Stuttgart: ELEKTRA, 15.02.2017
Tragödie in einem Aufzug | Musik: Richard Strauss | Libretto: Hugo von Hofmannsthal | Uraufführung: 25. Januar 1909 in Dresden | Aufführungen in Stuttgart (Wiederaufnahme): 22.1. | 28.1. | 4.2. | 15.2. | 26.2. | 8.3.2017
Kritik:
Der Begriff "Familientragödie" sei eigentlich ein Pleonasmus - denn Familie IST Tragödie, erklärte die Dramaturgin in ihrer spannend, überaus informativ und eloquent vorgetragenen und mit launigen, assoziativen Einwürfen gespickten Einführung zu Richard Strauss' ELEKTRA an der Staatsoper Stuttgart. Dem Inszenierungsteam um Peter Konwitschny (Bühne und Kostüme: Hans-Joachim Schlieker, Video: Signe Krogh, Licht: Manfred Voss, szenische Einstudierung dieser Wiedeaufnahme: Anne Fugl) Ist ein packender, stringenter und tiefgründiger Blick in das System FAMILIE gelungen mit psychologisch wohl fundierten Analysen in die seelischen Beweg- und Abgründe der Protagonisten. Fast bis zum Ende (siehe weiter unten) war man versucht von einer geradezu beispielhaften Regiearbeit zu sprechen. In einem "Vorspiel" werden die Hintergründe, wird das auslösende Moment des Dramas gezeigt. Während im Graben das Staatsorchester seine Instrumente stimmt, badet der liebevolle Vater Agamemnon mit steinen drei Kindern Orest, Elektra und Chrysothemis vergnügt und ausgelassen in einer antiken Wanne. Ein Familienidyll, wie wir es alle aus unseren Kindertagen kennen, übermütiges Plantschen mit Schwimmreifen und Wasserpistolen. Wir, das Publikum, erkennen uns selbst in der gigantischen Spiegelwand hinter der Wanne. (Hat man schon oft gesehen, aber hier macht es für einmal wirklich Sinn!) Doch die Idylle hat ein jähes Ende, als die Gemahlin und Mutter Klytämnestra mit ihrem neuen Geliebten Aegisth hereinstürmt, Agamemnon ein Netz über den Kopf wirft und Aegisth den Mord an ihrem Gatten vor den Augen der von nun an verständlicherweise traumatisierten Kindern vollstrecken lässt. Genau in diesem Moment setzt das Staatsorchester unter der differenziert die Klangwogen disponierenden Leitung von Georg Fritzsch mit dem wuchtigen, viersilbigen Agamemnon-Motiv ein. Die Spiegelwand öffnet sich, gibt den Blick frei auf eine Sitzgruppe in weissem Kunstleder und einen bewölkten Himmel, der im Verlauf des Abends ständigen Stimmungsschwankungen unterworfen sein wird, die Szenen strukturiert oder gar mit lieblichen Wölkchen und warmem Dämmerungslicht konterkariert. Wichtiger aber ist die leuchtende Digitalanzeige, welche auf diesen Himmel projiziert wird, eine in Echtzeit rückwärts laufende Uhr, die genau in dem Moment bei Null anlangt, wo Orest seine Mutter erschießt. Während einer Stunde und sechzehn Minuten also verfolgen wir gebannt die Beziehungsstrukturen innerhalb dieser Familie: Der tote Agamemnon ist dauerpräsent, als Geist, als Einflüsterer, als Obsession, als Schuldgefühl. Wir erleben Elektra, die