nimmt die Regisseurin das Episodenhafte der Vorlage auf, denn die Szenen aus LA VIE DE BOHÈME flattern wie Erinnerungsfetzen herein und verschwinden wieder. So der geniale Schluss des ersten Bildes mit dem Liebesduett von Mimì und Rodolfo, wo sich die Wände der Mansarde im einsetzenden Schneefall wegbewegen, die frische Verliebten - wie auf einer Wolke dahinschwebend -Zeit und Raum vergessen. Szenisch ein Geniestreich ist auch das zweite Bild, beginnend auf einer leeren Bühne. Erst wenn die Menge ruft: „Auf ins Momus!“ fährt die Art Déco Fassade des Cafés M herunter, wobei das M für Momus, als auch für Mondrian stehen könnte, denn seine abstrakten geometrischen Bilder mit den Primärfarbeffekten zieren als Glasfenster das Café. Doch dann hebt sich die Fassade wieder und wir befinden uns mitten in einem üppigen Cabaret der Dreißigerjahre, wo das Vollweib Musetta ihren Walzer singt, und damit den Marcello wieder einfängt. Die Eifersuchtsszene zwischen den beiden wird in Lindy Humes Regie tatsächlich zu einer „wundervollen Komödie“, wie Schaunard bemerkt. Denn nicht nur Musetta hat hier einen Verehrer (der reiche Alcindoro), auch Marcello hat sich eine Dame geangelt, um Musettas Eifersucht anzustacheln – herrlich gemacht! Das dritte Bild kann man natürlich in den Dreißigerjahren (die stimmigen Kostüme stammen von Carl Friedrich Oberle) nicht mehr an einer Zollschranke spielen lassen. Lindy Hume hat es in einen Wartesaal verlegt, in welchem der alte Rodolfo zum letzten Mal mit seiner Schneekugel spielt – und sie dann, als die Tragik absehbar wird, in einen Mülleimer wirft. Die Bahnhofsuhr zeigt kurz vor zwölf, die Zeit läuft ab – Mimì und Rodolfo versöhnen sich noch einmal, Marcello und Musetta nicht. Auf dem Zwischenvorhang sind nun die Eisblumen komplett aufgetaut, die Wassertropfen fließen wie Tränen hinunter. Das vierte Bild beginnt im Hochsommer. Die Bohemiens haben sich auf das Dach vor der Mansarde begeben, der Philosoph Colline liest Comicheftchen, Rodolfo und Marcello (beide wieder Singles) sprechen dem Wodka zu. Das Bühnenbild dreht sich, die Freunde klettern ins Innere der Mansarde (Dan Potra hat diese kongenialen Bühnenkonstruktionen entworfen). Marcello hat die Wände in rasender Eifersucht mit der roten Farbe seines Gemäldes aus dem ersten Bild (Der Zug durch das Rote Meer, auf dem er collagenartig noch die Brüste der Musetta gemalt hatte) verunstaltet und die Worte „Vipère“ und „Sorcière“ hingeschmiert. Doch was nun passiert, macht jegliche banale Eifersucht obsolet: Wenn Musetta nun mit der todkranken Mimì hereinkommt, die vier eben noch betrunken tanzenden Freunde auf einen Schlag nüchtern werden, die Gefühle und die Empathie überhand nehmen, ist nur noch Ergriffenheit angesagt. Selbst der alte, stumm die Trauer nochmals durchlebende Rodolfo im Hintergrund ist nicht mehr in der Lage hinzusehen und wendet sich ab. Gespielt und gesungen wird das alles herzzerreißend intensiv. Man hat von Anfang an das Gefühl, die jungen Sängerinnen und Sänger auf der Bühne erleben das tragische (und manchmal auch echt komische) Geschehen eins zu eins mit, sind an diesem Abend wirklich mit den dargestellten Charakteren verschmolzen. Dazu singen sie so gut, wie man es sich besser kaum vorstellen kann – alle! Abdellah Lasri bringt als Rodolfo eine tenorale Traumstimme mit: Vollendet im Tonansatz, bruchlos, schlank und weich geführt, geschmeidig und mit Glanz, eine Stimme, die wie Milch und Honig fließt (aber nie klebrig wirkt!), absolut höhensicher und intonationsrein die Gefühle transportiert. Aleksandra Kurzak ist eine ebenso großartige Mimì: Zart, lyrisch und wunderbar leuchtend setzt sie ihren kostbaren Sopran ein, hat die Kraft für die herrlichen Bögen, die aufblühenden Phrasen, verfügt über ein wunderbar tragfähiges und gekonnt eingesetztes Piano, eine gestalterische Intensität