Leipzig, Oper: ELEKTRA, 05.05.2024
Tragödie in einem Aufzug | Musik: Richard Strauss | Libretto: Hugo von Hofmannsthal | Uraufführung: 25. Januar 1909 in Dresden | Aufführungen in Leipzig: 27.4. | 1.5. | 5.5.2024
Kritik:
Dem Inszenierungsteam um Peter Konwitschny (Bühne und Kostüme: Hans-Joachim Schlieker, Video: Signe Krogh, Licht: Manfred Voss, szenische Einstudierung dieser Wiedeaufnahme: Anne Fugl) Ist ein packender, stringenter und tiefgründiger Blick in das System FAMILIE gelungen, mit psychologisch wohl fundierten Analysen in die seelischen Beweg- und Abgründe der Protagonisten. Die Bezeichnung “Familientragödie” wäre - auf diese Familie angewendet - ein Pleonasmus, denn diese Familie IST Tragödie. Zum Fluch der Atriden mehr im nachstehenden Text weiter unten. Konwitschny rollt In einem "Vorspiel" die direkten Hintergründe, das auslösende Moment, des Dramas auf. Während im Graben das Gewandhausorchester seine Instrumente stimmt, badet der liebevolle Vater Agamemnon (Frank Schilcher, stumme Rolle) mit seinen drei Kindern Orest, Elektra und Chrysothemis vergnügt und ausgelassen in einer antiken Wanne. Ein Familienidyll, wie wir es alle aus unseren Kindertagen kennen: übermütiges Plantschen mit Schwimmreifen und Wasserpistolen. Wir, das Publikum, erkennen uns selbst in der gigantischen Spiegelwand hinter der Wanne. (Hat man schon oft gesehen, aber hier macht es für einmal wirklich Sinn!) Doch die Idylle hat ein jähes Ende, als die Gemahlin und Mutter Klytämnestra mit ihrem neuen Geliebten Aegisth hereinstürmt, Agamemnon ein Netz über den Kopf wirft und zusammen mit Aegisth den Mord an ihrem Gatten vor den Augen der von nun an verständlicherweise traumatisierten Kindern vollstreckt. Genau in diesem Moment setzt das Gewandhausorchester unter der Leitung von Christoph Gedschold mit dem wuchtigen, viersilbigen Agamemnon-Motiv ein. Die Spiegelwand öffnet sich, gibt den Blick frei auf eine Sitzgruppe in weissem Kunstleder und auf einen leicht bewölkten Himmel, der im Verlauf des Abends ständigen Stimmungsschwankungen unterworfen sein wird, die Szenen strukturiert oder gar mit lieblichen Wölkchen und warmem Dämmerungslicht konterkariert. Wichtiger aber ist die leuchtende Digitalanzeige, welche auf diesen Himmel projiziert wird, eine in Echtzeit rückwärts laufende Uhr, die genau in dem Moment bei Null ankommt, in dem Orest seine Mutter erschießt. Während einer Stunde und sechzehn Minuten also verfolgen wir gebannt die Beziehungsstrukturen innerhalb dieser Familie: Der tote Agamemnon ist dauerpräsent, als Obsession Elektras, fungiert als Schuldgefühl Klytämnestras, erhebt sich gar als Geist und Einfüsterer von Fake News blutüberströmt aus seinem Wannengrab. Wir erleben Elektra, ganz in Schwarz gekleidet, ausgestattet mit schwarzem Humor und beissendem Sarkasmus; wir nehmen Anteil am unglücklichen Leben ihrer Schwester Chrysothemis im weissen 50er Jahre Sommerkleid, wie sie sich nach dem Weiberschicksal, also nach Haus, Herd und Kindern sehnt (schon im Vorspiel hat sie lieber mit Puppen und dem aufblasbaren pinken Flamingo-Schwimmreif als mit Wasserpistolen und Kriegsschiffen gespielt wie ihre Geschwister). Elektras psychischer Verfassung wird ganz besonders Gewicht verliehen: Der tote Vater ist - ähnlich wie im Film PSYCHO von Hitchcock Norman Bates’ tote Mutter - ein “Gesprächspartner” für die mit dem später nach ihr benannten Komplex beladene Tochter. Sie kann an nichts anderes mehr denken, als vermeintlich in seinem Auftrag zu töten. Und dann ist da natürlich noch die Mutter der beiden Töchter Elektra und Chrysothemis: Klytämnestra. Sie ist in einen esoterisch angehauchten Look aus Violetttönen gekleidet, mit etwas zerzauster Perücke und dem Alkohol sehr zugetan. Ihre Mägde müssen unaufhörlich den eh schon sauberen Boden polieren, doch Schuld lässt sich nicht so leicht abwischen. Die ‘Leiche im Keller (hier Badewanne) lässt sich durch all den paranoiden Sauberkeitsfimmel nicht wegputzen. In dieser klinischen Umgebung also wird das Beziehungsgeflecht zwischen Mutter und Töchtern