trotz oder gerade wegen ihrer traumatischen Kindheitserfahrung rotzfreche, etwas pummelige Gör in Jeans und schlecht sitzendem schwarzem Pullover, ausgestattet mit schwarzem Humor und beissendem Sarkasmus; wir nehmen Anteil am unglücklichen Leben ihrer Schwester Chrysothemis im weissen 50er Jahre Sommerkleid, wie sie sich nach dem Weiberschicksal, also nach Haus, Herd und Kindern sehnt (schon im Vorspiel hat sie lieber mit Puppen als mit Wasserpistolen und Kriegsschiffen gespielt wie ihre Geschwister). Und dann ist da natürlich noch die Mutter der beiden, Klytämnestra, in einem esoterisch angehauchten Look aus Violetttönen, mit etwas zerzauster blonder Perücke und dem Alkohol sehr zugetan. Ihre Mägde müssen unaufhörlich den eh schon sauberen Boden polieren, doch Schuld lässt sich nicht so leicht abwischen. In dieser klinischen Umgebung also wird das Beziehungsgeflecht zwischen Mutter und Töchtern genauestens unter die Lupe genommen, wir werden beinahe voyeuristisch Teil einer Psychoanalyse. Grandios gelungen auch die Charakterisierung des Orest: Kein rächender Held, der da aus dem Exil zurückkehrt, sondern eine von seinem Pfleger gesteuerte Marionette, eine abgerichtete Tötungsmaschine, ein Werkzeug zur Systemveränderung. Nur einmal dürfen bei ihm Emotionen aufschimmern und zwar in der unglaublich unter die Haut gehenden Erkennungszene mit Elektra. Was danach abgeht ist im wortwörtlichen Sinn ein Feuerwerk: Nachdem Klytämnestra und Aegisth von Orest erschossen und von Elektra noch zusätzlich mit dem Beil traktiert wurden, wird auf die Rückwand ein riesiges Feuerwerk projiziert, und in das Knallen mischen sich Maschinengewehrsalven, welche alles und jeden niedermähen, selbst Agamemnons Kinder. Unter letzten Zuckungen auf dem Boden liegend vollführt Elektra ihren "Tanz", Chrysothemis kann ihre Orest-Rufe grade noch absetzen, bevor sie blutüberströmt zusammenfällt. Es ist das gute Recht des Regisseurs, den schwülstigen Tönen am Ende zu misstrauen. Nach den Morden kann man die Oper nicht einfach im Jubelgesang enden lassen (auch wenn die Musik ja eigentlich nur aus dem Innern Elektras strömt). Doch ein absolutes No-go ist, dass der Schlussgesang der beiden Schwestern durch die Knallerei auf der Bühne empfindlich gestört, ja stellenweise richtig zugedeckt wird. Schade! Die Systemveränderer, welche eine neue blutige Spirale nach der Herrschaft der Atriden in Gang setzen, hätten doch auch mit Schalldämpfern morden können. Die Uhr auf der Rückwand spielt nun total verrückt und beginnt in rasendem Tempo vorwärts zu laufen, die Welt ist aus den Fugen - die Revolution wird in der Menschheitsgeschichte immer wieder ihre Kinder fressen, die Vernunft und der Frieden werden kaum je obsiegen. Zu diesem pessimistischen, destruktiven Ende wird der krasse Text der Elektra aus Heiner Müllers HAMLETMASCHINE eingeblendet.
