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Hamburg, Staatsoper: DONA NOBIS PACEM (Hamburg Ballett John Neumeier), 08.12.2022

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Bach, h-Moll Messe

copyright aller Produktions-Bilder: Kiran West

Ballett von John Neumeier | Musik: Johann Sebastian Bach | Uraufführung des Balletts: 4. Dezember 2022 in Hamburg | Weitere Aufführungen: 7.12. | 8.12. | 9.12.2022 | 4.1. | 5.1. | 2.7.2023

Kritik: 

Bachs Messe in h-Moll ist wohl das Opus magnum des Meisters, ein musikalisches Kulturerbe von Weltrang. John Neumeier begegnet in seiner 172. choreografischen Arbeit (und - nach 50 Jahren - der letzten in seiner Position als Direktor des Hamburg Ballett, das seinen Namen trägt) Bachs Schöpfung mit großem Respekt. Man muss selbstverständlich nicht befürchten, dass die Messe vertanzt, verdoppelt oder banalisiert wird, denn Neumeier ist bekannt für seine Behutsamkeit und seine Sensibilität, hat er doch bereits so viele geistliche Kompositionen choreografiert wie kaum ein anderer seiner Kollegen. Titelgebend ist das die Messe beschließende DONA NOBIS PACEM, diese inständige Bitte um Frieden. Für Neumeier bildet diese das Zentrum für seine "choreografischen Episoden, inspiriert von Johann Sebastian Bachs Messe in h-Moll", wie er seine Schöpfung nennt. Der Abend beginnt ganz aus der Stille heraus, ohne Musik. Ein junger Soldat (Louis Musin, mit bewegender Intensität) taumelt traumatisiert auf die Bühne. Drei weitere Figuren treten auf, die im Verlauf des Werkes wiederkehren werden, obwohl selbstredend einer Messe keine durchgehende Handlung übergestülpt werden kann: Da ist die Witwe, die vor einer Wand mit den Bildern von Gefallenen oder Vermissten steht (Anna Laudere, wie immer mit bewegender Bühnenpräsenz). Da ist ein Fotograf (Lennard Giesenberg, der auch als Rezitator z. B. eines utopischen Textes von John Lennon und Yoko Ono - IMAGINE - und Gedichten von Kunert und Bernard ausgezeichnete Figur macht). Die Figur ist unaufdringlich angelegt, der Fotograf fungiert als wichtiger Zeuge der Schrecken der Zeit. Diese Zeugnisse scheint die Figur des ER (eine unglaublich kraftvolle und ausdrucksstarke Interpretation von Aleix Martinez, überragend) in seinem Koffer zu tragen, und er trägt offensichtlich schwer daran. Diese ER tritt in 19 der 23 Szenen auf. Aber wer ist er? ER ist Mensch, mit all seine Empfindungen und seinen Reaktionen auf die Schrecknisse der Welt, vor allem des Krieges. Wir sehen im Verlauf des Abends Soldaten, die fallen, verletzt sind mit Engeln tanzen, auch Kindersoldaten, wir und ER leiden mit, wir fühlen mit den um ihre Geliebten trauernden Frauen. Im zweiten Teil, ab dem CREDO, formt sich aus der Gemeinde auch noch eine SIE heraus (mit wunderbar Eindringlichkeit Ida Praetorius). In einer der bewegendsten Episoden wird zum Kunert-Gedicht DER SCHATTEN ein Tänzer (Alessandro Frola) sichtbar, dessen Bewegungen mit Projektionen seines eigenen Tanzes auf einer Leinwand verschmelzen. Großartig, verstörend und bewegend! Es gibt auch ( wenige) hoffnungsvolle, erfrischende, ja fast übermütige Episoden, etwa das CUM SANCTO SPIRITU, wo sich Soldaten, Engel und junge Frauen zu überschäumenden Tänzen finden. Und das ist eben auch stets die große Stärke Neumeiers und seines Hamburg Balletts: Es wird getanzt, vorwiegend klassisch und es wird nicht klobig rumgehopst! Neumeier wendet ein unfassbar reichhaltiges und doch fließendes Bewegungsvokabular an, das ist in keinem Moment repetitiv und nie die Musik blind verdoppelnd, obwohl deren Duktus in den Übergang zur Bewegung erhalten bleibt. Oftmals wird innegehalten, der Musik den ihr gebührenden Raum gegeben. Niemals begegnen wir oberflächlichem Aktionismus. Die Hamburger Compagnie setzt dies alles mit bestechender Präzision um, so kongenial wie das Werk eben auch von Bach komponiert und von Neumeier choreografiert wurde. 