genauestens unter die Lupe genommen; wir werden beinahe voyeuristisch Teil einer Psychoanalyse, wie sie von Hofmannsthal/Strauss genau aus dem Geist der Entstehungszeit der Oper heraus intendiert worden war. Grandios gelungen auch die Charakterisierung des Orest: Kein rächender Held ist er, der da aus dem Exil zurückkehrt, sondern eine von seinem Pfleger gesteuerte Marionette, eine abgerichtete Tötungsmaschine, ein Werkzeug zur Systemveränderung. Nur einmal dürfen bei ihm Emotionen aufschimmern und zwar in der unglaublich unter die Haut gehenden Erkennungszene mit Elektra. Was danach abgeht ist im wortwörtlichen Sinn ein Feuerwerk: Nachdem Klytämnestra und Aegisth von Orest erschossen und von Elektra noch zusätzlich mit dem Beil traktiert wurden, wird auf die Rückwand ein riesiges Feuerwerk projiziert, und in das Knallen der Feuerwerkskörper mischen sich Maschinengewehrsalven, welche alles und jeden niedermähen, selbst Agamemnons Kinder. Chrysothemis kann ihre Orest-Rufe grade noch absetzen, bevor sie von Schüssen getrotstirbt. Es ist das gute Recht des Regisseurs, den schwülstigen Tönen der explosiven Finalmusik von Strauss am Ende zu misstrauen. Nach den Morden kann man die Oper nicht einfach im Jubelgesang enden lassen (auch wenn die Musik ja eigentlich nur aus dem Innern Elektras strömt). Die Systemveränderer, welche ein neues System durch eine blutige Spirale der Gewalt nach der Herrschaft der Atriden etablieren wollen, sind um keinen Deut besser, als ihre Vorgänger. Die Uhr auf der Rückwand spielt nun total verrückt und beginnt in rasendem Tempo vorwärts zu laufen, die Welt ist aus den Fugen - die Revolution wird in der Menschheitsgeschichte immer wieder ihre Kinder fressen, die Vernunft und der Friede werden kaum je obsiegen. Zu diesem pessimistischen, destruktiven Ende wird der krasse Text der Elektra aus Heiner Müllers HAMLETMASCHINE eingeblendet.
Ricardo Merbeth gibt eine geradezu exemplarische Elektra: Kraftreserven ohne Ende, strahlende, sicher und metallisch überwältigend gleißende Spitzentöne, eine kluge Durchdringung des Textes mit feinen dynamischen Abstufungen der Tongebung und einer Rundung des Tons, die es ihr erlaubt, nie hysterisch zu klingen und trotzdem Abgründe und Ängste offenzulegen. Hochklassig vom ‘Agamemnon, Vater, wo bist du?’ über ein grandios expressives ‘.... was bluten muss’ zur Zartheit der Erkennungsszene und zum im Blutrausch jubelnden Finale! Besonders gut gefiel mir auch Karin Lovelius als Klytämnestra: Sie SINGT die Partie wirklich und keift nicht bloß in panischer Hysterie. Ihre Gestaltung des vielen Textes in der ausgedehnten Traumerzählung ist hervorragend, das Timbre ihrer Stimme ausgesprochen warm und angenehm. Sie kann Verängstigung genauso adäquat ausdrücken wie Drohungen, Schmeicheleien und am Ende ihres Auftritts vermeintlichen Triumph. Jennifer Holloway singt eine warmstimmige Chrysothemis, leuchtend und einfühlsam ihr Sehnen nach ‘Normalität’, nach Mutterglück, eben nach dem ‘Weiberschicksal’ schildernd. Yorck Felix Speer begeistert mit seinem überaus wohlklingend-sonoren Bass als Orest, verströmt eine einnehmende, brüderliche Wärme. Dan Karlström ist der Aegisth. Auch er singt in seinem kurzen Auftritt wohltuend hysteriefrei. (Strauss hatte ja bekanntlich nicht viel für Tenöre übrig; so hat er halt auch die Partie des Aegisth sehr klein gehalten). Die Sänger*innen der kleineren Partien tragen viel zur unter die Haut gehenden Wirkung dieses Opernschockers bei: Yajie Zhang, Nora Steuerwald, Marie-Luise Dreßen, Olena Tokar, Idil Kutay (fünf Mägde), Merith Nath-Göbl (Vertraute), Lorraine Pudelko (Schleppenträgerin), Kathrin Göring (Aufseherin), Sven Hjörleifsson (Junger Diener), Roland Schubert (Alter Diener) und vor allem Peter Dolinšek als ausdrucksstarker Interpret der Rolle des Pflegers des Orest, dessen Partie der Regisseur Peter Konwitschny besondere Beachtung zukommen ließ: Der Pfleger ist es nämlich, der den Orest steuert, ihm die Pistole in die Hand drückt, das Massengemetzel initiiert, die Strippen des blutigen Umsturzes zieht.
