Frankfurt, Oper: DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL, 05.07.2024
Singspiel in drei Akten | Musik: Wolfgang Amadeus Mozart | Libretto: Johann Gottlieb Stephanie d.J. | Uraufführung: 16. Juli 1782 in Wien | Aufführungen in Frankfurt (Wiederaufnahme): 29.6. | 3.7. | 5.7. | 13.7.2024
Kritik:
AUGEN - UND OHRENÖFFNER
Ich muss gestehen, dass ich mit Mozarts Singspiel DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL bisher immer ein bisschen meine Mühe hatte. Klar, die Gesangsnummern empfand ich immer als brillant, lustig und komisch, und äußerst virtuos komponiert, wie man es selbstredend aus Mozarts Feder erwartet. Aber ich fremdelte stets ein wenig mit der Handlung dieses zwischen orientalischem Märchen und dem klischeebehaftetem Klamauk einer Opera buffa oszillierenden deutschen Singspiels. Damit erging es mir ähnlich, wie der Regisseur dieser Frankfurter Produktion, Christof Loy, im im Programmheft schreibt: “Ich muss ja auch zugeben: Als ich zum ersten Mal das Angebot bekam, die ENTFÜHRUNG zu inszenieren, war mir das Stück das Fremdeste von allen Mozartopern.” Er hat nun aber genau das gemacht, was von einem Produktionsteam erwartet werden darf: Nämlich das genaue Studium der Partitur und vor allem des Textes. Dabei kam er zur Erkenntnis, dass man dem Text von Johann Gottlieb Stephanie d.J. und Mozarts Noten voll vertrauen und es weder bei den langen Dialogen noch bei der Musik Eingriffen oder gar Kürzungen bedarf. So erlebt man also in Frankfurt die ENTFÜHRUNG quasi strichlos, sie dauert inklusive Pausen über dreieinhalb Stunden - und man möchte keine Minute missen. Dabei hat der Ausstatter Herbert Barz-Murauer fast komplett auf Orientalismus verzichtet: Ein Gebetsteppich, wenige Kopfbedeckungen und Osmins gewaltiger Morgenrock bleiben die einzigen Anspielungen auf die Verortung in der Türkei. Ansonsten ist bis auf den Schreibtisch und fünf Stühle eine leere Bühne mit einem Wölkchenhimmel (auch auf dem Gaze-Zwischenvorhang) oder mit geschlossenen Lamellen-Jalousien auf der Rückwand zu sehen. Allerdings wird diese “Bühnenleere” durch Olaf Winters Lichtdesign bestechend mit die Handlung fantastisch unterstreichendem Licht ausgefüllt.
Während in den musikalischen Nummern vor allem die emotionalen Zustände der Protagonist*innen vertieft werden, liefern die Dialoge eminent wichtige Informationen zur Motivation der Handlung und den Ursachen der seelischen Befindlichkeiten. Und da sieht Loy zurecht DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL als direkte Vorstudie zu COSÌ FAN TUTTE. Es geht auch in der ENTFÜHRUNG um die Liebe, um das “Fremdwerden” innerhalb einer bloß scheinbar gefestigten Beziehung. Loy streicht in seiner Personenführung ganz klar heraus, dass weder Konstanze noch die (durch die Vollständigkeit ihrer Arien!) enorm aufgewertete Blonde in ihren Beziehungen zu Belmonte, respektive Pedrillo, vollständig gefestigt sind, ja erst durch die Begegnung mit den ihnen zunächst “Fremden” in einen Gefühlskonflikt gestürzt werden, aus dem sie dann am Ende zwar herausfinden, aber auf Dauer ist das bestimmt nicht sicher, denn Sicherheit in der Liebe gibt es kaum. Loy sagt: “ Die Fremdheit des Einen im Geist des Anderen ist tatsächlich das zentrale Motiv dieses Werkes.” Mit Liebe behandelt Loy szenisch auch Mozarts Figuren, genau so wie Mozart sie musikalisch mit großen Emotionen, aber auch mit einfühlsamer Wärme behandelt hatte. Selbst Osmin wird hier nicht der Lächerlichkeit preisgegeben, im Gegenteil, man hat geradezu ein Herz für diesen Mann, der mangels emotionaler Kontrolle halt zu verbalen Gewaltausbrüchen neigt, das aber nie so meint, ja fast spürt man bei ihm einen sympathisch provozierenden Sarkasmus.
So wird die Aufführung also szenisch zu einem Erweckungserlebnis (so wie es mir vor wenigen Wochen hier in Frankfurt mit dem TANNHÄUSER erging) und die musikalische Seite unterstrich und ergänzte die szenischen Aspekte aufs Eindringlichste. Giedrė Šlekytė (sie leitete Anfang Jahr eine packende WERTHER -Aufführung in Zürich) am Pult des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters bot eine perfekt ausbalancierte, nie überhastete, doch trotzdem leichtfüßig vorwärtsdrängende Lesart der Partitur, ließ Mozarts erfindungsreichen musikalischen Einfälle und Preziosen klar konturiert durch das hervorragend spielende Orchester herrlich aufschimmern und aufblitzen.
