St.Gallen, Theater: ELEKTRA; 10.05.2025
Modestas Pitrenas dirigiert Strauss' aufwühlende Partitur, Lisaboa Houbrechts inszeniert
Tragödie in einem Aufzug | Musik: Richard Strauss | Libretto: Hugo von Hofmannsthal | Uraufführung: 25. Januar 1909 in Dresden | Aufführungen in St.Gallen: 10.5. | 20.5. | 26.5. | 1.6.2025
Kritik:
„Sie geifert, gellt, speit, tobt, taumelt und würgt“, schreibt Ernst Krause über die Musik zu ELEKTRA in seinem Buch „RICHRAD STRAUSS, Gestalt und Werk“. Dieser träfen Verbalisierung von Strauss' monumentaler Partitur bleibt die St.Galler Premiere von gestern Abend nichts an Adäquatheit schuldig. Mehrerer eruptierender Vulkane gleich ergiesst sich diese Musik unter permanentem Überdruck von der Bühne und aus dem Graben in den Saal. Man ist fasziniert und zugleich abgestossen, die Ohren schmerzen – und doch verlangt man in beinahe masochistischer Art nach mehr, mehr von dieser „Fettgewebeentartung der Instrumentation“ (wie der britische Musikjournalist Neville Cardus Strauss' Orchestermagie bezeichnete). Für St.Gallen hatte der Chefdirigent Modestas Pitrenas die Orchesterfassung des österreichischen Komponisten Richard Dünser gewählt, welcher die ursprünglich von Strauss für ein Orchester von fast 120 Musiker*innen konzipierte Partitur auf eine klanglich überaus geschickt ausbalancierte Fassung für ein durchschnittliches Theaterorchester von ca. 50-60 Musiker*innen reduziert hatte. Im Gegensatz zu Dünser fügte Pitrenas aber den Schlusschor wieder ein. Das Sinfonieorchester St.Gallen spielt diese immer noch wuchtige Fassung mit nie nachlassender Spannung, gebotener zugespitzter Schärfe und herausragender klanglicher Differenzierung. Die Titelpartie der Elektra gehört zu den anspruchsvollsten und anstrengendsten des gesamten Repertoires für hochdramatische Sopranistinnen. Eliška Weissová verfügt über über diese nie nachlassende Kraft, schleudert die Töne fanfarenartig detonierend in den Raum, vom brustigen Röhren aus die Register durchschreitend zur gellenden, schmerzerfüllten, nie wackelnden Höhe. Nur ganz, ganz selten nimmt sie ihre Stimme zurück, etwa in der Szene mit ihrer Mutter Klytämnestra, wo sie die Ausdrucksweise von beissendem Sarkasmus geprägt triefen lassen kann. Ariana Lucas gestaltet diese Klytämnestra ohne übertriebene Hysterie; die Stimme sitzt perfekt und strömt schon fast zu „schön“ in ihrem grossen Monolog. Mit wunderbarer tonlicher Rundung und schönem Aufblühen gestaltet Sylvia D'Eramo Elektras sanftere, nach „Weiberschicksal“ strebende Schwester Chrysothemis. Die Stimmen von Elektra und Chrysothemis nähern sich gegen Ende in der Dezibelzahl allerdings immer mehr an. Ganz hervorragend und mit sehr lebendiger Durchdringung des Textes singen die fünf Mägde (Christina Blaschke, Jennifer Panara, Mack Wolz, Anna Mahon – auch als die Schleppenträgerin - und Kali Hardwick), sowie die Aufseherin Katrine Deleuran (sie ist auch die Vertraute Klytämnestras). Neben dem das Werk dominierenden Trio der Frauengestalten (Elektra, Klytämnestra, Chrysothemis) haben die Männer, die erst im Schlussteil auftreten, einen schweren Stand. Erst recht an den Rand gedrängt werden sie in dieser Inszenierung von Lisaboa Houbrechts, die der Lesart der Oper einige feministische Aspekte aufzudrücken versucht. Zwar hatte auch Hofmannsthal durchaus Sympathien für die Einwände eines Kritikers, welcher die Figur des Orest eigentlich für entbehrlich gehalten hatte. Strauss hingegen wollte mehr „Orest“ und schrieb seine „schönste“ Musik für die Erkennungsszene zwischen Bruder und Schwester. Lisaboa Houbrecht nun sieht in der Generation der Töchter das Matriarchat geschwächt: Klytämnestra hatte zu ihrer