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Zürich, Opernhaus: ON THE MOVE (Ballettabend), 14.01.2023

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Ballett

Copyright aller Bilder: Gregory Batardon, mit freundlicher Genehmigung Ballett Zürich

Erster Teil: ON THE MOVE | Choreographie: Hans van Manen | Musik: Sergej Prokofiew | 2. Teil: TAL | Choreographie: Louis Stiens | Musik: Claude Debussy, Maurice Ravel | 3. Teil: LONTANO | Choreographie: Christian Spuck | Musik: Györgi Ligeti, John Zorn, Frédéric Chopin, Alice Sara Ott

Aufführungen in Zürich: 14.1. | 15.1. | 21.1. | 22.1. | 27.1. | 28.1. | 29.1. | 2.2. | 4.2. | 11.2.2023

Kritik:

BEWEGUNG HEISST AUCH ABSCHIED NEHMEN

Ballettdirektor Christian Spuck hat sich für die letzte von ihm verantwortete Premiere etwas ganz Besonderes einfallen lassen: Er präsentierte Werke dreier Choreografengenerationen, ON THE MOVE, choreografiert von Ballettlegende Hans van Manen, TAL, choreografiert vom jungen, talentierten Louis Stiens und Spuck selbst, als der mittleren Generation angehörend, präsentierte mit LONTANO ein neues Werk mit seiner Handschrift. Zusammengefasst wurden die drei ganz unterschiedlichen Kurzchoreografien unter dem Titel von Hans van Manens Ballett ON THE MOVE. Denn die Bewegung mit inhärentem Abschied kennzeichnen die drei Werke.

LICHTE REINHEIT UND KLARHEIT

Hans van Manen hatte sich für seine 1992 entstandene Choreografie ON THE MOVE Prokofiews erstes Violinkonzert vorgenommen. Die klassizistische Klarheit und Reinheit des Ausdrucks in der Musik Prokofiews spiegeln sich aufs Allerschönste in van Manens Choreografie und den farblich so sorgsam abgestimmten Trikots von Keso Dekker, sowie in der schlichten, aber ungemein stimmungsvollen und den reinen Tanz so fantastisch ausleuchtenden und unterstreichenden Lichtgestaltung von Joop Caboort. Auf der Bühne erleben wir sieben Paare, jedes ist durch eine andere Farbe der Trikots gekennzeichnet. Zwei Paare erhalten solistische Aufgaben, das rote (Michelle Willems und Matthew Knight) und das schwarze (Katja Wünsche und Jan Casier) Paar. Die restlichen fünf Paare (Inna Bilash und Cohen Aitchison-Dugas, Francesca Dell'Arie und Jesse Fraser, Chandler Hammond und Daniel Mulligan, Aufrore Aleman Lissitziy und Mark Geilings, Sujung Lim und Loïck Pireaux) brillieren zusammen mit den beiden solistisch eingesetzten Paaren mit formvollendeter Synchronizität, klassischem Bewegungsvokabular, welches fliessend einfach erscheint und doch in seiner Ausführung allerhöchste Konzentration, Koordination und Kraft erfordert, aber immer eine berührende Leichtigkeit ausstrahlt. Van Manens Meisterschaft besteht darin, dass er die Musik, deren melodische Struktur und den Rhythmus im Tanz phänomenal aufnimmt, dabei aber nie in die Falle eines plakativen Verdoppelungseffekts tappt. Prokofiews Musik wird mit bestechender interpretatorischer Einfühlungskunst umgesetzt, verspielte kleinste musikalische Figuren werden durch die Glieder der Tänzer*innen geführt, verleihen dem Tanz subtile Details, ohne den tänzerischen Fluss ins Stocken geraten zu lassen. DAS ist Meisterschaft! Rasante, perfekt ausgeführte Schrittfolgen im Scherzo des zweiten und im Allegro moderato des dritten Satzes lassen staunen, die verträumteren "romantischen" Passagen erhalten durch die fantastischen Tänzer*innen eine bewegende Klarheit und eine geradezu stupende Perfektion und Eleganz. Und wenn sich am Ende das rote Paar von der restilchen Gruppe entfernt, der Mann aber noch kurz stehenbleibt und einen wehmütigen Blick zurück auf seine Kamerad*innen wirft, trifft dies den melancholischen Augenblick des Abschieds genau auf den Punkt. Wunderbar!

Prokofiews Violinkonzert wird live gespielt (an welchem anderen Theater kann man sich einen dreiteiligen Ballettabend mit grossem live spielendem Orchester noch leisten?). Was da aus dem Graben von der Philharmonia Zürich unter der Leitung von Alvetina Ioffe und der phänomenal sauber und traumhaft schön intonierenden Geigerin und ersten Konzertmeisterin der Philharmonia Zürich, Hanna Weinmeister, erklingt, würde jedem grossen Konzertsaal zur Ehre gereichen. Hochklassig!!!