Die Ohren für diese musikalischen Kostbarkeiten wurden einem auch durch das herausragend spielfreudige und exzellent singende Ensemble geöffnet. Und ganz wichtig bei Mozart: In dieser Wiederaufnahme (Premiere war 2003, wunderbar, dass eine so wichtige, stimmige Produktion im Frankfurter Repertoire gepflegt wird!) war wirklich ein perfekt aufeinander eingespieltes Team auf der Bühne zu erleben. Magnus Dietrich (seine wunderschöne Tenorstimme war mir bereits im TANNHÄUSER aufgefallen, wo er den Walther von der Vogelweide sang) als Belmonte beeindruckte mit zartem Schmelz, wirkte in keinem Moment larmoyant, hatte Kraft und Kondition für seine Arien und gefiel mit Agilität in den Ensembles. Bereits sein Auftritt mit der ersten Arie Hier soll ich dich denn sehen aus der ersten Reihe des Parketts heraus, führte zu einer Unmittelbarkeit, die einen mit ihm zusammen ins Geschehen zog. Da traf er auf den Prachtsbass des umwerfend agierenden und stimmgewaltig (ohne je zu chargieren) singenden Thomas Faulkner als Osmin. Dieser mit ansteckender Lebendigkeit und subtilem Augenzwinkern spielende und so fantastisch singende (was für eine prachtvolle Tiefe!) Osmin wuchs fast zur Hauptperson heran. Aber eben nur fast, denn eine solche gibt’s im Stück nicht. Alle sind in ihren Ängsten und Bedürfnissen gleichwertig behandelt, von den Autoren und vom Regisseur. Die Konstanze von Adela Zaharia meisterte die gefährlichen Klippen und waghalsigen Koloraturen (Martern aller Arten) ihrer Partie mit Bravour, zeigte ihre Gefühlsschwankungen mit immenser Eindringlichkeit. Ihre große Stimme, die aber nie forciert wirkte, verlieh dieser Rolle ein gewaltiges Gewicht, verband innere Kämpfe und Innigkeit in der Traurigkeit-Szene. Dies alles führte zu einer wirklichen Anteilnahme an ihren inneren Konflikten. Soll/ wird sie sich dem Bassa Selim hingeben, ihrem Belmonte untreu werden? Dieser Bassa Selim wurde von keinem Geringeren als dem großen Schauspieler August Zirner (über 120 Film- und Fernsehrollen, viele Auftritte am Wiener Burgtheater, am Schauspielhaus Zürich, bei den Münchner Kammerspielen) mit Eleganz, emotionalen Ausbrüchen und am Ende mit bewegender humanistischer Würde und Größe dargestellt und damit ein Zeichen gegen Hass und Xenophobie setzend. Das “niedere” Paar, Pedrillo und Blonde, blieb in dieser Inszenierung nicht bloß amüsante Staffage, sondern deren Konflikte wurden von Loy genauso ernst genommen (und trotzdem ohne Zeigefinger-Moral) mit anteilnehmender Frische inszeniert. Mit dem quirligen Pedrillo von Michael Porter und der selbstbewusst agierenden Bianca Tognocchi als Blonde standen zwei exzellente Sänger-Darsteller auf der Bühne. Michael Porter imponierte mit seinem wohltimbrierten, sicher geführten Tenor, war durchschlagskräftig und spritzig. Bianca Tognocchi verlieh der Blonde eine dramatische Tiefe, wie man sie bei dieser Partie noch selten erlebt hatte. Das war weit entfernt von einer Soubrette, auch dank ihres ungemein voll und rund gefärbten Soprans, der ihr diese eindringliche Interpretation ermöglichte.
Der Chor der Oper Frankfurt und die vier Chorsoli von Julia Bell, Hyowon Jung, Ricardo Iturra und Thomas Charrois rundeten eine Aufführung ab, die für mich die Ohren und die Augen für Mozarts Singspiel öffnend war, quasi eine ultimative ENTFÜHRUNGS-Erfahrung! Christof Loy und Herbert Barz-Murauer zeigen am Ende durch das Schwarz-weiß der Kostüme des Chores und der Protagonisten (schwarze Hose/schwarzer Rock, weißes Hemd/Bluse), dass wir alle gleich sind, egal woher wir kommen, wir alle sind nämlich Menschen mit Gefühlen und Konflikten - und hoffentlich mit mehr als einem Funken Liebe und Humanismus gesegnet.
