London, English National Opera: AIDA, 27.10.2017
Oper in vier Akten | Musik: Giuseppe Verdi | Libretto: Antonio Ghislanzoni | Uraufführung: 24. Dezember 1871 in Kairo | Aufführungen in London: 28.9. | 3.10. | 6.10. | 9.10.| 11.10. | 14.10. | 19.10. | 21.10. | 27.10. | 31.10. | 4.11. | 10.11. | 17.11. | 27.11. | 29.11.2017
Kritik:
Bevor ich überhaupt auf die musikalischen und szenischen Seiten dieser Neuproduktion von Verdis AIDA an der English National Opera eingehen kann, muss ich einen ganz grossen Ärger loswerden. Ich habe immer gedacht, die Briten seien gebildete, noble, wohl erzogene Musikliebhaber. Weit gefehlt an diesem Abend im grössten Opernhaus Europas, dem London Coliseum. Nicht nur, dass es das Management des Theaters offensichtlich duldet, dass Getränke in Plastikflaschen und -bechern mit in den Zuschauersaal genommen werden dürfen, nein auch Chipstüten werden während "Celeste Aida" und der Nilarie geöffnet und Popcorn während des "O terra addio" geknabbert. Zum Triumphmarsch werden auf der Bühne Särge von toten Soldaten beweint - durch den Zuschauersaal wehen Gerüche von Reiswaffeln. Allein in meiner Sitzreihe verfassten 9 Besucher während der Aufführung Nachrichten auf dem Smartphone!!! Ich weiss, Opernhäuser sind längst keine Tempel mehr. Doch eine Rückkehr in die alten Zeiten, als Adlige während Opernaufführungen in ihren Logen tafelten (und sich gar fleischlichen Genüssen hingaben), braucht kein echter Musikliebhaber. Am Ende sah der Boden des imperialen Saals des Coliseum aus wie ein Kino nach einer Vorführung von HANGOVER oder FAST AND FURIOUS 6.
Apropos "FURIOUS": Die Produktion der gefeierten Improbable Gruppe rund um Gründer, Regisseur und künstlerischen Direktor Phelim McDermott konnte einen auch wütend machen. Schöne Bilder zwar (Bühne: Tom Pye), doch nicht eine Spur von Interaktion und Spannung, vom Ausloten der Gefühle und Beziehungen zwischen den Protagonisten, von einer Einbettung in ein politisches Setting. Die Kostüme (Kevin Pollard) nahmen uns mit auf eine überstilisierte und überkandidelte Reise quer durch alle Epochen, von archaischen Tempelriten über den Imperialismus der Entstehungszeit der Oper, die Dreissigerjahre zur Moderne der Truppen mit Schusswesten, Schnellfeuerwaffen, Helmen. Dass solche Stoffe, insbesondere von Verdiopern, oft eine Allgemeingültigkeit haben, wissen wir, das muss uns nicht mehr so vordergründig auf die Nase gebunden werden. Immerhin, wie erwähnt, das Bühnenbild und das Lichtdesign (Bruno Poet) waren streckenweise ganz stark - konnten aber nicht verhindern, dass sich der Abend in die Länge zog. Die Dirigentin, Keri-Lynn Wilson, immerhin spürte Verdis Intentionen sehr genau nach, liess die wunderbar spielenden Streicher im Vorspiel fein und vielschichtig intonieren, baute gekonnt emphatische Steigerungen auf, gewichtete die Emotionen, welche man auf der Bühne vermisste, liess Nebenstimmen herrlich und farbenreich aufblitzen. Einige Koordinationsprobleme mit den Sängern traten auf, doch das mag auch daran liegen, dass (wie in der ENO üblich) eine etwas holprige englische Übersetzung gesungen wurde, die manchmal wie zu verzögertem Ansetzen von Gesangsphrasen führte. Prächtig sang der Chor (James Henshaw), exzellent die Hohe Priesterin (Eleanor Dennis). Von den Protagonisten muss man klar Latonia Moore in der Titelrolle an erster Stelle hervorheben. Sie ist ja unterdessen (seit ihrem berühmten kurzfristigen Einspringen an der MET) weltweit beinahe die Aida vom Dienst, hat die Rolle über hundertmal auf der Bühne gesungen. Latonia Moore besitzt eine ideale Stimmfarbe für die Rolle, kann, wo geboten, ganz gross auftrumpfen - manchmal, wie im Kulminationspunkt der Nilarie, vielleicht die Resonanzräume etwas zu weit öffnend. Daneben aber auch wunderbare Piani, das finale Duett mit Radamès geriet zu einem berührenden Höhepunkt. Gwyn Hughes Jones war ein stattlicher Feldherr. Seine Eröffnungsarie gestaltete er sicher, wagte sogar mutig ein Diminuendo auf dem hohen b am Ende (wie von Verdi gefordert), wo andere Tenöre um des Effektes willen weiter auf der Fermate brüllen. Intonationsmässig klang einiges an gewissen Stellen bei ihm etwas gewöhnungsbedürftig, doch das mag auch am englischen Text liegen, dass man vieles etwas anders im Ohr hat von der italienischen Originalversion her. Makellos sauber hingegen Michelle DeYoung als Amneris. Sie drang zwar nicht immer voll durch, dafür pflegte sie einen Gesangsstil ohne Forcieren oder Rumwühlen in brustigen Registern. Fantastisch und packend gelang ihr die Gerichtsszene. Sehr gut und mit Prägnanz sangen Musa Ngqungwana als Amonasro und Brindley Sherratt als Ramfis. Ronald Nairne (kurzfristig eingesprungen) gab einen soliden König.