sondergleichen. Die Arie und das Duett mit Rodolfo im ersten Bild fahren genauso intensiv ein, wie die große Szene des Abschieds im dritten (herrlich gefühlvoll das Addio senza rancor) und natürlich ihre Sterbeszene mit den Reminiszenzen an das „eiskalte Händchen“. Wunderbar, ja einmalig gut besetzt sind auch alle übrigen Rollen: Arttu Kataja gestaltet mit seinem weich geführten Bariton einen fantastischen, einnehmenden Marcello, Jan Martiník ist ein überragender Colline mit dem Herz auf dem rechten Fleck (subtil in seiner emotionalen Gestaltung der „Mantelarie“). Aufhorchen lässt auch Gyula Orendt als Schaunard, stimmlich und darstellerisch ein Tausendsassa, welcher der Rolle des Musikers unter den Bohemiens ein ganz besonderes Gewicht verleiht, wie man es selten erlebt. Ganz groß punkten kann Anna Samuil als Musetta: Gekonnt spitz und schrill im Momus-Bild, mit einem Revue-Walzer vom Feinsten, keifend zusammen mit Marcello die Versöhnung Mimìs und Rodolfos konterkarierend im dritten Bild, gereift und selbstlos für Mimì sich einsetzend und betend im Schlußbild. Olaf Bär ist gleich in einer Doppelrolle zu erleben: Im ersten Bild als moralisch überführter Hausmeister Benoît, im zweiten Bild als Alcindoro. Olaf Bär macht aus beiden Auftritten ein Kabinettsstückchen an gesanglicher Darstellungskunst. Das Glück des Abends vollkommen machen die Musikerinnen und Musiker der Staatskapelle Berlin unter der zutiefst einfühlsamen Leitung von Lahav Shani: Welch ein packendes Musizieren, ein überragendes und transparentes Ausloten der Partitur findet da statt, eine ziselierte Feinarbeit, die nie den großen Bogen vergisst und den Emotionen Raum lässt, sich zu entfalten. Rundherum findet der Griff nach Taschentüchern statt und so vergessen am Ende selbst die Erdnüsse mampfenden Girls hinter mir ihre Snacks und lassen die Petflaschen im Schoss ruhen. Oper ist eben ganz, ganz, ganz großes Kino – nein, besser! Schade nur, dass der stürmische Applaus dann doch bereits zu den letzten Moll-Akkorden einsetzt – man hätte sich gerne noch ein bisschen länger seiner Rührung hingegeben.
Inhalt:
In einer Mansarde im Quartier Latin hausen die vier (Lebens-)Künstler Rodolfo, Marcello, Schaunard und Colline. Ihre Armut meistern sie mit zum Teil bissigem Humor. Es ist Weihnachtsabend. Der Musiker Schaunard ist zu etwas Geld gekommen und lädt seine Freunde ins Café Momus ein. Rodolfo, der Dichter, will noch schnell einen Artikel beenden und verspricht, den Freunden gleich zu folgen. Da klopft seine Nachbarin Mimi an der Tür und bittet um Feuer. Als Mimi in der Dunkelheit auch noch ihren Schlüssel verliert, nutzt Rodolfo die Gelegenheit und nähert sich ihr sachte an. (Wie eiskalt ist dies Händchen...). In einem leidenschaftlichen Duett spürt man das Aufflammen ihrer Liebe. Sie folgen den Freundin ins Café. Da herrscht eine ausgelassene Stimmung. Marcellas frühere Geliebte Musetta taucht mit einem älteren Verehrer auf. Marcello reagiert eifersüchtig. Musetta spielt mit diesen Gefühlen, wird den Alten los, wirft sich Marcello wieder in die Arme und lässt den Alten am Ende gar noch die Rechnung der Künstler bezahlen. Einige Zeit später, nach wechselhaften Wochen für die beiden Paare, befinden wir uns vor einem Gasthaus an der Zollschranke. Mimis Krankheit hat sich verstärkt, Rodolfo hat sich von ihr getrennt, was sie sich nicht erklären kann. Mimi sucht den Rat von Marcello. Als Rodolfo auftaucht, versteckt sie sich und belauscht die beiden Freunde. Da erfährt sie, dass nicht eigentlich die Eifersucht Rodolfos der Trennungsgrund war, sondern seine Hilflosigkeit gegenüber ihrer Krankheit. Mimis Husten verrät ihr Versteck. Die beiden schliessen sich erneut in die Arme, beschliessen jedoch, sich erst im Frühling zu trennen, da der Winter zur Einsamkeit nicht tauge. Marcello und Musetta streiten sich mal wieder im Hintergrund.
