Zürich, Tonhalle: BRAHMS | THORVALDSDOTTIR | STRAWINSKY; 19.09.2024
Saisoneröffnungskonzert des Tonhalle-Orchesters Zürich unter Paavo Järvi, Vikingur Ólafsson spielt Brahms' erstes Klavierkonzert
Werke: Johannes Brahms: 1. KLAVIERKONZERT in d-Moll, op. 15 | Uraufführung: 22. Januar 1859 in Hannover | Anna Thorvaldsdottir: «ARCHORA» für Orchester | Uraufführung: 11. August 2022 bei den BBC Proms in London | Igor Strawinsky: L'OISEAU DE FEU, Konzert-Suite von 1919 | Uraufführung: 12.04.1919, Genève, Victoria Hall; Dirigent: Ernest Ansermet, Orchestre de la Suisse Romande |
Dieses Konzert in der Tonhalle Zürich: 18.9. | 19.9. | 20.9.2024
Kritik:
DAS GROSSE GRUMMELN
Es grummelte gewaltig im zweiten Saisoneröffnungskonzert des Tonhalle-Orchesters Zürich gestern Abend im grossen Saal der Tonhalle. Sowohl bei Brahms' erstem Klavierkonzert, als auch bei ARCHORA von Anna Thorvaldsdottir und bei Strawinskys FEUERVOGEL-SUITE spielen die dunkeln Farben der Bässe, Fagotte, der Tuben und der Orgel in unterschiedlicher Besetzung und Intensität eine hervorgehobene Rolle, noch verstärkt dadurch, dass die Kontrabässe auf der obersten Stufe des Podiums direkt unter der Orgel und hinter den Bläsern platziert waren.
BRAHMS
Wie mit seiner ersten Sinfonie hatte Brahms auch mit seinem ersten Klavierkonzert lange gerungen - und entstanden ist in diesem Kampf ein gewaltiges, ein eindrückliches Werk, das eben mit diesem Triller-Beben mit Pauke und tiefem Streicherklang anhebt. Vorgestellt wird in der langen Orchesterexposition auch das mildere, aber ebenfalls schwermütig angehauchte Seitenthema, bevor nochmals im Fortissimo-Tutti das Kopfthema mit Verve wiederholt wird. Paavo Järvi und das Tonhalle-Orchester Zürich drängen zielstrebig voran, selbst wenn dann der Pianist Víkingur Ólafsson endlich molto espressivo das Wort ergreift und ein neues Thema in das schwermütig-kräftige Geschehen einbringt, mit subtilen Anschlagsvariationen eine vielschichtige Art der Dynamik beisteuert. Endlich lässt das Orchester sich davon inspirieren, das Holz nimmt das Thema auf, eine warmer Streicherklang bringt Ruhe. Das ist alles wunderbar harmonisch aufeinander abgestimmt, lässt diesen Eröffnungssatz zu einer erschütternden Grösse wachsen. Besonders hervorzuheben ist das feinsinnige, komplexe Umspielen des wuchtigen Kopfmotivs durch den Solisten mit herrlichen, wie tänzerisch daherkommenden Akkordgirlanden und Kaskaden in der Reprise. Der zweite Satz, ein zärtliches Adagio (Liebeserklärung an Clara Schumann?) bringt endlich etwas mehr Zeit zum Entspannen und Zurücklehnen. Hier ergreift Víkingur Ólafsson mit der Zartheit und der Innigkeit seiner Interpretation, das ist zum Niederknien schön. Eindringlich werden die kräftigen Steigerungen und fugierten Passagen im Finalsatz gestaltet. Nun ist der Pianist von Anfang auch dabei, erhält auch Gelegenheit, sein wunderbares Können in zwei kurzen Kadenzen mit rasanten chromatischen Akkordfolgen und mit vertrackten Trillern angereichert zu präsentieren. Grossartig zu sehen, wie er mit wippender linker Hand den spielerisch-tänzerischen, ungarischen Charakter des Satzes aufnimmt. Als Zugabe wählte Víkingur Ólafsson ein ganz wunderbares Stück eines Komponisten, der noch immer etwas unterschätzt wird und nach den launigen Worten des Pianisten unbedingt auch in das Gemälde des Komponistenhimmels im grossen Tonhallesaal gehören würde: Jean Philippe Rameau. Ólafsson spielte eine Fantasie aus dessen Oper LES BORÉADES. Der 40 Jahre junge Pianist, der die gesamte letzte Saison Bachs GOLDBERG VARIATIONEN gewidmet hatte, glänzte darin mit der wunderbaren Eindringlichkeit seines unnachahmlichen, zarten Anschlags. Zum Dahinschmelzen!