Aber was wäre eine Aufführung der Oper ELEKTRA ohne Orchester? (Hofmannsthals Drama ist ja nach der Komposition der Oper eigentlich komplett von den Bühnen verschwunden.) Hier nun vermag die Oper Leipzig mit dem Gewandhausorchester im Orchestergraben ganz gewaltig (im wahrsten Sinne des Wortes) in die Ohren und das Empfinden des Publikums einzuschlagen. Wie beim ROSENKAVALIER am Vorabend steht Christoph Gedschold, der Musikdirektor der Oper Leipzig, am Pult, und wie beim ROSENKAVALIER am Vorabend denkt er glücklicherweise in keinem Augenblick daran, den unfassbar modernen, die Tonalität bis an ihre Grenzen auslotenden, mittels Polyphonie und Bitonalität den Hörer extremst fordernden Klang weichzuspülen. Das tobt und knallt mit einer Schärfe, einer lodernden Intensität und mit schmerzenden Reibungen aus dem Graben, dass man erneut vermeint, in einen unentrinnbaren Strudel geraten zu sein. Das Gewandhausorchester beschreitet diese berauschenden Klangwege mit stupender Präzison und ekstatischem Spiel. Von den 111 Musikerinnen und Musikern, welche Strauss in der Originalpartitur vorsah, saßen in der Oper Leipzig immerhin 99 im Graben. Mehr hätten auch gar nicht Platz, wie im ausgezeichneten Programmheft zu lesen ist.
Strauss' ELEKTRA so gespielt und gesungen gehört zu haben war ein Privileg!
Inhalt der Oper:
Elektra lebt als Verstossene und Aussenseiterin bei den Hunden im Hof des Palastes von Mykene. Nur der Gedanke, die Ermordung ihres Vaters Agamemnon durch ihre Mutter Klytämnestra und deren Geliebten Aegisth zu rächen, erhält sie am Leben. Sie hofft auf die Rückkehr ihres Bruders Orest, um ihren mörderischen Plan zu verwirklichen. Ihre Schwester Chrysothemis, welche vor der schrecklichen Vergangenheit die Augen verschliessen möchte und sich nach einem normalen „Weiberschicksal“ sehnt, ist ihr keine Hilfe.
Klytämnestra wird von Gewissensbissen heimgesucht, sie hat „keine guten Nächte“. Sie begibt sich zu Elektra, sucht die Nähe ihrer Tochter und Hilfe zur Vertreibung der Dämonen durch Elektras Heilkünste, doch wird sie von Elektra verspottet und gedemütigt. Als Klytämnestra die Nachricht des - vermeintlichen - Todes von Orest ans Ohr dringt, lacht sie erleichtert auf. Elektra ist verstört. Selbst als Orest, welcher absichtlich die Nachricht seines Todes verbreiten liess, erscheint, erkennt ihn die eigene Schwester vorerst nicht. Orest dringt in den Palast ein und erschlägt seine Mutter. Elektra leuchtet Aegisth den Weg in den Palast, wo er ebenfalls von Orest ermordet wird. Chrysothemis meldet den Tod des usurpatorischen Herrscherpaares und die Rückkehr des tot geglaubten Bruders. Elektra beginnt einen ekstatischen Tanz des Triumphes auf dessen Höhepunkt sie tot zusammenbricht. Chrysothemis ruft nach Orest.
