Zürich: DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL, 06.11.2016
Singspiel in drei Akten | Musik: Wolfgang Amadeus Mozart | Libretto: Johann Gottlieb Stephanie d.J. | Uraufführung: 16. Juli 1782 in Wien | Aufführungen in Zürich: 6.11. | 11.11. | 20.11. | 26.11. | 2.12. | 9.12. | 15.12. | 18.12. | 21.12.2016
Kritik:
Was kann man nicht alles unter der putzig-biederen oder gar betulichen Oberfläche eines deutschen Singspiels entdecken, wenn man nur tief genug schürft! Und genau das hat Regisseur David Hermann zusammen mit der Bühnenbildnerin Bettina Meyer (exzellente Arbeit!) für diese Neuproduktion von Mozarts DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL am Opernhaus Zürich getan und dabei viel Ballast über Bord geworfen, z.B. die Dialoge, das „hohe“ und das „niedere“ Paar und (weitgehend) auch das orientalische Ambiente. Hermann und Meyer sehen die Geschichte ganz aus der Perspektive Belmontes, eines notorisch eifersüchtigen, an der Treue seiner Gemahlin zweifelnden und von Versagensängsten geplagten Zeitgenossen, der in diesem alptraumartigen Trip auch seinem Alter Ego (Pedrillo) begegnet. Denn Pedrillo und Blonde existieren in Hermanns Inszenierung nicht als eigene Charaktere, sondern sind Projektionen von Belmontes Ängsten, Sehnsüchten und inneren Visionen. Deshalb ist Pedrillo auch ein exaktes Ebenbild Belmontes und Blonde gleicht der Konstanze aufs Haar. Ausgangspunkt ist eine Eifersuchtsszene in einem schicken Restaurant, welche eskaliert und Konstanze auf die Damentoilette eilen lässt. Doch diese Tür bleibt Belmonte (verständlicherweise) verschlossen. Osmin arbeitet als Kellner im Restaurant und vertreibt nach und nach die restlichen Gäste, wenn sie nicht schon während den „Szenen einer Ehe“ pikiert die Flucht ergriffen haben. Alles was nun während dreier Akte folgt, ist eine Reise ins Innere von Belmontes Psychosen. Der Arme ist von der starken, emanzipierten Frau dermassen verunsichert, dass er schon Visionen hat: Arabische Schriftzüge werden zur Bedrohung, zum Menetekel, auch wenn sie bloss bedeuten „Dies ist Bassa Selims Haus“. Zur Arie O wie ängstlich, o wie feurig erscheinen nach und nach Burka-Trägerinnen (ach ja, die Burkas, vor denen müssen wir uns fürchten ...), engen Belmonte bedrohlich ein. Unter den schwarzen Burkas verstecken sich aber nicht nur Frauen, sondern auch Männer und intonieren dann so verhüllt den Chor der Janitscharen. Gemeinsam mit Belmonte verfolgen sie das Schauspiel im blinden Fenster, wo sich Konstanze in Bassa Selims Schlafzimmer befindet, ihre Trennung beklagt und sich dann (in Belmontes Vision) dem attraktiven Daddy-Typen Bassa Selim Trost suchend an die Brust schmiegt. Später führt Belmontes Traum in eine weissen Vorhangsgasse, die zu einem geradezu irrational hellen Licht führt und anschliessend in ein Schlafzimmer, das ganz in Aubergine-Tönen gehalten ist, der Farbe von Konstanzes (und Blondes) elegantem Seidenkleid (Kostüme: Esther Geremus). Zur Traurigkeits-Arie der Konstanze mit dem für die Inszenierung wohl zentralen Worten „Welcher Wechsel herrscht in meiner Seele ... hin sind die Freuden“ ist Belmonte in einem Glaskäfig gefangen, kann nicht zu seiner Konstanze hin. Erst bei der Rückverwandlung ins Schlafzimmer, wenn Bassa aus dem Bad tritt, ist Belmonte wieder physisch anwesend, es kommt zu einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen den beiden Männern, doch der Bassa steckt alle Schläge und Tritte in den Genitalbereich wie eine unbesiegbare Comicfigur weg, rückt seine Glieder zurecht wie der Terminator, steht wieder