THORVALDSDOTTIR
Anna Thorvaldsdottir, die isländische Komponistin, welche in dieser Saison Platz auch dem "Creative Chair" der Tonhalle Zürich nimmt, stellte ihr Orchesterwerk ARCHORA vor. In der flächig angelegten Musik ist viel dumpfes Grummeln zu erleben, auch Geräusche, die an Horrorfilmmusik denken lassen. Rhythmisch und melodisch gibt es kaum Passagen, an denen sich das Ohr orientieren könnte - die Musik gleicht eher einer Art Ursuppe, immerhin ist sie nicht schmerzhaft anzuhören. Gewisse Passagen erinnern mich an die Filmmusik, welche Philip Glass vor 40 Jahren zu KOYANISQAATSI komponiert hatte. Vielleicht müsste man sich ARCHORA mehrmals anhören, um die Komposition entsprechend würdigen zu können (es gibt Aufnahmen auf YouTube). Der erste Eindruck war, dass man sich das gut anhören kann, aber dass das Stück etwas zu lange dauert und die spannenden Momente zwar vorhanden, aber zu dünn gesät sind. Eindringlich war das Verklingen in die Unhörbarkeit, welches Paavo Järvi und sein Tonhalle-Orchester spannungsgeladen zu zelebrieren wussten. Das Publikum reagierte mit starkem Applaus, welchen die Komponistin perönlich entgegennehmen durfte.
STRAWINSKYS
Seine Ballettkomposition L'OISEAU DE FEU entstand üer 100 Jahre vor Thorvaldsdottirs ARCHORA und klang weitaus gewagter und interessanter als das Werk Thorvaldsdottirs. Auch hier viel Flirren, Grummeln, aber immer mit nachvollziehbarem motivischem Kern. Natürlich ist das Programmmusik (bei Thorvaldsottir sind es aus Eindrücken neu geschaffene Impressionen, ohne konkretes Programm) und deshalb selbstredend mit greifbaren Assoziationen und Bildern verbunden. Seine Suite, welche er aus den Hauptthemen der Ballettmusik zu einem kustvollen Amalgam verschmolzen hatte, ist ein Prachtswerk, das dem Orchester alle Möglichkeiten bietet, mit Farbeinreichtum und rhythmischer Präzision zu glänzen. Selbstredend liessen sich das Tonhalle-Orchester Zürich und dessen Chefdirigent Paavo Järvi diese Gelegenheit nicht entgehen und die 20 Minuten vergingen wie in einem geheimnisvoll flirrenden Flug, einer Reise durch Zauberwelten, Hexenmeisterjagden und mit effektvoller, hymnischer Apotheose zum Schluss. Die Zeichnung der lautmalerischen Szenen wurden von den einzelnen Musiker*innen fein ausgehorcht und auf ihren Instrumenten in solistischen Passagen virtuos umgesetzt. Die imposante Klangfülle und die gewaltigen, gleissenden Crescendi verfehlten ihre unmittelbare Wirkung nicht. Der Applaus war verdientermassen riesig, ja, es standen sogar einige Besucher*innen zum Applaus auf, wie es Tonhalle-Präsident Martin Vollenwyder in seiner Eröffnungsansprache (vollkommen unnötigerweise) gefordert hatte. Eine Standing Ovation sollte spontan erfolgen, nach einem ereignishaften Erlebnis, welches das Kollektiv so wahrgenommen hatte, und nicht quasi auf "Aufforderung" von oben hin wie an einem kommunistischen Parteikongress.
