Winterthur, Stadthaus: SCELSI, BEETHOVEN, FUJIKURA, DVOŘÁK; 15.01.2025
Leila Josefowicz und Claire Chase spielen die Schweizer Erstaufführung von Dai Fujikuras Doppelkonzert für Violine und Flöte
Werke: Giacinto Scelsi: Aus «Quattro pezzi per orchestra»: Nr. 1 | Uraufführung: 4. Dezember 1961 in Paris | Ludwig van Beethoven: Ouvertüre zum Trauerspiel «Egmont» op. 84 | Uraufführung: 15. Juni 1810 in Wien | Dai Fujikura: Doppelkonzert für Violine und Flöte, Auftragswerk, Schweizer Erstaufführung | Uraufführung: 11. Januar 2025 in Amsterdam | Antonín Dvořák Sinfonie Nr. 8 G-Dur, op. 88 | Uraufführung: 2. Februar 1890 in Prag | Dieses Konzert in Winterthur am 15.1. und am 16.1.2025
Kritik:
Einmal mehr weckte das Musikkollegium Winterthur mit seiner klugen Programmgestaltung grosses Interesse und stiess damit beim zahlreichen Publikum auf begeisterten Anklang. Zu Beginn des Konzerts wurden zwei Werke miteinander verschmolzen, in deren Zentrum jeweils der Ton F steht. Ganz extrem lotete der Komponist Giacinto Scelsi im ersten seiner QUATTRO PEZZI PER ORCHESTRA diesen Ton aus. Alle Instrumente des Orchesters spielten das F. Dabei enstanden durch die mitschwingenden Ober- und Untertöne, die beim Spiel erzeugt wurden, reizvolle Spannungen. Die Dynamik führte zusätzlich zu einem beinahe mystischen Hörerlebnis, welches durch den Einsatz des von Beethoven komponierten F am Beginn der unterbruchslos angefügten EGMONT-Ouvertüre die Ohren für diese Ouvertüre weit öffnete. Nach dem rätselhaften Surren und Summen des F bei Scelsi wurden wir nun mit Beethovens Trauermarsch in f-Moll in die konkrete Situation der unter der spanischen Besatzung leidenden Flandern versetzt. Doch Beethoven (und natürlich Goethe, der mit seinem Drama die Vorlage gelieferte hatte) wäre nicht Beethoven, wenn er nicht in seiner bewährten per-aspera-ad-astra-Manier die Musik aus dem Dunkel ins Licht geführt und das Stück in einer strahlend-utopischen Befreiungsmusik enden gelassen hätte. Vimbayi Kaziboni leitete das exzellent spielende Musikkollegium Winterthur mit präziser Zeichengebung und Körpersprache, verlieh dem musikalischen Fluss die gebotene Dramatik - und liess witzigerweise dem markanten Jubel des Blechs in der triumphalen Coda ganz am Ende nochmals ein lautes F der Solotrompete folgen, was - nach kurzer Irritation - zu begeistertem Applaus führte.
Am 11. Januar war die Uraufführung von Dai Fujikuras Doppelkonzert für Violine und Flöte in Amsterdam (mit dem Radio Filharmonisch Orkest unter Karina Kanellakis, mit Claire Chase, Flöte, und Akiko Suwanai, Violine) nur vier Tage später folgte die Schweizer Erstaufführung dieses gemeinsam vom Musikkollegium Winterthur, der ZaterdagMatinee in Amsterdam, dem Ensemble Resonanz in Hamburg und dem City of Kyoto Symphony Orchestra initiierten Auftragswerks. Fujikura hatte das Konzert auf Anregung von Patricia Kopatchinskaja für sie und die Flötistin Claire Chase geschrieben; leider musste Kopatchinskaja alle Konzerte im Januar aus persönlichen Gründen absagen. Leila Josefowicz sprang in Winterthur ein - und was sie und Claire Chase zeigten, war einfach genial, ein unfassbar spannendes Duettieren der beiden Instrumente, voller Witz und Virtuosität. Flirrende, sich reibende Doppeltöne, Glissandi, ein Ping-Pong-artiges hin- und herspielen von kurzen Kantilenen und Motiven, ein Aufnehmen und Weiterführen von Themen. Das Orchester hatte während der ersten zwölf Minuten wenig zu tun, man fragte sich stellenweise, ob der Dirigent eigentlich benötigt wurde, denn es lieferte lediglich einen amorphen Klangteppich. Doch für die zweite Hälfte des rund 25 Minuten dauernden Doppelkonzerts nahm die Dramatik an Fahrt auf, spielte das Orchester eine gewichtigere Rolle. Oftmals war der Solovioline der aggressivere Part zugeteilt, die Flöte war eher reaktiv eingesetzt. Doch Claire Chase begann nun das Instrument zu wechseln, Piccolo und