Zürich, Opernhaus: ANDREA CHÉNIER (konzertant), 11.07.2024
Prominent besetzt mit Yonghoon Lee, Erika Grimaldi und George Petean, unter der Leitung von Marco Armiliato
Oper in 4 Akten | Musik: Umberto Giordano | Libretto : Luigi Illica | Uraufführung: 28. März 1896 an der Mailänder Scala | Aufführungen in Zürich: 7.7. | 11.7. und 14.7.2024
Kritik:
Was für Gründe kann es geben, dass eine Oper "nur" konzertant aufgeführt wird? Denn Oper ist ja Musiktheater, dass heisst, sie vereint das Musikalische und das Theatralische in ihrer Kunst. Wie die Gewichtung dabei sein soll, darüber wird seit Jahrhunderten gestritten. Prima la musica e poi le parole, oder doch umgekehrt? Im besten Fall wächst aus einer Aufführung eine Ebenbürtigkeit der beiden Künst heraus - noch besser, wenn es durch Bühnenbild, Kostüme und Regie zu einem alle Aspekte vereinigenden Gesamtkunstwerk reicht. Es kommt aber immer wieder zu mehr oder weniger gerechtfertigten konzertanten Aufführungen von Werken der Gattung OPER: Z.B. wenn ein Werk zwar musikalisch als wertvoll betrachtet wird, man das Libretto aber für problematisch oder minderwertig hält. Oder wenn ein Chefdirigent eines Sinfonieorchesters unbedingt seine Lesart des TRISTAN oder des FIDELIO präsentieren will. Oder wenn ein Werk, von dessen Qualitäten die Fachwelt überzeugt ist, das jedoch dem breiten Publikum zu unbekannt erscheint und man deshalb den finanziellen Aufwand einer Komplettinszenierung fürchtet. Wobei es hier auch Gegenbeispiele gibt: Die Oper Frankfurt hat es in den letzten Jahren geschafft, das Publikum für unbekanntere Werke zu interessieren und sorgte u.a. mit Opern wie Zemlinskys DER TRAUMGÖRGE, Stephans DIE ERSTEN MENSCHEN oder Rimsky-Korsakows DIE NACHT VOR WEIHNACHTEN für Publikumsrenner. Ein Rechtfertigung für konzertante Aufführungen könnte eventuell auch sein, dass man einen Opernstar verpflichtet, der sich jedoch nicht für einen längeren Zeitraum für szenische Proben zur Verfügung stellen kann/will. Und dies scheint hier in Zürich der Fall gewesen zu sein: Man wollte wohl die vielen in Zürich abgesagten Auftritte der Sopranistin Anja Harteros kompensieren mit einer konzertanten Aufführung von Giordanos Erfolgsoper ANDREA CHÉNIER. Doch es kam, wie es kommen musste: Frau Harteros sagte aus persönlichen Gründen ab, sie sagte auch die komplette Saison an ihrem Stammhaus, der Bayerischen Staatsoper, ab. Einen anderen Grund für die Ansetzung dieser konzertanten Aufführung kann ich mir kaum vorstellen. Denn Giordanos mitreissende Erfolgsoper ist erstens auf dem Zürcher Spielplan der letzten Jahrzehnte wahrlich nicht zu kurz gekommen (kann man weiter unten nachlesen), sie stellt zweitens auch kein Werk ausserhalb der Top 100 der Opern mit den meisten Aufführungen dar, wird in der kommenden Saison weltweit an mehreren Theatern von Tokyo über Kairo, bis zu den Spitzenhäusern in Wien, London, Turin, Genua usw aufgeführt. Und drittens verfügt sie über ein erstklassiges Libretto, verfasst von Luigi Illica, der mit seinen dramturgisch prägnanten Libretti auch massgeblich am Erfolg der Puccini-Opern LA BOHÈME, TOSCA und MADAMA BUTTERFLY beteiligt gewesen war.
