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Berlin, Deutsche Oper: ANDREA CHÉNIER, 25.05.2017

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Andrea Chénier

copyright: Bettina Stöß

Oper in 4 Akten | Musik: Umberto Giordano | Libretto : Luigi Illica | Uraufführung: 28. März 1896 an der Mailänder Scala | Aufführungen in Berlin (Wiederaufnahme): 13.5. | 17.5. | 21.5. | 25.5.2017

Kritik:

 

In vielen Opern erhalten die mittleren und kleinen Rollen wenig Profil (was weiss man schon über Ruíz in IL TROVATORE, über Normanno oder Arturo in LUCIA DI LAMMERMOOR, über Flavio in NORMA ...) oder dienen bestenfalls als Stichwortgeber, damit die Protagonisten in eine Cabaletta oder Stretta einschwenken können. Nicht so in Giordanos frühem Meisterwerk ANDREA CHÉNIER. Und deshalb (auch weil all diese Partien in der Deutschen Oper Berlin so vorzüglich besetzt sind) sollen für einmal diese Sängerinnen und Sänger an erster Stelle stehen, denn in dieser Oper trägt jede noch so kleine Partie Gewichtiges zum Kolorit des Werkes bei, vermag zu interessieren, ja wird gar zum regelrechten Showstopper. So etwa der kaum zwei Minuten dauernde Auftritt der alten, blinden Madelon, welche in einer der berührendsten Szenen der Opernliteratur ihren minderjährigen Enkel als Kanonenfutter den Revolutionsführern überlässt. Ronnita Miller vermag mit ihrer unglaublich intensiven Gestaltung dieses Auftritts und dem so ergreifend intonierten „Prendetelo“ zu Tränen zu rühren. Fantastisch auch die Bersi von Judit Kutasi, welche sich mit glutvollem Mezzosopran mühelos über den dick instrumentierten Beginn des zweiten Aktes aufschwingt, die Szene mit dem Incroyable (sehr sauber gesungen von Clemens Bieber) auch darstellerisch gekonnt meistert, nachdem sie bereits im ersten Akt in der verspielten „Kleiderdiskussion“ mit Maddalena überzeugt hatte, genauso wie die mit starker Bühnenpräsenz und charaktervoller Stimme aufwartende Annika Schlicht als Gräfin de Coigny, der mit überaus wohlklingendem Bariton und traumhaftem Legato gestaltende Dong-Hwan Lee (Fléville), und auch Attilio Glaser als Abbé trägt viel zur Milieuschilderung dieser Adelsgesellschaft bei, welche sich durch Verdrängung der Realität auszeichnet. Ein besonderes Lob gebührt auch Samuel Dale Johnson als Revolutionär Mathieu, welcher mit seinem markanten Bariton aufhorchen lässt. Über welch starkes Ensemble die Deutsche Oper Berlin momentan verfügt, zeigt sich an diesem Abend auch darin, dass man eben für kleine und kleinste Rollen exzellente Sängerpersönlichkeiten zur Verfügung hat: Seth Carico (eben noch als einer der Protagonisten in DEATH IN VENICE Triumphe feiernd) zum Beispiel, welcher als bestechlicher Gefängniswärter Schmidt im vierten Akt einen kurzen Auftritt hat, oder Derek Walton (Chefankläger Fouquier-Tinville) und Thomas Lehman (Dumas) als gnadenlose Vertreter des Revolutionstribunals. Ievgen Orlov sang einen soliden Roucher (der besorgte und treue Freund Chéniers). Wunderschön sauber und leicht klangen die Damen des Chors der Deutschen Oper Berlin in der pastoralen Szene auf dem Fest der Gräfin (Einstudierung: Raymond Hughes).

