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St.Gallen, Festspiele: ANDREA CHÉNIER, 07.07.2023

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Andrea Chénier

copyright aller Bilder: Xiomara Bender, mit freundlicher Genehmigung Theater St.Gallen, Festspiele

Oper in 4 Akten | Musik: Umberto Giordano | Libretto : Luigi Illica | Uraufführung: 28. März 1896 an der Mailänder Scala | Aufführungen in St.Gallen anlässlich der Festspiele auf dem Klosterhof: Nur noch am 1.7. | 5.7. und 7.7.2023

Kritik:

STIMMIG

Ein perfekter Sommerabend: Eine von A-Z packende Aufführung mit herausragenden Sänger*innen, einem differenziert spielenden Orchester, einem klangintensiven Chor und agilen Statisten vor der imposanten Kulisse der Barockfassade der Stiftskirche St.Gallen - Opernglück pur! Umberto Giordanos Meisterwerk ANDREA CHÉNIER begeisterte und bewegte das Publikum (standing ovation) ebenso sehr wie den Kritiker (der diese Oper übrigens wahnsinnig liebt)!

Im Zentrum der zur Zeit der französischen Revolution verorteten Handlung steht eine komplexe, schicksalshafte Dreiecksbeziehung: Der an die Ideale der Revolution glaubende Dichter Andrea Chénier, die Adlige Maddalena di Coigny und deren Bediensteter Carlo Gérard, der zum einflussreichen Sekretär der jakobinischen Schreckensherrschaft aufsteigt. Für diese drei Protagonisten hatte Giordano unglaublich starke Arien, Duette und Szenen komponiert, die, wenn sie von den Anforderungen entsprechende Interpret*innen gestaltet werden, ihre eindringliche Wirkung nie verfehlen. Die Festspiele St.Gallen konnten drei fantastische Sängerpersönlichkeiten für diesen Verismo-Thriller verpflichten, welche ihre Partien mit Bravour sangen. An der Derniere gestern Abend stand wieder die Premierenbesetzung auf der Freilichtbühne im Klosterhof. Jorge Puerta sang einen überragenden Chénier. Sein Tenor strahlte kraftvoll, geschmeidig, ohne jegliche Registerbrüche - und er verfügte auch über ein überaus tragfähiges Piano, so zum Beispiel in der wunderbar einfühlsam gestalteten Arie im Finalakt Un bel dì di maggio, mit ihren trauerumflorten, zarten Phrasen. Pures Tenorglück verströmte er auch mit seiner crescendierenden Emphase und der stupenden Höhensicherheit in seiner Arie Un dì all' azzurro spazio und in den fantastischen, ja geradezu ekstatischen Duetten mit Maddalena. Für diese Rolle besass Ewa Vesin die perfekte Stimme: Was für eine Kraft, was für ein Timbre - eine Idealbesetzung fürs veristische Repertoire. Von der aufmüpfigen, gerne provozierenden und etwas oberflächlichen jungen Dame im ersten Akt wandelte sie sich zur mutigen, dem Schicksal trotzenden jungen Frau. Ihre grosse Arie La mamma morta, in der sie ihren Kampf ums Überleben schildert, war von tief bewegender Innigkeit und unter die Haut gehenden Aufschwüngen ihrer fantastischen Sopranstimme geprägt, eine Stimme, die keine Grenzen zu kennen schien und trotzdem nie zu forcieren brauchte, einfach natürlich kraftvoll strömte - und von der Klangfarbe her leicht an eine ganz berühmte Vorgängerin erinnerte (deren Aufnahme der Arie im Aids-Drama PHILADELPHIA verwendet worden war), hinter der sich Frau Vesin aber nicht zu verstecken brauchte - im Gegenteil! Der dritte Sänger in diesem Terzett war der Bariton Alexey Bogdanchikov, welcher als Carlo Gérard wohl die grösste und spannendste Entwicklung aller Charaktere druchläuft. Von seiner ersten Szene an, die er mit dem Gänsehaut erregenden Ausruf È l'ora della morte abschloss, über die Kampfszene mit Chénier im zweiten und die manipulative Beeinflussung der wankelmütigen Menge, gipfelte seine Darstellungskunst in der intensiven Selbsterkenntnis im dritten Akt (Nemico della patria) und dem Vergewaltigungsversuch an Maddalena. Bogdanchikov zeichnete ein bewegendes Porträt dieses vielschichtigen Charakters. Sein ebenmässiger dramatischer Bariton verfügte über all die Farben und die Kraft, welche diese dankbare Rolle erfordern.