Werke:
Die Entstehungsgeschichte von Johannes Brahms' (1833-1897) erstem Klavierkonzert in d-Moll, op. 15 stellt einen langen Leidensweg dar. Brahms war mit den Schumanns (Robert und Clara) eng befreundet, Schumann widmete dem jungen Mann auch eine seiner letzten Kompositionen, das Konzert-Allegro für Klavier und Orchester in d-Moll, op. 134. Daher ist es kaum ein Zufall, dass auch Brahms sein erstes Klavierkonzert in dieser Tonart schrieb. Brahms Idee war allerdings, zuerst ein Konzerstück für zwei Klaviere zu schreiben, die Flut an Material sprengte allerdings bald diesen Rahmen. Danach wollte Brahms die Themen zu einer Sinfonie ausarbeiten, wich aber bald wieder von diesen Plänen ab und schrieb schliesslich eben dieses erste von seinen beiden Klavierkonzerten (das zweite folgte erst rund 25 Jahre später). Der Kopfsatz (Maestoso) überrascht mit einer überlangen Orchestereinleitung. Erst nach 91 Takten setzt das Klavier ein. Brahms gelingt in diesem Satz eine spannungsvolle Verarbeitung des von unterschiedlichen Stimmungen geprägten motivischen Materials. Der 2. Satz (Adagio) scheint eine Liebeserklärung an die von Brahms verehrte (anghimmelte?) Clara Schumann zu sein, welche während der Entstehungszeit von Brahms' Klavierkonzert Witwe geworden war. Sie blieb dem jungen Komponisten zwar stets freundschaftlich verbunden, doch mehr war da leider (aus Brahms' Sicht) nicht. Im finalen Rondo schliesslich stellt das Klavier das Hauptthema vor, welches vom Orchester aufgenommen wird. Zwei Kadenzen gegen das Ende hin führen zum triumphalen Abschluss dieses mit seinen rund 50 Minuten Spieldauer in jeglicher Hinsicht beachtenswerten und bedeutenden Werkes der Hochromantik.
Die isländische Komponistin Anna Thorvaldsdottir wurde 1977 geboren. Sie besetzt den derzeitigen “Creative Chair” des Tonhalle-Orchesters Zürich. Die sehr erfolgreiche Komponistin, deren Werke von vielen bedeutenden Orchestern wie den Berliner Philharmonikern, dem Royal Concertgebouw Orchester, dem Boston Symphony Orchestra, dem BBC Symphony Orchestra, dem BBC Philharmonic, dem Philharmonia Orchestra, der San Francisco Symphony, dem NDR Elbphilharmonie Orchester, dem Frankfurt Radio Symphony Orchestra, dem Toronto Symphony Orchestra, Oslo Philharmonic, Iceland Symphony Orchestra unter der Leitung von Dirigenten wie Klaus Mäkelä, Kirill Petrenko und Andris Nelsons aufgeführt werden, benutzt nach eigenen Aussagen beim Komponieren kein Instrument, sondern fertigt Zeichnungen an, auf denen sie Impressionen der Natur ihrer isländischen Heimat festhält. Diese Zeichnungen dienen ihr als Grundlage, um daraus Klänge entstehen zu lassen, wobei sie nie beschreibend oder gar romantisierend komponieren will. Auch ihr Werk "ARCHORA" ist so entstanden. Es ist ein Auftragswerk u.a. des BBC Radio und der Münchner Philharmoniker. Die Komponistin beschäftigt sich darin mit dem Uranfang. Darauf deutet schon der Titel hin, für den die Komponistin zwei griechische Begriffe zusammengefügt hat: arche für den Urbeginn und chora, was soviel bedeutet wie Raum. "Im Zentrum steht die Vorstellung einer Urenergie und die Idee eines allgegenwärtigen Parallelreichs – eine Welt, die zugleich vertraut und fremd, statisch und sich wandelnd, nirgendwo und überall zugleich ist", so Anna Thorvaldsdóttir.
Igor Strawinsky (1882-1971): LOISEAU DE FEU, der Feuervogel, Konzersuite Nr.2
DER FEUERVOGEL ist ein Auftragswerk an Strawinsky vom russischen Mäzen und Impresario des Ensembles „Ballets Russes“, Sergej Dhiaghilew. Die Uraufführungam 25. Juni 1910 im Pariser Palais Garnier wurde begeistert aufgenommen. Seither gehört der FEUERVOGEL zu den Grundpfeilern des klassischen Ballettrepertoires. Wendungen herber Chromatik und ausdrucksstarker rhythmischer Brutalität wechseln sich in Strawinskys Partitur mit flirrenden, geheimnisvollen Streicherklängen und folkloristisch angehauchten Melodien. Strawinskys schon in seinem Frühwerk (wozu der FEUERVOGEL zählt) ausgeprägte Instrumentationskunst verleiht der Musik ein farbenprächtiges, in manchen Facetten schillerndes Gewand. Die ungeheure Kraftentfaltung des Orchesters im so genannten „Höllentanz“ nimmt die Ekstasen des „Sacre du printemps“ vorweg.
Für den Konzertsaal schuf Strawinsky insgesamt 3 Fassungen. Die zweite davon, aus dem Jahr 1919, ist die populärste geblieben.