WIRBELLOSE

Zu Recht vollkommen anders gerät der zweite Teil des spannenden Abends. Die Bühne (Konzeption: Bettina Katja Lange) ist nun nicht mehr leer, sondern wird von einem Monolithen auf fahrbarem Gestell beherrscht. Dieser Gesteinsbrocken stammt eventuell von einem Meteoriteneinschlag. Jedenfalls strahlt die Choreografie des jungen Louis Stiens eine Art Endzeitstimmung aus. Die Menschen sind nackt (fleischfarbene Ganzkörpertrikots, von Lous Stiens selbst entworfen). Eine Soundcollage (von Michael Utz, auf dem Zürcher Hausberg Uetliberg eingefangen) sorgt für rätselhafte Stimmungen zwischen und vor den Orchesterwerken von Debussy und Ravel. Die neun Tänzer*innen (Matthew Knight, Katja Wünsche, Leroy Mokgatle, Meiri Maeda, Mark Geilings, Jesse Fraser, Emma Antobus, Jessica Beardsell und Luca D'Amato) bewegen, ja kriechen vorwiegend auf dem Boden oder rutschen in halslbrecherischer Art auf dem Felsbrocken herum. Sie vollführen da oft Figuren mit hohlem Kreuz, wie Schlangenmenschen oder eben Wirbellose. Sind es letzte Überlebende einer Katastrophe, die die Natur neu erkunden oder ist es eine evolutionäre Entwicklung? In keinem Moment jedenfalls verlieren sie die Bodenhaftung, kaum Hebefiguren, schon gar keine Sprünge, dagegen viele angewinkelte Glieder und eben immer wieder die Nähe und den Kontakt zur Erde suchend. Im letzten Teil verdient ein kraftvoller Pas de deux zweier Männer Aufmerksamkeit: Nähe und Ablehnung liegen ganz nah beieinander, das ist ausgesprochen kunstvoll und energiegeladen choreografiert.

Die Musik Debussys (Nuages) und Ravels (Le Gibet, aus GASPARD DE LA NUIT, in der Orchesterfassung von Marius Constant und UNE BARQUE SUR L'OCÉAN aus MIROIRS) wird von der Philharmonia Zürich unter der Leitung von Alvetina Ioffe sehr stimmungsvoll die impressionistischen Klangräume aushorchend interpretiert. Im dritten Teil kuscheln sich die nackten Wirbellosen in eine Mulde des Felsens - sie suchen Geborgenheit. Ein nachdenklich stimmendes Stück, rätselhaft, aber originell.

SPUCKS LETZTE CHOREOGRAFIE FÜR ZÜRICH

Ein wenig Wehmut kommt auf: Während elf äusserst erfolgreicher Jahre hat Christian Spuck das Ballett Zürich geleitet und zu einem Publikumsmagneten gemacht. Die Ballettvorstellungen haben eine höhere Auslastung erreicht als die meisten Opernproduktionen, das will etwas heissen. Nicht nur seine eigenen abendfüllenden Handlungsballette feierten Riesenerfolge; Spuck hat immer wieder Gastchoreograf*innen eingeladen, welche ebenfalls sensationelle Ballettabende zeigten (man denke nur an Crystal Pite!) Gestern nun präsentierte er mit LONTANO seine letzte Arbeit für sein Ballett Zürich, die letzte Ballettpremiere der Spielzeit wird er (was für eine schöne Geste!) seiner Nachfolgerin Cathy Marston überlassen.

Natürlich war es sein Anliegen, nochmals all die fantastischen Tänzer*innen, mit denen er in den vergangenen Jahren so erfolgreich zusammengearbeitet hatte, in sein Kurzchoreografie einzubinden. (Ich hoffe, ich liege richtig, wenn ich behaupte, dass er bis anhin nur abendfüllende Arbeiten in Zürich gezeigt hatte.)

Die Ästhetik seiner Choreografien in Zürich wurde oft geprägt von seiner bevorzugten Kostümbildnerin Emma Ryott und dem Bühnenbildner Rufus Didwiszus. Diese vertrauensvolle Zusammenarbeit wurde mit LONTANO fortgesetzt. Didwiszus hat eine kippbare, mit Leuchtröhren umrandete Decke konstruiert, welche die Szene beherrscht. Die ganz in Petrol und Flaschengrün gehaltenen Kostüme waren von grosser Schlichtheit und betonten die Körpersprache der 31 auf der Bühne auftretenden Tänzer*innen. Das war alles sehr ästhetisch anzusehen, wie sie sich um den halbnackten, tätowierten Daniel Mulligan scharten, immer wieder zu kunstvoll arrangierten Gruppen- und Paartänzen fanden. Intimität und Kraft hatten ihren Platz. Spuck liess die flächige Musik, welche Ligeti in LONTANO komponierte, mit John Zorns Kil Nidre, Alice Sara Otts Lullaby to Eternity und einem Pélude von Chopin kontrastieren. Meiner Ansicht nach wurde so die Wirkung von Ligetis aufgefächertem Klangteppich, diesem faszinierenden schwebenden Klangraum ohne Rhythmus und Melodie, relativiert. Ich verstehe die Absicht, aber bin vom Ergebnis nicht restlos überzeugt. Ligetis Musik in Körperlichkeit umzusetzen erweist sich meines Erachtens als sehr schwierig; zu bewegt geriet die Choreografie, konterkarierte so quasi die Bewegungslosigkeit der Musik, wirkte leicht beliebig. Vieles war wirklich ausgesprochen schön und ästhetisch anzusehen, vor allem das Ende in absoluter Stille war sehr berührend, mir wurde allerdings nicht ganz klar, wohin der Tanz zielte. Es ging mir wie beim Anhören der Musik: Man weiss, da ist etwas, aber WAS dieses ETWAS ist, wird nicht ganz klar. Klar wurde hingegen, dass man die Dirigentin Alvetina Ioffe gerne wieder in Zürich erleben möchte. Auch der Ligeti erklang mit grandioser Gestaltungskraft - eine Musik, die man am liebsten nur konzertant und nicht vertanzt erleben möchte.