Inhalt:
Der spanische Edelmann Belmonte sucht seine Verlobte Konstanze, welche zusammen mit ihrer Zofe Blonde und dem Diener Pedrillo von Piraten auf einen Sklavenmarkt verschleppt und dort an Bassa Selim verkauft wurden. Ein Schreiben Pedrillos hat Belmonte auf die richtige Spur gebracht. Osmin, der Diener des Bassa, verweigert Belmonte aber jegliche Auskunft und schickt ihn zum Teufel. Belmonte trifft jedoch auf Pedrillo und gemeinsam planen sie die Entführung ihrer beiden Herzdamen Konstanze und Blonde. Bassa Selim wirbt indes um Konstanzes Liebe. Die aber will ihrem Belmonte treu bleiben.
Blonde sieht sich Anzüglichkeiten Osmins ausgesetzt. Der muss jedoch von der energischen Blonde ablassen. Auch Bassa wird Konstanze gegenüber immer zudringlicher, die aber bleibt standhaft (Marternarie). Pedrillo unterrichtet seine Blonde über die Entführungspläne. Osmin wird von Pedrillo so betrunken gemacht, dass er seine Bewachungsaufgaben des Serails vernachlässigt. Die beiden Paare finden sich und machen sich bereit zur Flucht.
Belmonte und Konstanze gelingt dies vorerst auch, doch Pedrillo und Blonde werden vom aus seiner Trunkenheit erwachten Osmin festgehalten. Nun werden auch Belmonte und Konstanze gefasst. Bassa Selim erkennt in Belmonte den Sohn seines Todfeindes und will sich durch die Hinrichtung Belmontes an diesem rächen. Im letzten Moment erkennt Bassa Selim in der Mildtätigkeit ein weitaus grösseres Glücksgefühl als in der Rache. Einzig Osmin ist mit dem glücklichen Ausgang alles andere als zufrieden („Erst geköpft, dann gehangen ...“ hätte er vorgezogen.)
Werk:
Der 25jährige Mozart hatte seinen Brotherrn, den konservativ-autoritären Erzbischof von Salzburg, endgültig satt und begab sich an den Hof des reformfreudigeren Kaisers Josef II. nach Wien. Dort erhielt er bald einen Kompositionsauftrag für ein Singspiel, welches den vorherrschenden italienischen Opern Paroli bieten sollte. Mozart standen mit dem beinahe 40köpfigen Hoforchester, erstklassigen Solisten und dem Chor Mittel zur Verfügung, die damals als luxuriös galten. Da sich so genannte „Türkenstücke“ mit ihrem auch die erotische Fantasie anregenden exotischen Kolorit besonderer Beliebtheit erfreuten (auch Rossini hat erfolgreiche Opern mit diesem Sujet komponiert, z.B. L'ITALIANA IN ALGERI), machte sich Mozart voller Enthusiasmus an die Komposition. Dank Mozarts genialer musikalischer Charakterisierungskunst entstanden Figuren jenseits aller Schablonenhaftigkeit der barocken Ära, Menschen eben aus Fleisch und Blut. Carl Maria von Weber (der Komponist des FREISCHÜTZ) schrieb über DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL: „Meinem persönlichen Künstlergefühle ist diese heitere, in vollster Jugendkraft lodernde, jungfräulich zart empfindende Schöpfung besonders lieb ... .“
Die Uraufführung war für Mozart ein enormer Erfolg, er hatte das erste ernstzunehmende Meisterwerk der Gattung „deutsches Singspiel“ geschaffen. Der Kaiser meinte allerdings: „Zu schön für unsere Ohren und gewaltig viel Noten, lieber Mozart!“, worauf Mozart erwiderte: „Gerade so viel, Eure Majestät, als nötig ist.“
Musikalische Höhepunkte:
Ouvertüre, mit ihrer „Türkenmusik“
Hier soll ich dich denn sehen, Arie des Belmonte, Akt I
Wer ein Liebchen hat gefunden, Arie des Osmin, Akt I
Konstanze ... O wie ängstlich, o wie feurig, Arie des Belmonte, Akt I
Ach ich liebte, Arie der Konstanze, Akt I
Marsch, trollt euch fort, Terzett Osmin, Belmonte, Pedrillo, Akt I
Durch Zärtlichkeit und Schmeicheln, Arie der Blonde, Akt II
Traurigkeit ward mir zum Lose ... Martern aller Arten, grosse Szene mit Arie der Konstanze, Akt II
Welche Wonne, welche Lust, Arie der Blonde, Akt II
Vivat Bacchus, Bacchus lebe, Duett Pedrillo-Osmin, Akt II
Ach Belmonte, Ach mein Leben, Quartett Konstanze, Blonde, Belmonte, Pedrillo, Akt II
Ich baue ganz auf deine Stärke, Romanze des Belmonte, Akt III
In Mohrenland gefangen, Arie des Pedrillo, Akt III
Ha, wie will ich triumphieren, Arie des Osmin, Akt III
Finale: Nie werd' ich deine Huld verkennen, Akt III