Trotz eines musikalisch überwältigenden, packenden Abends vermisste ich gestern Abend die Szene - und ich kann mir vorstellen, dass für Menschen, die ANDREA CHÉNIER noch nie szenisch aufgeführt gesehen hatten und eventuell auch inhaltlich nicht so genau vorbereitet waren, das Verständnis der Handlung trotz Übertitelung und einer angedeuteten, etwas steifen, szenischen Einrichtung durch Silvie Döring einiges im Unklaren blieb. Wenn die Gräfin di Coigny (hervorragend gesungen von Sarah Castle) ganz alleine die Gavotte tanzt, wenn das Schäferspiel, das so stimmig die Unbedarftheit des Adels angesichts der zunehmenden Not des einfachen Volkes beschreibt, nur vom Chor intoniert wird, dann fehlt eben das Theatralische ungemein. Man hat dann vielleicht wie ich das Glück, in solchen Momenten von Erinnerungsbildern zu leben, z.B. von John Dews meisterhafter Inszenierung der Szene, wo das Bühnenbild in Schieflage gerät und die ganze aristokratische Gesellschaft tanzend in den Keller rutscht. Auch ein Paar, das in Abendkleid und Frack gewandet mit Viva la morte insiem! das nicht vorhandene Schafott besteigt, vermag nicht die Ergriffenheit einer szenischen Umsetzung zu erreichen. Es gab eigentlich nur zwei Momente, die eine berührende szenische und musikalische Verbindung eröffneten: Die Umarmung zwischen Gérard und Chénier, nachdem Gérard das Entarten der Revolutionsführung angeprangert hatte, welch ihre eigenen Kinder frisst und Frankreichs Poeten hinrichten lässt und vor allem die Szene der alten Madelon, welche ihren einzigen, minderjährigen Enkel der Revolutionsarmee anvertraut, obwohl sie bereits den Verlust ihres Sohnes zu beklagen hatte. Irène Friedli, das verdiente Ensemblemitglied des Opernhauses Zürich, sorgt mit dieser zu Herzen gehenden Szene für eine Intensität des Ausdrucks, die wahrlich aufrührt. Dieses Prendetelo! ist so ergreifend wie kaum eine andere Szene der italienischen Opernliteratur.
Unter dem feurigen, alle Schönheiten und auch die bruitistisch knallenden Effekte dieses Historiendramas auslotenden Dirigats von Marco Armiliato spielt die Philharmonia Zürich mit exeptioneller Hingabe, Verve und einer exquisiten klanglichen Balance, so dass auch die intimer orchestrierten Passagen ihr stimmiges Gewicht erhalten. So die Solovioline des Konzertmeisters im zweiten Akt oder das Solocello zu Maddalenas grosser Szene La mamma morta im dritten Akt. Das Orchester auf der Bühne erleben und in seiner farbigen Vielfältigkeit geniessen und schätzen zu können, stellt einen der positivsten Aspekte einer konzertanten Aufführung dar. Der Chor sitzt gezwungenermassen hinter dem Orchester, kann deshalb auch nicht angedeutet ins Geschehen eingreifen, was besonders in den Szenen des ersten, dritten und vierten Aktes natürlich ein immenser Nachteil ist, da die Wirkung der von Gérard ins Palais hereingeführten, elendiglich Hungernden völlig verpufft, und auch die Wankelmütigkeit der fanatisierten Anhänger Robespierres in den Akten zwei bis vier nur aus dem Text der Übertitelungsanlage erschlossen werden muss. Nichtsdestotrotz gestaltet der von Ernst Raffelsberger einstudierte Chor der Oper Zürich seine dankbare Aufgabe mit Bravour und stilistischer Subtilität, vom zart intonierten Schäferspiel, über das hungernde Volk zum blutrünstigen Pöbel.