Umberto Giordano und sein Librettist Luigi Illica hatten erkannt, dass man Historie am besten anhand persönlicher Schicksale erfahrbar machen kann und deshalb haben sie die Wirren und Gewaltakte der französischen Revolution in eine spannende Dreiecksgeschichte verpackt. (Wie uns zum Beispiel auch Boris Pasternak mit DOKTOR SCHIWAGO die russische Revolution näher brachte, Tolstoi mit KRIEG UND FRIEDEN den Schrecken der napoleonischen Feldzüge schilderte, der Vierteiler HOLOCAUST einer breiten Öffentlichkeit den fürchterlichen Terror der Naziherrschaft vor Augen hielt oder wie Michael Cimino mit seinem Film THE DEER HUNTER den Horror des Vietnamkrieges gnadenlos entlarvte.) Die drei Protagonisten (der Dichter Andrea Chénier, seine grosse Liebe, die adlige Maddalena de Coigny und der ebenfalls in sie verliebte Diener Gérard) wurden vom Komponisten mit musikalisch und darstellerisch dankbaren Partien bedacht. Gérard, der Diener (und Anwalt der Armen) am Hof der Gräfin de Coigny , welcher sich zum unerbittlich verleumdenden und seine Macht missbrauchenden Revolutionsführer entwickelt, um dann spät – zu spät – zu erkennen, wie korrumpiert er selber geworden ist, wird von George Gagnidze mit wunderschön timbrierter Baritonstimme gesungen. Im ersten Akt wirkt er noch etwas steif, seine große Szene, diese Anklage gegen den verschwenderischen Lebensstil des Adels, ist zwar traumhaft sauber intoniert, doch die Leidenschaft und das Feuer des zukünftigen Revolutionärs fehlen. Stark ist er dann jedoch gestalterisch in Nemico della patria im dritten Akt. Hier kann er die Selbstzweifel offenbaren, seine Schuldgefühle transportieren. Nun ist sie auch da, die Schwärze im Timbre, die Intensität des Ausdrucks. Sehr subtil gestaltet er die Übergänge vom Rezitativen ins Cantabile, das Giordano so meisterhaft und effektvoll in Töne gesetzt hat. Am Ende, nachdem das Beil der Guillotine das Liebespaar getroffen hat, bricht Gérard vor dem Vorhang über seinen verleumderischen Anklageschriften zusammen – ein starker Schluss einer Inszenierung, die geradezu Referenzcharakter hat. John Dew gelang dies 1994, die Aufführung gestern war die 37. seit der Premiere. Dew und der Bühnenbildner Peter Sykora und der für die großartigen, stimmigen Kostüme verantwortliche José Manuel Vázquez demonstrierten damals eindringlich, dass man Stücke nicht zwanghaft aktualisieren muss, um ihre Botschaft zu transportieren, sondern dass man durch eine geschickte und spannende Realisation aus der Zeit der Historie heraus eben auch das Publikum für die Kernaussage interessieren und berühren kann. Unvergesslich z.B. der Schluss des ersten Aktes, wo zum Tanz der Gavotte der dritte Stand von unten her den Boden, auf dem der Adel tanzt, in eine Schieflage bringt und die ganze noble Gesellschaft in den Abgrund gleitet. Doch zurück zu den Protagonisten: Maddalena de Coigny entwickelt sich im Verlauf der Oper vom gerne provozierenden Backfisch der adligen Gesellschaft zur entschlossen gemeinsam mit ihrem Geliebten Chénier den Weg zum Schafott beschreitenden, bedingungslos liebenden Frau. Maria José Siri (sie war Cio-Cio San in der BUTTERFLY zur Saisoneröffnung der Mailänder Scala im letzten Dezember) vermag all diesen Charakterzügen überzeugend Ausdruck zu verleihen. Ihre Stimme verfügt sowohl über die Leichtigkeit für die Parlando-Passagen des ersten Aktes als auch über das gebotene Metall für die Aufschwünge in den Duetten im zweiten und vierten Akt. Und dann ist da natürlich noch die bekannteste Szene der Maddalena im dritten Akt: La mamma morta (bekannt auch aus dem AIDS-Drama PHILADELPHIA mit Tom Hanks). Der Librettist Luigi Illica wollte diese Szene ursprünglich der Bersi anvertrauen (da Illica mit einer Mezzosopranistin der Scala liiert war). Doch Giordano wehrte sich entschlossen dagegen, ein erbitterter Briefwechsel zwischen Komponist und Librettist folgte, man wechselte gar vom DU zum förmlichen SIE in der Anrede. Als Illica nicht nachgeben wollte, taucht Giordano mit einem Revolver in der Schreibstube Illicas auf und forderte vom zu Tode erschrockenen Librettisten das Versprechen, die Szene für die Maddalena zu schreiben. Illica willigte ein, Giordano enthüllte ihm, dass es sich nur um eine Spielzeugwaffe gehandelt hatte und die beiden blieben Freunde. Zum Glück hatte sich der Komponist durchgesetzt, denn entstanden ist eine der großartigsten und dankbarsten Szenen für einen Soprano spinto. Und über den verfügt Maria José Siri: sie vermag ihre Stimme aus fantastisch tragfähigen Piani heraus zum vollen Aufblühen zu bringen, meistert wie George Gagnidze die Übergänge vom Parlando ins Arioso wunderschön, nutzt die Skala vom zarten Diminuendo bis zum leicht metallisch gleißenden Forte ohne dabei die Kontrolle über die Linie zu verlieren. Gerade auch in dieser bewegenden Szene sticht das einfühlsame Dirigat von Paolo Carignani ins Ohr: Ausgewogen, auf Transparenz des Gesamtklangs achtend und doch die orchestralen Effekte gebührend in den Vordergrund stellend. Das Orchester der Deutschen Oper Berlin spielt die farbenreiche Partitur mit bestechender Sicherheit, traumhaft schön gespielte Solostellen (Cello, Holzbläser) und mitreißende Tutti, sowie hochkomplexe Szenen (Defilee-Marsch der Revolutionsführer im Orchester, begleitet vom Chor und den individuell geführten vier Stimmen von Gérard – Incroyable und Chénier – Roucher) gelingen bestechend.