Bassflöte lagen bereit, Grenzen der akkustischen Möglichkeiten der Tonproduktion der solistischen Instrumente wurden mit beinahe jazziger Spielfreude ausgelotet (das Publikum zeigte sich amüsiert), das Orchester stimmte schwarmähnlich mit ein. Mit dem Einsatz der Bassflöte (oder war es eine Altflöte?) kehrte plötzlich Ruhe ein. Claire Chase übernahm nun den Lead, die zart intonierende Violine von Leila Josefowicz ging mit berührender, schlanker Tongebung auf diese ruhige, tröstende Art des Spiels ein. Das waren ganz wunderbare Momente der Stille und Einkehr. Am Ende stand eine federleichte, klanglicheTransparenz, eine Schwerelosigkeit des freien (Gedanken-) Flugs, die immens beeindruckte. Ein wunderbares Werk von Dai Fujikura, dem man gerne wieder begegnen möchte, gepielt zwei Solistinnen der Spitzenklasse! Der anwesende Komponiste durfte zusammen mit den beiden Solistinnen, dem Dirigenten und dem Musikkollegium Winterthur den dankbaren Applaus des Publikums entgegen nehmen.
Nach der Pause folgte dann Antonín Dvořáks so wunderbar naturnahe, leichtfüssige und positiv gestimmte Sinfonie Nr. 8 in G-Dur, die sich ihrerseits wiederum als passender Anschluss an das versöhnliche Ende des Doppelkonzerts von Fujikura erwies. Vimbayi Kaziboni betonte die Leichtigkeit, mit welcher Antonín Dvořák die Sinfonie ausgestaltet hatte. Die getragene Einleitung klang nie zu schwer, die wunderbar gespielte Überleitung der Flöte zum beschwingten Allegro-Teil, gelang vorzüglich. Was folgte sprühte nur so vor Spritzigkeit, die einfallsreichen Themen Dvořáks sprudelten mit überschäumender Frische daher, die Nähe zur Natur war stets spürbar. Genauso wie die Wagner-Anklänge (Tannhäuser-Ouvertüre), die wohl dazu geführt hatten, dass Brahms diese Sinfonie seines Freundes Dvořák nicht besonders gemocht hatte. Im zweiten Satz, diesem poetisch erzählenden Adagio, brillierten die Holzbläser des Musikkollegiums Winterthur mit farbenreicher klanglicher Intensität. Der melancholisch angehauchte Walzer des Scherzos kippte bald in einen volkstümlich-leichtfüssigen Tanz. Das Finale wurde mit einer beeindruckend sauber gespielten Fanfare der Trompeten eingeleitet. Mit mitreissenden, wunderschön ausmusizierten slawischen Tanzeweisen (Furiant) wurde der zwischen Sonatenhauptsatzform und Variationen schwebende Finalsatz gestaltet. Kaziboni erreichte mit dem wunderbar mitgehenden Orchester eine vorwärtsdrängende Plastizität und klangliche Transparenz, die nichts verwischte, aber auch diesen Dvořák nie weichspülte. Das hatte im besten Sinne etwas Rohes, leicht Aufmüpfiges und liess trotzdem nie Brillanz vermissen.
Werke:
Giacinto Scelsi (1905-1988) war ein aus dem süditalienischen Adel stammender Komponist und Schriftsteller. Stets war er um Diskretion bemüht, es gibt von ihm kaum Bilder oder Interviews. Er lebte zeitweise in Paris, heiratete eine Adlige, die mit dem britischen Königshaus verwandt war und verkehrte im Kreis der Surrealisten um Salvador Dalí. Nach dem 2. Weltkrieg erlitt er eine psychische Krise, eholte sich in einem Sanatorium in der Schweiz und nahm das Komponieren (er war Autodidakt) wieder auf. Scelsi war ein Anhänger der Reinkarnationslehre, nach eigenen Angaben wurde er über 2000 J. v. Chr in Meopotamien geboren. Sein Kompositionsstil war sehr eigenwillig und lässt sich keiner Strömung der Moderne zuordnen, obwohl er zeitweise Unterricht bei einem Schüler Arnold Schönbergs genossen hatte. Die Pariser Komponistengruppe L' ITINÉRAIRE, die in Opposition zu Pierre Boulez stand, erklärte Scelsi zu ihrem Leitstern. Scelsi hasste das Notenschreiben, deshalb imrovisierte er seine intuitiven Kompositionen, spielte sie auf einer Ondula und schnitt sie auf Tonband mit und liess sie von Assistenten in Notenschrift übertragen. Die QUATTRO PEZZI PER ORCHESTRA entstanden 1959 und jedes der vier Musikstücke besteht nur aus einer einzigen Note. Die Nummer 1 aus dem F.