Yonghoon Lee ist ein mit unerschöpflichen dynamischen Kräften auftrumpfender Titelheld. Was für eine makellose Stimme, mit sicher erreichten, strahlenden Höhen, grossem Atem, genauer Intonation. Wenn man auf ganz hohem Niveau etwas beanstanden könnte, dann wären es die etwas hauchigen, substanzarmen Piano- und Mezzavoce-Stellen, ansonsten ein makellos gestaltender Tenor, ohne jegliche Ermüdungserscheinungen, seinen dankbaren Arien (Un dí all'azzurro spazio, Come un bel dí di maggio), Szenen und Duetten spektakulären Glanz verleihend. Nebenbei bemerkt: Der international gefragte Tenor hat nicht erst 2018 in LA FORZA DEL DESTINO in Zürich debütiert, wie in seiner Biografie auf der Webseite des Opernhauses geschrieben steht, sondern bereits 2014 szenisch in der letzten Wiederaufnahme der Asagaroff-Inszenierung des ANDREA CHÉNIER in Zürich debütiert. Für Anja Harteros sprang nun also Erika Grimaldi ein. Die junge Italienerin verfügt über einen fantastisch geführten, echten Spinto-Sopran, mit dem sie mühelos den lyrischen Gesangslinien den geforderten dramatischen Nachdruck verleihen kann. Diese Stimme ist unglaublich schön und dramatisch zugleich, verfügt über eine mit warmem Timbre untermalte Durchschlagskraft in den Akten zwei bis vier und klingt jungmädchenhaft verspielt im ersten Akt, der fünf Jahre zuvor spielt. Der Applaus nach La mamma morta wollte verdientermassen kaum enden. Zusammen mit Yonghoon Lees so starkem Tenor stellen die beiden stimmlich (und auch optisch) ein in Kraft, Ausdauer, grossem Atem und Stimmschönheit ebenbürtiges Dream-Team dar. George Petean ergänzt diese Traumbesetzung mit einer hinreissenden, packenden, bewegenden und durch und durch imponierenden Interpretation des Gérard. Sein Arioso zu Beginn der Oper, als Lakai im Hause di Coigny, ist von anklagender Intensität geprägt, seiner grossen Szene im dritten Akt Nemico della patria verleiht er mit seinem herrlich aufblühenden, markant geführten Bariton tiefgründiges, den zwiegespaltenen Charakter Gérards fulminant einfangendes Profil. Neben den drei Hauptpersonen des im historischen Gewand daherkommenden veristischen Dramas brillieren auch die bewährten Kräfte des Opernhauses Zürich in den mittleren und kleineren Partien: Neben den bereits erwähnten Damen Irène Friedli und Sarah Castle sind dies Siena Licht Miller mit grossartiger stimmlicher Präsenz als Bersi (Maddalenas Vertraute und Bedienstete) und Stanislav Vorobyov als Roucher, dem warmstimmig-besorgten Freund Chéniers. Im ersten Akt tragen Gregory Feldman als Maestro di Casa bei der Gräfin, Brent Michael Smith als Novellist Fléville und der Abate von David Astorga Entscheidendes zur musikalisch-szenischen Illustrierung der Adelsgesellschaft vor der Revolution bei. Die degenerativen Seiten der Nach-Revolution werden von Samson Setu als Sansculotte Mathieu, Andrew Moore als brutalem Chefankläger Fouquier-Tinville und Aksel Daveyman als Dumas, Präsident des Tribunals, prägnant unterstrichen. Valeriy Murga zeigt einen zwischen Korruption und einem Hauch von Empathie schwankenden Schmidt, Kerkermeister von St.Lazare. In der wichtigsten der Nebenrollen, dem Incroyable, empfiehlt sich - einmal mehr - Omer Kobiljak mit seinem einnehmenden, wunderbar fokussierten Tenor für grössere Partien.
Fazit: Eine fulminante Oper mit Suchtpotential, überragend interpretiert von Solist*innen, Chor und Orchester. Mit Szene würde das Werk aber noch eindringlichere Wirkung erzielen!
Werk:
Wie vielen Vertretern des italienischen Verismo (Leoncavallo, Mascagni, Cilea, Zandonai) gelang Umberto Giordano mit seinem frühen Werk (er war gerade mal 29 Jahre alt) ein ganz grosser Wurf und ein Riesenerfolg, an den er mit seinen späteren Opern kaum mehr anknüpfen konnte. Obwohl der Stoff historisch ist, zählt er zu den veristischen Werken, da Giordano vor allem die hässlichen Seiten der Revolution zeigt, den Aufstieg des kleinen Mannes, die Drastik der Revolution, die ihre eigenen Kinder frisst. In der Deiecksgeschichte weist die Handlung auch in der musikalischen Umsetzung eine gewisse Parallele zu Puccinis späterer TOSCA auf. Deklamationsstil pathetischer Art wechselt mit herrlich aufblühenden ariosen Momenten und breit strömender, mitreissender Melodik. Die Oper zählt zu den bühnenwirksamsten Stücken des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
Nach dem Erfolg von ANDREA CHÉNIER und der nachfolgenden Oper FEDORA komponierte Umberto Giordano weitere Opern, doch der Erfolg blieb aus. Zwar tauchen MADAME SANS GÊNE (mit Mirella Freni war das Werk auch in Zürich zu erleben), LA CENA DELLE BEFFE (auch in Zürich zu sehen gewesen mit Daniela Dessì, Alberto Cupido und Giorgio Zancanaro) oder SIBERIA (kürzlich bei den Bregenzer Festspielen) immer mal wieder auf den Spielplänen auf, fanden jedoch nie Aufnahme ins Kernrepertoire.