Der Palmares des Abends jedoch gebührt ohne Wenn und Aber dem Titelhelden. Martin Muehle als Chénier erobert die Herzen und Ohren des Berliner Publikums im Sturm. Welch eine strahlend schöne Tenorstimme, klar, viril, keine Spur von verquollener Gaumigkeit (!) oder überforcierend erreichter Höhen, im Gegenteil, Martin Muehle scheint sich geradezu wohlig in sauber gehaltenen Spitzentönen zu suhlen. Zu seiner eleganten Erscheinung gesellt sich eine vorzügliche Diktion, eine Leidenschaft des Ausdrucks und (wo geboten) auch Empfindsamkeit und Reflexion. Da paart sich das Feuer des intellektuellen (und später desillusionierten) Revolutionärs mit den aufwallenden Gefühlen der Liebe. Martin Muehle begeistert in allen vier Akten mit sensationell und sicher gestalteten Arien und Szenen: Im ersten Akt ist es die Arie Un dì all’ azzurro spazio, im zweiten sein begeisternd vorgetragenes Plädoyer für die Liebe und die Kunst (Bella, ideale – Credi all’amor) und das Duett mit Maddalena, im dritten seine vehemente und glühende Selbstverteidigungsrede vor dem Revolutionstribunal  (Sì, fui soldato – Uccidi, ma lasciami l’onor!) und im Schlussakt meistert Martin Muehle ohne jegliche Ermüdungserscheinungen die mit exzellenter Phrasierung angegangene Arie Come un bel dì di maggio und das heroische Schlussduett mit Maddalena, bevor sie mit dem trotzigen Viva la morte! Insiem! der Guillotine entgegenschreiten.

Verdienter, großer Jubel für alle Beteiligten am Ende eines unvergesslichen Abends und ein Plädoyer für eine starke, publikumswirksame Oper des Veristen Umberto Giordano.