Diese AIDA der ENO wird koproduziert mit der Houston Grand Opera und dem Grand Theâtre de Genève.
Werk:
Trotz aller Arenatauglichkeit ist Verdis drittletzte Oper weniger ein Massenspektakel, eher ein intimes Kammerspiel mit einigen effektreichen Massenszenen (der gewaltige Triumphmarsch am Ende des zweiten Aktes mit seiner Zusammenführung der im Verlauf des Werks leitmotivartig verarbeiteten Themen). Pikante Kolorierungen exotischen Einschlags und Versuche, ein durchkomponiertes Musikdrama zu schaffen, vermögen nicht darüber hinwegzutäuschen, dass es sich bei AIDA um eine durch und durch italienische Nummern-Oper handelt. Verdi hat dem Orchester allerdings eine wichtige Aufgabe zugeschrieben, gegenüber früheren Werken ist die Eigenständigkeit des Orchesterparts gewaltig gesteigert und unterstützt so die Singstimmen in ihrer Darstellung der Gefühle und Leidenschaften und malt eindrucksvolle Stimmungsbilder (z. B. als Einleitung zur Nilarie).
AIDA war weder die Eröffnungsoper der Kairoer Oper (das war RIGOLETTO) noch wurde sie zur Eröffnung des Suez-Kanals (1869) gespielt, wie oft fälschlicherweise kolportiert wird. Sie war jedoch ein Auftragswerk des Opernenthusiasten Ismail Pascha, Khedive von Ägypten. Verdi begeisterte sich schnell für das exotische Sujet und kam auch dem Wunsch des ägyptischen Vizekönigs nach, die Uraufführung (gegen eine exorbitante Gage notabene) in Kairo stattfinden zu lassen. Diese musste jedoch wegen der Wirren des Deutsch-Französischen Krieges um beinahe ein Jahr verschoben werden. AIDA gehört seither ununterbrochen zu den Stützen des Repertoires und ist ein Garant für volle Kassen. Die Oper bietet zudem dankbare Paraderollen für Soprane und Mezzosoprane. Bekannte Interpretinnen der Aida wurden u.a. Maria Chiara, Maria Callas, Leontyne Price, Montserrat Caballé, Birgit Nilsson; die Rolle der Amneris wurde durch Grace Bumbry, Elena Obratzsova, Fiorenza Cossotto, Fedora Barbieri, Giulietta Simionato u.a. exemplarisch geprägt.
Inhalt:
Aida lebt als Sklavin des äthiopischen Königs am Hof der ägyptischen Pharaonen. Doch ist dort ihre königliche Abstammung nicht bekannt. Sie hat ein inniges Liebesverhältnis mit dem ägyptischen Feldherrn Radames. Durch einen fiesen Schachzug kommt die Pharaonentochter Amneris hinter das Geheimnis. Da sie ebenfalls in Radames verliebt ist, bricht die Rivalität zwischen den beiden offen aus. Radames kommt erfolgreich aus einem Feldzug gegen die Äthiopier zurück. Unter den Gefangenen befindet sich auch Aidas Vater Amonasro. Er verlangt von Aida, dass sie Radames strategische Geheimnisse entlocke. Nach einigem Zögern willigt Aida ein. Als Radames seinen Vaterlandsverrat erkennt, ist es bereits zu spät. Amneris und der Hohepriester Ramphis überraschen die drei. Aida kann noch fliehen, Amonasro fällt. Radames wird verhaftet und des Hochverrats angeklagt. Er wird nach dem Prozess lebendig begraben. Aida hat sich in sein Grab geschmuggelt. Gemeinsam nehmen sie Abschied von der Welt. Amneris betet über dem Grab zu Isis, Radames' Seele möge in Frieden ruhen.
Musikalische Höhepunkte:
Celeste Aida, Arie des Radames, Akt I (mit dem gefürchtenten, pianissimo zu singenden hohen B am Ende)
Ritorna vincitor, Arie der Aida, Akt I
Vieni, sul crin ti poivano …, Amneris-Aida, Akt II
Gloria al Egitto, Triumphmarsch und Finale Akt II
O patria mia, Arie der Aida, Akt III (Nilarie)
Gerichtsszene, Amneris-Radames-Ramfis-Priester, Akt IV
O terra, addio, Duett Aida-Radames, mit Gebet der Amneris Akt IV