Werk:
Mit ELEKTRA ging der Klangmagier Richard Strauss noch einen Schritt weiter als mit der vorangehenden SALOME: Der Orchesterapparat ist gigantisch (111 MusikerInnen werden gefordert), die Leitmotive werden zu dichten Blöcken gefügt, die Grenzen der Tonalität immer wieder getestet und zum Teil gesprengt. Strauss schaffte es, mit dem Riesenapparat eine geradezu elektrisch aufgeladene Spannung zu erzeugen, welche an Intensität bis zum erlösenden, ekstatischen Schlusstanz in triumphierendem C-Dur ständig zulegt. Die an kompositorischem Raffinement kaum zu überbietende Partitur lebt vom Kontrast des Kammerspiels mit einem immer wieder quasi entfesselt auftrumpfenden Orchester. Süssliche Klänge (Walzer der Chrysothemis), tonmalerische Klänge und extreme dynamische Steigerungen (Elektra) wechseln mit herben Dissonanzen und Bitonalität (Klytämnestra). An die drei Frauenpartien werden höchste Anforderungen gestellt.
Berühmte Interpretinnen der Titelpartie waren: Anny Konetzni, Erna Schlüter, Inge Borkh, Astrid Varnay, Christel Goltz, Birgit Nilsson, Ingrid Bjoner, Dame Gwyneth Jones (unvergessen ihre Auftritte in Genf), Deborah Polaski (auch in Zürich in der Berghaus- Inszenierung zu erleben) und Pauline Tinsley.
Der Fluch der Atriden
In Mykene lebten zwei königliche Brüder, Atreus und Thyestes. Thyestes schlief mit Atreus Gemahlin. Nach Entdeckung des Seitensprungs seiner Gemahlin setzte Atreus die aus der ausserehelichen Beziehung entsprungenen Söhne seiner Frau und seinem Bruder zum Frass vor und vertrieb Thyestes. Als Strafe verhängten die Götter dem Reich des Atreus eine Dürreperiode, die erst zu Ende ginge, wenn Atreus seinen Bruder zurückkehren liesse. Unterdessen hatte Thyestes aber mit seiner eigenen Tochter einen „Rächer“ gezeugt, den Aigisth, der unerkannt am Hofe des Atreus aufwuchs und eigentlich von Atreus dazu ausersehen war, den Thyestes nach dessen Rückkehr zu ermorden. Stattdessen erschlug Aigisth seinen Onkel Atreus.
Die Söhne des Atreus, Agamemnon und Menelaos, mussten bald darauf in den Trojanischen Krieg ziehen, um die Gattin des Menelaos, Helena, zu befreien. Um günstigen Wind für seine Flotte zu erhalten, opferte Agamemnon seine Tochter Iphigenie, zum Entsetzen seiner Gemahlin Klytämnestra. Aus Trauer, Wut und Rache über den (vermeintlichen) Opfertod ihrer Tochter gab sich Klytämnestra Agamemnons Erzfeind Aigisth hin. Nach Agamemnons Rückkehr aus Troja (mit der Seherin Cassandra) wurde dieser von seiner Frau und Aigisth im Bade ermordet. Elektra, die Tochter Agamemnons und Klytämnestras, schwor Rache. Ihr Bruder Orest wurde von ihr angefeuert, die Mutter und deren Liebhaber umzubringen.
Die Erinnyen (Rachegöttinnen) verfolgten den Muttermörder. Orest konnte sich vom Fluch, der auf seinem Geschlecht lag, nur durch einen Diebstahl, den er im Tempel von Tauris begehen sollte, befreien. Dort traf er auf seine tot geglaubte Schwester Iphigenie, die jeden ankommenden Fremdling ermorden musste. Noch rechtzeitig erkannte Iphigenie in dem Fremden ihren Bruder und gemeinsam gelang ihnen die glückliche Rückkehr nach Griechenland.
Musikalische Höhepunkte:
Allein! Weh, ganz allein!, Monolog der Elektra
Ich kann nicht sitzen und ins Dunkel starren, Chrysothemis-Elektra
Ich habe keine guten Nächte, Szene Klytämnestra-Elektra
Orest, Erkennungsszene Elektra-Orest
Ob ich nicht höre – Schweig und tanze, Schlussszene Elektra-Chrysothemis