Werk:

Wie vielen Vertretern des italienischen Verismo (Leoncavallo, Mascagni, Cilea, Zandonai) gelang Umberto Giordano mit seinem frühen Werk (er war gerade mal 29 Jahre alt) ein ganz grosser Wurf und ein Riesenerfolg, an den er mit seinen späteren Opern kaum mehr anknüpfen konnte. Obwohl der Stoff historisch ist, zählt er zu den veristischen Werken, da Giordano vor allem die hässlichen Seiten der Revolution zeigt, den Aufstieg des kleinen Mannes, die Drastik der Revolution, die ihre eigenen Kinder frisst. In der Deiecksgeschichte weist die Handlung auch in der musikalischen Umsetzung eine gewisse Parallele zu Puccinis späterer TOSCA auf. Deklamationsstil pathetischer Art wechselt mit herrlich aufblühenden ariosen Momenten und breit strömender, mitreissender Melodik. Die Oper zählt zu den bühnenwirksamsten Stücken des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Inhalt:

Die Handlung der Oper findet zwischen 1789 und 1794 statt, zur Zeit der Französischen Revolution und der Schreckensherrschaft der Jakobiner in und um Paris.
1. Akt
Der Dichter Andrea Chénier ist gegen den Adel und dessen dekadenten Lebensstil eingestellt. Durch spitze Bemerkungen der adeligen Maddalena wird er dazu gebracht, eigene Verse vorzutragen. In denen übt er harsche Kritik am Adel und dessen Lebensweise. Der Diener Gérard stört das Fest, indem er Bettler von der Strasse in den Ballsaal schleppt. Er wird aus dem Haus gejagt.
2. Akt
Andrea Chénier ist im Paris der Revolution zu einem gefeierten Mann geworden. Doch die Zeiten haben sich geändert und er wird kritisch wegen seiner Beziehungen zum Adel betrachtet und gerät unter Verdacht, nicht mehr hinter den Ideen der Revolution zu stehen. Geheime Liebesbriefe halten ihn davon ab zu fliehen. Es kommt zu einer Liebesszene, die von einem Spitzel (Un Incredibile) beobachtet wird. Der Spitzel benachrichtigt Gérard, der mittlerweile zum Sekretär der Revolution aufgestiegen ist. Zwischen Gérard und Chénier kommt es zu einem Duell, bei dem Gérard schwer verwundet zusammenbricht.
3. Akt
Gérard ist wieder genesen, hat Chénier verhaften und vor Gericht stellen lassen. Im Sitzungssaal des Revolutionstribunals taucht Maddalena auf, um ihn zu retten. Gérard erkennt sie ebenfalls und fühlt, wie seine Liebe zu ihr wieder aufflammt und stärker wird. Als Preis für Chéniers Rettung fordert er ihre Liebe und sie willigt ein. Sie hält eine ergreifende Rede über ihr Schicksal während der Revolution. Diese und ihre Bereitswilligkeit, “sich zu opfern”, lassen Gérard seine Einstellung zu Chénier ändern. Gérard tritt für ihn ein und spricht sich gegen das Todesurteil aus. Dennoch kann er nicht verhindern, dass Andrea Chénier zur Guillotine verurteilt wird. Das Volk will es so.
4. Akt
Im Gefängnis: Chénier trägt seinem Freund Roucher seine letzten Verse vor. Maddalena fasst den Entschluss, mit dem Mann, den sie liebt, zu sterben. Sie besticht den Gefängniswärter und besteigt so an Stelle einer verurteilten Delinquentin zusammen mit Chénier den Karren, der sie zum Schafott bringt. Gérard versucht, eine Begnadigung zu erwirken, doch es ist zu spät. Maddalena und Chénier sind im Tode vereint.

Musikalische Höhepunkte:
Un dì all’azzuro spazio” (Chénier, 1. Akt)
Come un bel dí di Maggio” (Chénier, 4. Akt)
La mamma morta” (Maddalena, 3. Akt) bekannt als Filmmusik aus dem AIDS Drama “Philadelphia” mit Tom Hanks
Nemico della patria” (Gérard, 3. Akt)

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