Johann Sebastian Bachs Komposition erklingt aus dem Graben, mit dem Ensemble Resonanz, dem Vocalensemble Rastatt, den ausgezeichneten Solist*innen Marie Sophie Pollak (Sopran I), Sophie Harmsen (Sopran II), dem Altus Benno Schachtner, dem Tenor Julian Prégardien und dem Bassisten Konstantin Ingenpass. Die umsichtige musikalische Leitung liegt in den Händen von Holger Speck. Sie alle tragen zur Entstehung dieses "Gesamtkunstwerks" bei. John Neumeier zeichnet auch diesmal selbst verantwortlich für Bühnenbild, Licht und Kostüme, was eben entscheidend zur immensen Wirkung der Aufführung beiträgt. Wie wohltuend nahm man auch seine Aussage im Programmheft zur Kenntnis, dass er Elemente aus anderen seiner Kreationen für Hamburg in diesem Bühnenbild wieder verwendet hat, nicht als Selbstzitate, sondern weil sie eben zu passen schienen. Zitat: "Es war nie meine Art zu sagen: Es muss alles neu sein, das Alte kann man wegschmeißen." Gut zu hören und zu erleben, dass von einigen Visionären nun auch Nachhaltigkeit auf hoch subventionierten Bühnen gelebt wird.

Der 83jährige John Neumeier begeht hier seinen Abschied vom Direktorenposten nicht mit einem Knall, sondern mit einer tief empfundenen, fast introvertierten Fragestellung und einer Bitte für die Menschen, die er so liebt: DONA NOBIS PACEM! Die Stille nach der letzten Szene bewies, dass er uns mit diesem großartigen Werk berührt hat.

Werk:

Mit den Worten "Das grösste musikalische Kunstwerk aller Zeiten und Völker" kündigte der Zürcher Musiker und Verleger Hans Georg Nägeli den Druck von Bachs letztem grossem Vokalwerk an, der "Hohen Messe in h-Moll". So nannte Carl Friedrich Zelter Bachs Werk, als er Teile davon mit der Berliner Singakademie 1811 probte. Zu ersten öffentlichen Teilaufführungen kam es jedoch erst ab 1830, eine Geamtaufführung ist 1856 aus Frankfurt dokumentiert.

Bach hatte 1733 eine Missa brevis aus Kyrie und Gloria komponiert und erweiterte sie erst (1748/49) durch Hinzufügungen aus anderen Werken und vereinzelten Neukompositionen mit den Teilen Credo, Sanctus und Agnus Dei zur "Missa tota", also einer vollständigen lateinischen Messe.

Bachs h-Moll Messe genoss ab der Mitte des 19. Jahrhunderts einen legendären Ruf als Kulmination seines Schaffens. Der Bach-Biograf Philipp Spitta schrieb gar:"Von Bachs Compositionen könnte alles verloren gehen, die h-moll-Messe allein würde bis in unabsehbare Zeit von diesem Künstler zeugen, wie mit der Kraft einer göttlichen Offenbarung." Tatsächlich ist dieses Werk heutzutage das am häufigsten aufgeführte Vokalwerk Bachs, mit grossem Abstand vor der Matthäus-Passion.

Der Choreograf John Neumeier nimmt sich dieses Werk nun vor, um es nach 50 Jahren als Intendant des Hamburg Ballett in seiner letzten Saison in dieser Funktion unter dem Titel DONA NOBIS PACEM als Choreografie für sein Ballett Hamburg dem Publikum zu präsentieren. Er schreibt dazu: ""Dona Nobis Pacem" – gib uns Frieden. Dieser Titel ist mir wichtig, selbst auf die Gefahr hin, dass er auf manche naiv, pathetisch oder gar prätentiös wirken könnte. Den Titel und die Musik habe ich vor dem 24. Februar (vor dem Angriffskrieg der Russen in der Ukraine, Anm. des Verfassers) ausgewählt.
Angesichts der um sich greifenden Unversöhnlichkeit in unserer Welt bot dieser Gedanke eine wichtige Anregung, mich mit Johann Sebastian Bachs vielschichtiger Komposition zu befassen.
In meiner 50. Saison als Intendant sehe ich diese Kreation als große Chance. Es wäre für mich unvorstellbar, ein Ballett mit der h-Moll-Messe mit einer anderen Compagnie als meiner eigenen zu erarbeiten.
Etwas Derartiges ist nur mit einem vertrauten Ensemble möglich, wie es die Tänzerinnen und Tänzer meiner Compagnie in einzigartiger Weise sind."

Karten

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