Die drei Choreografien und ihre Musik

Für ON THE MOVE hatte die Ballettlegende Hans van Manen (letztes Jahr 90 jährig geworden) im Jahr 1972 als Musikstück auf Empfehlung eines befreundeten Kritikers Prokofiews erstes Violinkonzert gewählt (nach anfänglichem Zögern, wie er im Interview mit dem Magazin des Opernhauses erzählt). Dieses erste Violinkozert Prokofiews entstand 1916/17 noch in Russland. Es beginnt innig-lyrisch, dieses Einleitungsthema wird mit einem burlesk-grotesken Thema kontrastiert. Äusserst virtuos und vivacissimo setzt der zweite Satz, das Scherzo, ein. Im Finale zieht zuerst Besinnlichkeit, Eleganz und Gesanglichkeit ein. Das im Kopfsatz vorgestellte Andantino-Thema kehrt wieder und bestätigt die rundende Bogenform der Komposition. Die Uraufführung fand dann allerdings (als Folge der Revolutionswirren in Russland und Prokofiews vorübergehender Ausreise in die USA) erst am 18. Oktober 1923 in Paris statt. Zuerst nur mit mässigem Erfolg, da das Pariser Publikum das Werk als zu antiquiert (Mendelssohnisch...) befand. Schon balld aber setzte es sich von einer Aufführung in Prag ausgehend durch und trat seinen Siegesszug quer durch Europa und die USA an. ON THE MOVE gehört zu den 60% der rund 150 Choreografien des Meisters, zu denen Hans van Manen immer noch steht (nach eigenen Aussagen gehören die restlichen 40% weg), er hat sie 2017 nochmals überarbeitet und das Ballett der Oper Zürich darf sie nun also aufführen.

Louis Stiens wählte für seine Choreografie TAL Musik der Impressionisten Debussy und Ravel aus. Genau wie Debussy (1862-1918) und Ravel (1875-1937) in ihrer Musik Naturerfahrungen oder Bilder der Natur sublimierten, z.B. Debussy in NUAGES oder Ravel in UNE BARQUE SUR L'OCÉAN will Stiens in seiner Choreografie der Frage nachgehen, wie sich Naturerfahrungen in den letzten 100 Jahren gewandelt haben, auch angesichts der Tatsache, dass vom Menschen unberührte Natur kaum mehr zu erfahren ist. Zusätzlich integriert Stiens die Orchesterfassung des zweiten Satzes aus Ravels GASPARD DE LA NUIT in seine Choreografie. Darin schildert Ravel wie die Gebeine eines Gehenkten in der Abendsonne am Galgen baumeln, während aus der Ferne die Armesünderglocke ertönt. Die Musik von Debussy und Ravel wird mit Klangcollagen des Sounddesigners Michael Utz kontrastiert. Diese Soundlandschaft soll in einen Dialog mit der Choreografie und dem dreidimensionalen Bühnenbild von Bettina Katjy Lange treten.

Christian Spuck verabschiedet sich nach elf erfolgreichen Jahren als Ballettdirektor in Zürich nach Berlin. Für seine letzte Choreographie für sein Ballett Zürich wählte er als Zentrum György Ligetis 1967 uraufgeführtes Stück LONTANO, bereichert mit Musik von Chopin , John  Zorn und Alice Sara Ott. Ligetis LONTANO ist ganz spezielle Musik, in ihrer flächigen Ausbreitung hoch interessant und faszinierend. Einzelne Töne fächern sich auf, entfalten sich, fallen wieder bis zur Unhörbarkeit zusammen. Kanonartig verschlingen sie sich, Crescendi und Morendi beherrschen den Sinneseindruck, schmerzhafte Spitzen in höchsten Lagen führen zu unbeqeuemem Klang im Ohr, doch das Werk findet immer wieder zur Ruhe zurück, verschwommene und entfernte Klangstrukturen führen ins Nichts. Und doch hat uns die Musik, so meint man, etwas zu sagen. Aber was ist dieses ETWAS?

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