aufrecht und unbesiegbar da. Am Ende dieser Szene gibt es ein Gerangel auf dem Bett und der Bassa verschwindet auf mirakulöse Art in der Matratze. Während der Martern-Arie Konstanzes kommt es zum Kampf zwischen ihr und Belmonte, die Koloraturen werden zum Ausdruck der Angst vor dem gewalttätigen Partner, der ihr mittendrin ICH HASSE DICH, MICH, ALLE entgegen schreit. Nach Konstanzes Abgang kommt ihm die „andere“ Konstanze gerade recht: Deren äusserlich exakte Replika (Blonde), weist ihn nicht kalt zurück, sondern holt ihm zur Arie Welche Wonne, welche Lust mal kurz einen runter. Das weckt natürlich neue Lebensgeister und sein alter Ego, Pedrillo, singt die Arie Auf zum Kampfe, in welche Belmonte dann unisono (steht so natürlich nicht in der Partitur, macht in diesem Kontext aber durchaus Sinn) mit einstimmt. Gemeinsam liegen die beiden Männer (eigentlich ist es ja nur einer ...) dann im Bett, und man könnte fast auf die Idee kommen, Belmonte entdecke eine homophile Seite an sich selbst. Denn auch das folgende Duett Pedrillo-Osmin (Vivat Bacchus) endet mit den beiden mangels zur Verfügung stehender „blonder oder brauner Mädchen“ im Bett. Gegen Ende befinden wir uns dann wieder im Restaurant. Im grossen Fenster taucht ein Rokoko-Bühnenbild auf, da steht Osmin so gekleidet, wie wir ihn uns immer vorgestellt haben, mit Pluderhosen, Turban, langem Bart und Krummsäbel, im Hintergrund ein orientalischer Palast. Mit dem Säbel metzelt er dann alle vier (Belmonte, Konsztanze und ihre jeweiligen Alter Egos) nieder. Ihre Seelenqualen schildern Konstanze und Belmonte im Duett nicht einander, sondern den wie tot daliegenden Alter Egos. Das heisst, Konstanze wiegt den Kopf Pedrillos im Schoss, Belmonte singt zur leblosen Blonde. Der Bassa tritt nun wieder auf, sprechen darf er ja nicht, doch die Gesten sind noch viel berührender und menschlicher als leere Worte es je vermöchten. Bassa richtet die Figuren nämlich behutsam auf, setzt sie an den Ausgangspunkt zurück, also an die Tische im Restaurant – doch das Ende ist nicht versöhnlich, denn Belmonte hat keine kathartische Wirkung des Albtraums erlebt, sondern bleiben in seinen Eifersuchtsritualen gefangen, dreht sich in der tradierten Verhaltensschleife. Erneut werden einander die Wassergläser ins Gesicht geschüttet, verbarrikadiert sich Konstanze im Damenklo. Chance vertan ... . David Hermann inszeniert dieses schwarze Psychospiel mit packender Genauigkeit, handfest, nachvollziehbar, auch drastisch. Die präzise Personenführung wird von den Protagonisten und dem Chor (die Gäste im Restaurant!) bestechend umgesetzt. Eine wohldurchdachte Reise ins Innere der männlichen Seele. Leider konnten und wollten sich nicht alle Premierenbesucher auf diese Sicht, auf dieses Graben nach Tiefgang einlassen, und das Inszenierungsteam musste leider auch lautstarke Missfallensbekundungen einstecken. Mehr Applaus (aber keineswegs enthusiastischen) gab es für die musikalische Seite der Produktion, obwohl man hier – erstaunlich für Zürich - weit mehr Vorbehalte anbringen muss. Die Rollendebüts von Olga Peretyatko (Konstanze), Claire de Sévigné (Blonde) und Nahuel Di Pierro (Osmin) weisen noch Potential nach oben auf. Olga Peretyatko verfügt zwar über eine durchschlagskräftige Stimme, welch sie aber oft zu plakativ einsetzt, zu dramatisch, in der Höhe zu schnell öffnet. Das führt oft zu einer hysterisch schrillen, durch Mark und Bein gehenden Tongebung, welche im Verismo vielleicht ihren Platz hätte, bei Mozart aber doch nicht stilrein ist. In der Traurigkeits-Arie hat sie einige schöne