Inhalt:
Die Handlung der Oper findet zwischen 1789 und 1794 statt, zur Zeit der Französischen Revolution und der Schreckensherrschaft der Jakobiner in und um Paris.
1. Akt
Der Dichter Andrea Chénier ist gegen den Adel und dessen dekadenten Lebensstil eingestellt. Durch spitze Bemerkungen der adeligen Maddalena wird er dazu gebracht, eigene Verse vorzutragen. In denen übt er harsche Kritik am Adel und dessen Lebensweise. Der Diener Gérard stört das Fest, indem er Bettler von der Strasse in den Ballsaal schleppt. Er wird aus dem Haus gejagt.
2. Akt
Andrea Chénier ist im Paris der Revolution zu einem gefeierten Mann geworden. Doch die Zeiten haben sich geändert und er wird kritisch wegen seiner Beziehungen zum Adel betrachtet und gerät unter Verdacht, nicht mehr hinter den Ideen der Revolution zu stehen. Geheime Liebesbriefe halten ihn davon ab zu fliehen. Es kommt zu einer Liebesszene, die von einem Spitzel (Un Incredibile) beobachtet wird. Der Spitzel benachrichtigt Gérard, der mittlerweile zum Sekretär der Revolution aufgestiegen ist. Zwischen Gérard und Chénier kommt es zu einem Duell, bei dem Gérard schwer verwundet zusammenbricht.
3. Akt
Gérard ist wieder genesen, hat Chénier verhaften und vor Gericht stellen lassen. Im Sitzungssaal des Revolutionstribunals taucht Maddalena auf, um ihn zu retten. Gérard erkennt sie ebenfalls und fühlt, wie seine Liebe zu ihr wieder aufflammt und stärker wird. Als Preis für Chéniers Rettung fordert er ihre Liebe und sie willigt ein. Sie hält eine ergreifende Rede über ihr Schicksal während der Revolution. Diese und ihre Bereitswilligkeit, “sich zu opfern”, lassen Gérard seine Einstellung zu Chénier ändern. Gérard tritt für ihn ein und spricht sich gegen das Todesurteil aus. Dennoch kann er nicht verhindern, dass Andrea Chénier zur Guillotine verurteilt wird. Das Volk will es so.
4. Akt
Im Gefängnis: Chénier trägt seinem Freund Roucher seine letzten Verse vor. Maddalena fasst den Entschluss, mit dem Mann, den sie liebt, zu sterben. Sie besticht den Gefängniswärter und besteigt so an Stelle einer verurteilten Delinquentin zusammen mit Chénier den Karren, der sie zum Schafott bringt. Gérard versucht, eine Begnadigung zu erwirken, doch es ist zu spät. Maddalena und Chénier sind im Tode vereint.
Musikalische Höhepunkte:
“Un dì all’azzuro spazio” (Chénier, 1. Akt)
“Come un bel dí di Maggio” (Chénier, 4. Akt)
“La mamma morta” (Maddalena, 3. Akt) bekannt als Filmmusik aus dem AIDS Drama “Philadelphia” mit Tom Hanks
“Nemico della patria” (Gérard, 3. Akt)
Von mir besuchte Aufführungen von ANDREA CHÉNIER am Opernhaus Zürich:
23.1.1994: ML: Manfred Honeck, Inszenierung: Hans Hollmann; Maddalena: Gabriele Lechner, Chénier: Francisco Araiza, Gérard: Giorgio Zancanaro
23.3.1996: ML: Manfred Honeck, Inszenierung: Hans Hollmann; Maddalena: Eliane Coelho, Chénier: Giorgio Merighi, Gérard: Giorgio Zancanaro
18.10.1998: ML: Manfred Honeck, Inszenierung: Hans Hollmann; Maddalena: Gabriele Lechner, Chénier: Giuseppe Giacomini, Gérard: Giorgio Zancnaro
24.10.2007: ML: Nello Santi, Inszenierung: Grischa Asagaroff; Maddalena: Raffaela Angeletti, Chénier: Marcello Giordano, Gérard: Lucio Gallo
15.4.2014: ML: Nello Santi, Inszenierung: Grischa Asagaroff; Maddalena: Martina Serafin, Chénier: Yonghoon Lee, Gérard: Lucio Gallo