Mit unglaublichem Engagement liessen sich die Sängerinnen und Sänger auf die Konzeption ein, da waren darstellerische Glanzleistungen zu erleben, ein Realismus jenseits aller abgedroschener Operngestik. Klasse! Rebecca Teem spielte die widerspenstige, eigensinnige Elektra mit einer gehörigen Portion Humor, ging mit ihrer ausdrucksstarken Mimik und Gestik auf ihre Partnerinnen und Partner großartig ein. Ob sie ihrer Stimme und deren Entwicklung mit der anspruchsvollen, hochdramatischen Partie wirklich einen Gefallen tut, wage ich zu bezweifeln. Sie mag zwar im ersten Monolog durchaus schöne Bögen zu singen, verfügt als vom Mezzofach herkommend auch über eine tragfähige Tiefe, doch die Spitzentöne (auch wenn sie alle da sind) klingen hässlich, zu schrill, mit Lagenbruch. Etwas besser dann die exaltierten, expressiven Töne in "...was bluten muss". In der Schlussszene ging leider ein Großteil ihres Gesanges in der Knallerei unter. Simone Schneider sang eine herausragende Chrysothemis, mit warmen, wunderbar gerundeten Tönen und herrlicher Phrasierung gestaltete sie die "liebliche" der beiden Agamemnon Töchter. Das kann man kaum besser singen! Doris Soffel als Klytämnestra konnte man schon in völlig unterschiedlichen Inszenierungen der ELEKTRA erleben. Und auch hier in Stuttgart begeisterte sie mit ihrer eindringlichen Bühnenpräsenz und der Intensität ihres stimmlichen Ausdrucks. Ganz hervorragend sang Shigeo Ishino den Orest, mit warmer, sonorer und sauber artikulierender Stimme. Torsten Hofmann überzeugte mit seinem kurzen Auftritt als Aegisth. Sebastian Bollacher gestaltete mit autoritärer Kraft die aufgewertete Rolle des Pflegers des Orest. Auch die Partien der Mägde, der Aufseherin, der beiden Diener, der Vertrauten und der Schleppenträgerin waren sehr gut besetzt, wie auch die stummen Rollen des Agamemnon (Bernhard Conrad) und der drei Kinder. Das Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung von Georg Fritzsch steuerte die erforderlichen brodelnden, glutvollen, dissonant schmerzenden aber auch aufwühlenden und zärtlichen Klänge zu einem spannenden, tief die Abgründe der Psyche, der Familie und der Gesellschaft auslotenden Opernabend bei, der bloß am Ende leicht verärgerte.
Inhalt der Oper:
Elektra lebt als Verstossene und Aussenseiterin bei den Hunden im Hof des Palastes von Mykene. Nur der Gedanke, die Ermordung ihres Vaters Agamemnon durch ihre Mutter Klytämnestra und deren Geliebten Aegisth zu rächen, erhält sie am Leben. Sie hofft auf die Rückkehr ihres Bruders Orest, um ihren mörderischen Plan zu verwirklichen. Ihre Schwester Chrysothemis, welche vor der schrecklichen Vergangenheit die Augen verschliessen möchte und sich nach einem normalen „Weiberschicksal“ sehnt, ist ihr keine Hilfe.
Klytämnestra wird von Gewissensbissen heimgesucht, sie hat „keine guten Nächte“. Sie begibt sich zu Elektra, sucht die Nähe ihrer Tochter und Hilfe zur Vertreibung der Dämonen durch Elektras Heilkünste, doch wird sie von Elektra verspottet und gedemütigt. Als Klytämnestra die Nachricht des - vermeintlichen - Todes von Orest ans Ohr dringt, lacht sie erleichtert auf. Elektra ist verstört. Selbst als Orest, welcher absichtlich die Nachricht seines Todes verbreiten liess, erscheint, erkennt ihn die eigene Schwester vorerst nicht. Orest dringt in den Palast ein und erschlägt seine Mutter. Elektra leuchtet Aegisth den Weg in den Palast, wo er ebenfalls von Orest ermordet wird. Chrysothemis meldet den Tod des usurpatorischen Herrscherpaares und die Rückkehr des tot geglaubten Bruders. Elektra beginnt einen ekstatischen Tanz des Triumphes auf dessen Höhepunkt sie tot zusammenbricht. Chrysothemis ruft nach Orest.