Doch nicht nur in den Hauptpartien erlebte man beeindruckende gesangliche Leistungen. Die mittleren und kleinen Partien sind für die Couleur dieses Dramas ausgesprochen wichtig, sie sind weit mehr, als bloss Stichwortgeber für Cabaletten, wie noch in den Opern Donizettis oder des frühen und mittleren Verdi. Besonders erwähnt werden muss Malgorzata Walewska, welche im ersten Akt als Mutter Maddalenas (Contessa di Coigny) ein differenziertes Porträt dieser uneinsichtigen - allen gesellschaftlichen und politischen Veränderungen gegenüber blinden - Vertreterin des Adelsstandes zeichnete. Im dritten Akt gestaltete sie als alte Madelon den für mich rührendsten Moment der Oper mit ganz besonderer Eindringlichkeit. Sie führt das letzte Mitglied ihrer Familie, ihren Enkel, den Jakobinern zu, die ihn als Kanonenfutter verwenden werden. Das Prendetelo rührte mich auch diesmal zu Tränen, ein veritabler Showstopper. Mack Wolz verlieh der fürsorglichen Freundin Maddalenas, Bersi, ihre farbenreiche Stimme. Mit der Partie des Roucher (Dichterfreund Chéniers und engster Vertrauter) verabschiedete sich Äneas Humm als festes Mitglied des Ensembles von St.Gallen. Noch einmal zeigte er seine grossartigen Qualitäten: Eine frei schwingende und wunderschön timbrierte Baritonstimme, welche auf einem kerngesunden, soliden Fundament ruht und von dort aus in subtilen Schattierungen zu strömen vermag. Da dringt echte Besorgnis um Chénier, aber auch leichter, freundschaftlicher Spott durch (wenn er vermutet, dass eine der leichtlebigen Merveilleuses die Verfasserin der anonymen Briefe sei). Wunderbar. Kraftvoll interpretierte Kristján Jóhannesson den Fléville und den schreierischen Mathieu, durchtrieben gestaltete Riccardo Botta den Incroyable (Spion) und sang auch den Abt. David Maze war sowohl der Haushofmeister bei den Coignys als auch der Kerkermeister, in beiden Rollen agierte er mit inteniver Bühnenpräsenz.

Die Inszenierung von Rodula Gaitanou gab den Akteuren, dem Chor und den Statisten viel Raum, den sie mit unterschiedlicher Darstellungskunst ausfüllten. Während Maddalena, Gérard und die Darsteller*innen der Nebenrollen nicht nur stimmlich grosse Präsenz und Charakterisierungskunst zeigten, wirkte Chénier in seiner Körperlichkeit zwar imposant, aber leider etwas gar leidenschaftslos als sozial engagierter und der Revolution zugeneigter Künstler. Die Bühne war diesmal eher karg, einige Käfige, Rampen, eine Gallerie, ein nach hinten geneigter stilisierter Arc de Triomphe, der dann auch mittels einer imposanten Lichtröhre zur Guillotine wurde. Bühnenbild und Kostüme: takis. (Die Arbeiten von takis wurden verschiedentlich in Design-Museen ausgestellt.) Auffällig an den Kostümen des feiernden Adels waren die leicht an den Rändern angesengten Roben. Ein dezenter Hinweis auf den (in dieser Inszenierung zu Recht lächerlichen) Tanz auf dem Vulkan, den dieser Stand bis zum bitteren Ende ausführte. Spannend und beeindruckend war die Lichtgestaltung durch Jake Wiltshire, der selbstredend die Fassade der Kathedrale immer wieder miteinbezog, sie mal in fahlem, kaltem Weiss, dann kanllrot oder in den Farben der Trikolore anstrahlen liess. Ausgezeichnet gelang auch diesmal die Abmischung des Tons durch Marko Siegmeier und Nicolai Gütter. Dank der starken Stimmen der Sänger konnte man auch den Sound des Orchesters hochdrehen und so kamen die Zuschauer*innen in den Genuss der hochklassigen, vielschichtigen Partitur Giordanos, welche Modestas Pitrenas mit herrlich herausgearbeiteten farblichen Abstufungen zum Erklingen brachte - wie stets in St.Gallen unterstützt von den musikafinen Mauerseglern, welche mit frohen Nachtgesängen die Türme der Kathedrale umschwirrten. STIMMIG eben.