Momente im Piano-Bereich, ansonsten bedarf es noch etwas des Feinschliffs, der Empfindsamkeit, der Rundung des Klangs, um den Eindruck der metallenen Eiseskälte zu überwinden. Clarie de Sévigné verfügt über einen apart timbrierten Sopran, dem es manchmal noch etwas an Biss und Witz fehlt. Nahuel Di Pierro beeindruckt zwar mit einem überaus angenehmen, runden Bassklang – doch hier macht sich in der Tiefe ab und an ein Mangel an körperreichr Sonorität bemerkbar. Er erreicht zwar alle tiefen Register, doch klingen sie (noch) zu dünn, zu vorsichtig. Erfahrenere Interpreten ihrer Rollen sind Pavol Breslik (Belmonte) und Michael Laurenz (er hat den Pedrillo bereits in der letzten Inszenierung 2012 verkörpert). Breslik punktet mit seiner zu empfindsamen Phrasen fähigen Mittellage, braucht aber an diesem Abend auch fast bis zur vierten Arie, der so genannten Baumeister-Arie, bis er einigermassen zu ansprechender Form findet. Michael Laurenz passt sich der Inszenierung an und gibt den Pedrillo auch gesanglich lautstark, exaltiert, manchmal an der Grenze zum Schreien – oft mit seiner Expressivität zwar überzeugend die Grenze zum Wahnsinn touchierend, doch dann auch wieder etwas befremdend in der dynamischen Übertreibung. Darstellerisch sind sie aber alle (und auch der Chor) ganz grosse Klasse! Der belgische Tänzer, Schauspieler und Choreograf Sam Louwyck ist in der (in dieser Inszenierung) stummen Rolle des Bassa Selim durch seine enorme Ausstrahlung und Bühnenpräsenz ein Gewinn. Am Pult gibt der für Teodor Currentzis (hat frühzeitig krankheitsbedingt abgesagt) die Produktion übernehmende junge Russe Maxim Emelyanychev sein Debüt am Opernhaus Zürich. Mit klarer, engagierter Zeichengebung führt er das auf historischen Instrumenten spielende Orchestra La Scintilla. Es braucht immer eine gewisse Zeit, bis man sich an diesen herben Orchesterklang bei Mozart gewöhnt hat, obwohl man mit ihm eigentlich in Zürich seit Harnoncourts Zeiten vertraut sein müsste. Passend zur Inszenierung legt Emelyanychev ziemlich zügige Tempi vor, noch nicht restlos alles klappt koordinatorisch reibungslos, doch insgesamt wird sorgfältig und konzentriert austariert musiziert.
Wie erwähnt wurden die Dialoge allesamt gestrichen – und man vermisst sie tatsächlich nicht, dank des intensiven Spiels auf der Bühne. Wenn dann mal etwas mehr Zeit für Aktionen und Interaktionen gebraucht wird, spielt man Sound-Collagen von Malte Preuss ein. Schmerzende Tinnitus-Töne, Geräusche, die an Pfeifen oder Motoren erinnern, und uns und Belmonte einen weiteren Turn of the Screw bescheren.
Fazit: Hoch interessanter Inszenierungsansatz, der erstaunlicherweise kaum mit dem Libretto-Text in Konflikt gerät, herausragende schauspielerische Leistungen der Protagonisten und eine musikalische Seite mit Entwicklungspotential in den kommenden Aufführungen. Vielleicht kam diese Produktion etwas zu schnell nach der auch musikalisch überaus beglückenden Vorgängerinszenierung vom Mai 2012.
Inhalt:
Der spanische Edelmann Belmonte sucht seine Verlobte Konstanze, welche zusammen mit ihrer Zofe Blonde und dem Diener Pedrillo von Piraten auf einen Sklavenmarkt verschleppt und dort an Bassa Selim verkauft wurden. Ein Schreiben Pedrillos hat Belmonte auf die richtige Spur gebracht. Osmin, der Diener des Bassa, verweigert Belmonte aber jegliche Auskunft und schickt ihn zum Teufel. Belmonte trifft jedoch auf Pedrillo und gemeinsam planen sie die Entführung ihrer beiden Herzdamen Konstanze und Blonde. Bassa Selim wirbt indes um Konstanzes Liebe. Die aber will ihrem Belmonte treu bleiben.