Werk:
Mit ELEKTRA ging der Klangmagier Richard Strauss noch einen Schritt weiter als mit der vorangehenden SALOME: Der Orchesterapparat ist gigantisch (111 MusikerInnen werden gefordert), die Leitmotive werden zu dichten Blöcken gefügt, die Grenzen der Tonalität immer wieder getestet und zum Teil gesprengt. Strauss schaffte es, mit dem Riesenapparat eine geradezu elektrisch aufgeladene Spannung zu erzeugen, welche an Intensität bis zum erlösenden, ekstatischen Schlusstanz in triumphierendem C-Dur ständig zulegt. Die an kompositorischem Raffinement kaum zu überbietende Partitur lebt vom Kontrast des Kammerspiels mit einem immer wieder quasi entfesselt auftrumpfenden Orchester. Süssliche Klänge (Walzer der Chrysothemis), tonmalerische Klänge und extreme dynamische Steigerungen (Elektra) wechseln mit herben Dissonanzen und Bitonalität (Klytämnestra). An die drei Frauenpartien werden höchste Anforderungen gestellt.
Berühmte Interpretinnen der Titelpartie waren: Anny Konetzni, Erna Schlüter, Inge Borkh, Astrid Varnay, Christel Goltz, Birgit Nilsson, Ingrid Bjoner, Dame Gwyneth Jones (unvergessen ihre Auftritte in Genf), Deborah Polaski (auch in Zürich in der Berghaus- Inszenierung zu erleben) und Pauline Tinsley.
Der Fluch der Atriden
In Mykene lebten zwei königliche Brüder, Atreus und Thyestes. Thyestes schlief mit Atreus Gemahlin. Nach Entdeckung des Seitensprungs seiner Gemahlin setzte Atreus die aus der ausserehelichen Beziehung entsprungenen Söhne seiner Frau und seinem Bruder zum Frass vor und vertrieb Thyestes. Als Strafe verhängten die Götter dem Reich des Atreus eine Dürreperiode, die erst zu Ende ginge, wenn Atreus seinen Bruder zurückkehren liesse. Unterdessen hatte Thyestes aber mit seiner eigenen Tochter einen „Rächer“ gezeugt, den Aigisth, der unerkannt am Hofe des Atreus aufwuchs und eigentlich von Atreus dazu ausersehen war, den Thyestes nach dessen Rückkehr zu ermorden. Stattdessen erschlug Aigisth seinen Onkel Atreus.
Die Söhne des Atreus, Agamemnon und Menelaos, mussten bald darauf in den Trojanischen Krieg ziehen, um die Gattin des Menelaos, Helena, zu befreien. Um günstigen Wind für seine Flotte zu erhalten, opferte Agamemnon seine Tochter Iphigenie, zum Entsetzen seiner Gemahlin Klytämnestra. Aus Trauer, Wut und Rache über den (vermeintlichen) Opfertod ihrer Tochter gab sich Klytämnestra Agamemnons Erzfeind Aigisth hin. Nach Agamemnons Rückkehr aus Troja (mit der Seherin Cassandra) wurde dieser von seiner Frau und Aigisth im Bade ermordet. Elektra, die Tochter Agamemnons und Klytämnestras, schwor Rache. Ihr Bruder Orest wurde von ihr angefeuert, die Mutter und deren Liebhaber umzubringen.
Die Erinnyen (Rachegöttinnen) verfolgten den Muttermörder. Orest konnte sich vom Fluch, der auf seinem Geschlecht lag, nur durch einen Diebstahl, den er im Tempel von Tauris begehen sollte, befreien. Dort traf er auf seine tot geglaubte Schwester Iphigenie, die jeden ankommenden Fremdling ermorden musste. Noch rechtzeitig erkannte Iphigenie in dem Fremden ihren Bruder und gemeinsam gelang ihnen die glückliche Rückkehr nach Griechenland.
Musikalische Höhepunkte:
Allein! Weh, ganz allein!, Monolog der Elektra
Ich kann nicht sitzen und ins Dunkel starren, Chrysothemis-Elektra
Ich habe keine guten Nächte, Szene Klytämnestra-Elektra
Orest, Erkennungsszene Elektra-Orest
Ob ich nicht höre – Schweig und tanze, Schlussszene Elektra-Chrysothemis