Werk:

Wie vielen Vertretern des italienischen Verismo (Leoncavallo, Mascagni, Cilea, Zandonai) gelang Umberto Giordano mit seinem frühen Werk (er war gerade mal 29 Jahre alt) ein ganz grosser Wurf und ein Riesenerfolg, an den er mit seinen späteren Opern kaum mehr anknüpfen konnte. Obwohl der Stoff historisch ist, zählt er zu den veristischen Werken, da Giordano vor allem die hässlichen Seiten der Revolution zeigt, den Aufstieg des kleinen Mannes, die Drastik der Revolution, die ihre eigenen Kinder frisst. In der Deiecksgeschichte weist die Handlung auch in der musikalischen Umsetzung eine gewisse Parallele zu Puccinis späterer TOSCA auf. Deklamationsstil pathetischer Art wechselt mit herrlich aufblühenden ariosen Momenten und breit strömender, mitreissender Melodik. Die Oper zählt zu den bühnenwirksamsten Stücken des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Inhalt:

Die Handlung der Oper findet zwischen 1789 und 1794 statt, zur Zeit der Französischen Revolution und der Schreckensherrschaft der Jakobiner in und um Paris.
1. Akt
Der Dichter Andrea Chénier ist gegen den Adel und dessen dekadenten Lebensstil eingestellt. Durch spitze Bemerkungen der adeligen Maddalena wird er dazu gebracht, eigene Verse vorzutragen. In denen übt er harsche Kritik am Adel und dessen Lebensweise. Der Diener Gérard stört das Fest, indem er Bettler von der Strasse in den Ballsaal schleppt. Er wird aus dem Haus gejagt.
2. Akt
Andrea Chénier ist im Paris der Revolution zu einem gefeierten Mann geworden. Doch die Zeiten haben sich geändert und er wird kritisch wegen seiner Beziehungen zum Adel betrachtet und gerät unter Verdacht, nicht mehr hinter den Ideen der Revolution zu stehen. Geheime Liebesbriefe halten ihn davon ab zu fliehen. Es kommt zu einer Liebesszene, die von einem Spitzel (Un Incredibile) beobachtet wird. Der Spitzel benachrichtigt Gérard, der mittlerweile zum Sekretär der Revolution aufgestiegen ist. Zwischen Gérard und Chénier kommt es zu einem Duell, bei dem Gérard schwer verwundet zusammenbricht.
3. Akt
Gérard ist wieder genesen, hat Chénier verhaften und vor Gericht stellen lassen. Im Sitzungssaal des Revolutionstribunals taucht Maddalena auf, um ihn zu retten. Gérard erkennt sie ebenfalls und fühlt, wie seine Liebe zu ihr wieder aufflammt und stärker wird. Als Preis für Chéniers Rettung fordert er ihre Liebe und sie willigt ein. Sie hält eine ergreifende Rede über ihr Schicksal während der Revolution. Diese und ihre Bereitswilligkeit, “sich zu opfern”, lassen Gérard seine Einstellung zu Chénier ändern. Gérard tritt für ihn ein und spricht sich gegen das Todesurteil aus. Dennoch kann er nicht verhindern, dass Andrea Chénier zur Guillotine verurteilt wird. Das Volk will es so.
4. Akt
Im Gefängnis: Chénier trägt seinem Freund Roucher seine letzten Verse vor. Maddalena fasst den Entschluss, mit dem Mann, den sie liebt, zu sterben. Sie besticht den Gefängniswärter und besteigt so an Stelle einer verurteilten Delinquentin zusammen mit Chénier den Karren, der sie zum Schafott bringt. Gérard versucht, eine Begnadigung zu erwirken, doch es ist zu spät. Maddalena und Chénier sind im Tode vereint.

Musikalische Höhepunkte:
Un dì all’azzuro spazio” (Chénier, 1. Akt)
Come un bel dí di Maggio” (Chénier, 4. Akt)
La mamma morta” (Maddalena, 3. Akt) bekannt als Filmmusik aus dem AIDS Drama “Philadelphia” mit Tom Hanks
Nemico della patria” (Gérard, 3. Akt)

Karten

 

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