Blonde sieht sich Anzüglichkeiten Osmins ausgesetzt. Der muss jedoch von der energischen Blonde ablassen. Auch Bassa wird Konstanze gegenüber immer zudringlicher, die aber bleibt standhaft (Marternarie). Pedrillo unterrichtet seine Blonde über die Entführungspläne. Osmin wird von Pedrillo so betrunken gemacht, dass er seine Bewachungsaufgaben des Serails vernachlässigt. Die beiden Paare finden sich und machen sich bereit zur Flucht.
Belmonte und Konstanze gelingt dies vorerst auch, doch Pedrillo und Blonde werden vom aus seiner Trunkenheit erwachten Osmin festgehalten. Nun werden auch Belmonte und Konstanze gefasst. Bassa Selim erkennt in Belmonte den Sohn seines Todfeindes und will sich durch die Hinrichtung Belmontes an diesem rächen. Im letzten Moment erkennt Bassa Selim in der Mildtätigkeit ein weitaus grösseres Glücksgefühl als in der Rache. Einzig Osmin ist mit dem glücklichen Ausgang alles andere als zufrieden („Erst geköpft, dann gehangen ...“ hätte er vorgezogen.)
Werk:
Der 25jährige Mozart hatte seinen Brotherrn, den konservativ-autoritären Erzbischof von Salzburg, endgültig satt und begab sich an den Hof des reformfreudigeren Kaisers Josef II. nach Wien. Dort erhielt er bald einen Kompositionsauftrag für ein Singspiel, welches den vorherrschenden italienischen Opern Paroli bieten sollte. Mozart standen mit dem beinahe 40köpfigen Hoforchester, erstklassigen Solisten und dem Chor Mittel zur Verfügung, die damals als luxuriös galten. Da sich so genannte „Türkenstücke“ mit ihrem auch die erotische Fantasie anregenden exotischen Kolorit besonderer Beliebtheit erfreuten (auch Rossini hat erfolgreiche Opern mit diesem Sujet komponiert, z.B. L'ITALIANA IN ALGERI), machte sich Mozart voller Enthusiasmus an die Komposition. Dank Mozarts genialer musikalischer Charakterisierungskunst entstanden Figuren jenseits aller Schablonenhaftigkeit der barocken Ära, Menschen eben aus Fleisch und Blut. Carl Maria von Weber (der Komponist des FREISCHÜTZ) schrieb über DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL: „Meinem persönlichen Künstlergefühle ist diese heitere, in vollster Jugendkraft lodernde, jungfräulich zart empfindende Schöpfung besonders lieb ... .“
Die Uraufführung war für Mozart ein enormer Erfolg, er hatte das erste ernstzunehmende Meisterwerk der Gattung „deutsches Singspiel“ geschaffen. Der Kaiser meinte allerdings: „Zu schön für unsere Ohren und gewaltig viel Noten, lieber Mozart!“, worauf Mozart erwiderte: „Gerade so viel, Eure Majestät, als nötig ist.“
Musikalische Höhepunkte:
Ouvertüre, mit ihrer „Türkenmusik“
Hier soll ich dich denn sehen, Arie des Belmonte, Akt I
Wer ein Liebchen hat gefunden, Arie des Osmin, Akt I
Konstanze ... O wie ängstlich, o wie feurig, Arie des Belmonte, Akt I
Ach ich liebte, Arie der Konstanze, Akt I
Marsch, trollt euch fort, Terzett Osmin, Belmonte, Pedrillo, Akt I
Durch Zärtlichkeit und Schmeicheln, Arie der Blonde, Akt II
Traurigkeit ward mir zum Lose ... Martern aller Arten, grosse Szene mit Arie der Konstanze, Akt II
Welche Wonne, welche Lust, Arie der Blonde, Akt II
Vivat Bacchus, Bacchus lebe, Duett Pedrillo-Osmin, Akt II
Ach Belmonte, Ach mein Leben, Quartett Konstanze, Blonde, Belmonte, Pedrillo, Akt II
Ich baue ganz auf deine Stärke, Romanze des Belmonte, Akt III
In Mohrenland gefangen, Arie des Pedrillo, Akt III
Ha, wie will ich triumphieren, Arie des Osmin, Akt III
Finale: Nie werd' ich deine Huld verkennen, Akt III