Interessanterweise spielt das F auch eine zentrale Bedeutung in Ludwig van Beethovens (1770-1827) Ouvertüre zu Goethes Trauerspiel EGMONT: Der Beginn bschreibt das Leiden der Niederländer unter der spanischen Fremdherrschaft und steht in f-Moll. Der Befreiungskampfdes Volkes (in Des-Dur) und die Vision des Triumphs über die Besatzer in heroischem F-Dur evozieren das für Beethoven so typische per aspera ad astra mit einer mitreissenden Strahlkraft, wie nur Beethoven sie musikalisch ausdrücken konnte.
Dai Fujikura kam 1977 in Osaka, Japan zur Welt. Er studierte bereits mit 15 Jahren am King's College in London bei George Benjamin. Am Lucerne Festival debütierte er mit dem Orchesterwerk STREAM STATE, das unter der Leitung von Pierre Boulez uraufgeführt wurde. Auftragswerke schrieb er auch für die BBC PROMS, für das Ensemble intercontemporain und seine Oper SOLARIS wurde im Théâtre des Champs-Elysées uraufgeführt. Patricia Kopatchinskaja, welche das Konzert in Winterthur hätte spielen sollen, rief eines Tages vor 6 Jahren bei Dai Fujikura an und schlug ihm vor, ein Konzert für Violine und Flöte für sie und die Flötistin Claire Chase zu schreiben. Da Fujikura Claire Chase perönlich bereits kannte, war er sofort einverstanden, ebenso die Flötistin, da sie schon lange darauf hinarbeitete, das Konzertrepertoire für (Flötistinnen und Flötisten) zu erweiteren. In seinem Doppelkonzert denkt der Komponist an Vogelschwärme und Individuen, die sich synchronisieren, spiralförmig hochschrauben, immer bezogen aufeinander. Fujikura ist auch ein Anhänger der “Spatial separation”, das heisst er lässt die Musiker*innen gerne über den Raum verteilt und in ungewöhnlichen Gruppierungen spielen, um neue Hörerlebnisse zu ermöglichen.
Leider geht gerne vergessen, dass Antonin Dvořák (1841-1904) im Schatten der überpopulären 9. Sinfonie "Aus der neuen Welt" noch acht weitere Sinfonien hinterlassen hat, die es mehr als wert sind entdeckt und geschätzt zu werden. Gerade die Achte stellt einen Meilenstein und eine Wendung in der kompositorischen Reife des böhmischen Meisters dar. "Mein Kopf ist voller Ideen, wenn man sie nur sofort niederschreiben könnte", schrieb er 1889 an einen Freund. Nach der Arbeit an den dreizehn Klavierstücken, op. 85 machte er sich daran, die Vielzahl der Ideen in einer Sinfonie zu verarbeiten. Formal entspricht sie zwar mit ihren vier Sätzen der traditionellen sinfonischen Grossform, doch die Verarbeitung des reichen motivischen Materials ist von einer nie erlahmenden, beinahe improvisierenden Schaffenslust geprägt. Dabei nimmt er die poetische Grundstimmung der dreizehn Klavierstücke auf, die wie eine Studie zur 8. Sinfonie wirken können. Auf den schnellen Kopfsatz in Sonatenform folgt ein serenadenhaftes Adagio, in dem sich Hell und Dunkel abwechseln. Der dritte Satz, ein graziles, walzerartiges Scherzo, scheint eine Referenz an Tschaikowski darzustellen. Mit Fanfarenstössen der Trompeten wird der kraftvolle Finalsatz eingeleitet. Variationen prägen die musikalische Struktur. Dvořák lässt ihn mit einer triumphalen Coda enden.
Wegen (finanzieller) Streitigkeiten mit seinem bisherigen Verleger Simrock liess Dvořák die Sinfonie bei Novello in London herausgeben. Dieser Umstand und der damit verbundene Erfolg, den Dvořák mit der Sinfonie in England hatte, brachten der Achten den Beinamen "Die Englische" ein.