Im letzten Bild befinden wir uns wieder in der Mansarde des Anfangs und treffen auf die in Liebesdingen so unglücklichen Freunde Rodolfo und Marcello. Bei einem bescheidenen Mahle dominiert trotz aller Sorgen die Heiterkeit. Doch mit dem Auftauchen Musettas ändert sich alles dramatisch. Musetta bringt die todkranke, schwache Mimi mit. Alle kümmern sich rührend um sie, der Philosoph Colline nimmt gar Abschied von seinem geliebten Mantel und will ihn im Leihhaus versetzen, um Geld für den Arzt zu bekommen. Alle gehen raus, um Geld zu besorgen, Mimi und Rodolfo bleiben allein und versichern sich gegenseitig ihrer Liebe. Musetta und die anderen kommen zurück, Mimi erhält einen Muff, um ihre kalten Hände zu wärmen. Sie verstirbt - Rodolfo realisiert dies als Letzter. Mit seinen durchdringenden Schreien der Verzweiflung endet die Oper.
Werk:
In eindringlichen, atmosphärisch dichten Bildern zeichnen Puccini und seine Librettisten Szenen aus dem Leben junger Menschen. Diese träumen von Freiheit und Selbstverwirklichung, sie lieben und sie streiten sich, sie kämpfen mit Humor ums Überleben. Doch als eine von ihnen tödlich erkrankt, wird aus dem sorglosen Leben bitterer, tragischer Ernst.
Puccini hat dazu eine seiner farbenprächtigsten Partituren komponiert, lyrisch-sentimentale Stellen verschmelzen mit humorvoll kontrastierenden Passagen, die Personen sind überaus stimmig in kurzen, prägnanten Ariosi charakterisiert. Im letzten Bild verschmelzen all diese Leit- und Erinnerungmotive, der Orchesterklang wird aber zugleich dünner und führt so zum ergreifenden Schluss.
Puccinis "Rivale" Leoncavallo hat den Stoff von Murger Scènes de la vie de bohème ebenfalls vertont. Sein Werk erschien ein Jahr nach Puccini auf der Bühne, erreichte jedoch nie die Popularität von Puccinis Werk, obwohl er an sich näher bei der Vorlage blieb und seine Oper weniger von Sentimentalität gezeichnet ist.
Die Uraufführung unter der Leitung von Arturo Toscanini war kein besonderer Erfolg, die Kritik bezeichnete die Musik als oberflächlich. Erst nach der Aufführung in Palermo, im April 1896, setzte das dem Verismo nahestehende Werk zu seinem bis heute ungebrochenen Siegeszug über die Bühnen der Welt an.
Die Diskographie umfasst über hundert Einspielungen auf Schalplatte, CD und DVD. Allein die berühmtesten Interpreten der Mimi (Mirella Freni) und des Rodolfo (Luciano Pavarotti) haben das Werk über zwölf Mal mit verschiedenen PartnerInnen eingespielt. Referenzaufnahmen sind die Einspielungen unter Herbert von Karajan von 1972 (Freni/Pavarotti) und unter Thomas Beecham (de los Angeles/Björling).
Musikalische Höhepunkte:
Che gelida manina, Arie des Rodolfo, Bild I
Si, mi chiamano Mimì, Arie der Mimi, Bild I
O soave fanciulla, Duett Mimì-Rodolfo, Bild I
Quando m’en vo, Walzer der Musetta, Bild II
Addio dolce svegliare, Duett Mimì-Rodolfo mit Hintergrundgezänk Marcello-Musetta, Bild III
Vecchio zimarra, senti, Arie des Colline, Bild IV
O Mimì, tu più non torni, Arioso des Rodolfo, Bild IV