Zeit noch die Kraft besessen, ihren Mann selbst zu ermorden, Elektra hingegen geht diese Frauenpower ab; ständig ruft sie nach Bruder und Vater. Ein Grund für die Regisseurin, Elektra zu Orest mutieren zu lassen; dieser drückt der Schwester eine phallusartige, archaische Keule in die Hand, mit der Elektra ihre Mutter erschlägt. Den Aegisth erwürgt sie eigenhändig. Sehr überzeugend wirkt das auf mich nicht (aber ich bin ja auch ein alter, weisser Mann). Das Kinderzimmer (mit dem Mobile aus schwarzen Gespenstern, dem Kinderbett und dem Schrank, aus dem heraus Elektra zu Beginn auftritt – eine Art „Out of the closet“, ein Comingout als unerbittliche Rächerin, allerdings noch im falschen Körper) wandelt sich in der Erkennungsszene in ein Spiegelkabinett und führt so zur Selbsterkenntnis Elektras, ein Mann zu sein (Bühne: Clémence Bezat, Licht: Floriaan Ganzevoort). Die Bühnenarbeiter, welche diese szenische Verwandlung inszenieren, tragen paramilitärisches Outfit, schwarze Springerstiefel und Armyhosen, dazu Headsets für die Kommunikation. Auch Orest wirkt wie ein Regisseur oder Inspizient in Uniform. Kristján Jóhannesson singt ihn mit warmem Bariton, aber die Regisseurin verweigert ihm die Profilierung, da er ja nur als Werkzeug der geschlechtlichen Transformierung Elektras fungiert. Riccardo Botta als einstige Kampfmaschine Aegisth wird vom Kostümdesigner Oumar Dicko in einen weit geschnittenen, auberginefarbenen Anzug gesteckt, der den ihm von Elektra verliehenen Schimpfnamen „das Weib, die Memme“ trefflich unterstreicht. Ebenso trefflich, wie Riccardo Botta den ängstlichen, vom Verfolgungswahn geprägten Tonfall trifft. Jonas Jud als Pfleger/Alter Diener und Barna Kovács als Junger Diener ergänzen das Theater auf dem Theater-Ensemble. Diese Idee, eine Bühne auf der Bühne darzustellen, wird – leider – zu häufig genutzt und schafft meines Erachtens meist eine unnötige, intellektualisierte Distanz des Zuschauers zur Handlung. So kommen auch die fünf Mägde und die Aufseherin wie das Einlasspersonal des Theaters St.Gallen daher, inklusive Namensschild und Werbe-Umhängetaschen mit dem Logo des Theaters. Ziemlich makaber ist zudem das symbolistische Gebärverhalten der Mägde, die sich in Wehen winden und Babys in Wolldecken in den Raum hinunterwerfen. Alles in allem eine für mich ziemlich unausgegorene Angelegenheit, doch die musikalischen Fluten spülten auch dieses Unbehagen mit Vehemenz hinweg, und das Premierenpublikum war ganz aus dem Häuschen vor Begeisterung.
Inhalt der Oper:
Elektra lebt als Verstossene und Aussenseiterin bei den Hunden im Hof des Palastes von Mykene. Nur der Gedanke, die Ermordung ihres Vaters Agamemnon durch ihre Mutter Klytämnestra und deren Geliebten Aegisth zu rächen, erhält sie am Leben. Sie hofft auf die Rückkehr ihres Bruders Orest, um ihren mörderischen Plan zu verwirklichen. Ihre Schwester Chrysothemis, welche vor der schrecklichen Vergangenheit die Augen verschliessen möchte und sich nach einem normalen „Weiberschicksal“ sehnt, ist ihr keine Hilfe.
Klytämnestra wird von Gewissensbissen heimgesucht, sie hat „keine guten Nächte“. Sie begibt sich zu Elektra, sucht die Nähe ihrer Tochter und Hilfe zur Vertreibung der Dämonen durch Elektras Heilkünste, doch wird sie von Elektra verspottet und gedemütigt. Als Klytämnestra die Nachricht des - vermeintlichen - Todes von Orest ans Ohr dringt, lacht sie erleichtert auf. Elektra ist verstört. Selbst als Orest, welcher absichtlich die Nachricht seines Todes verbreiten liess, erscheint, erkennt ihn die eigene Schwester vorerst nicht. Orest dringt in den Palast ein und erschlägt seine Mutter. Elektra leuchtet Aegisth den Weg in den Palast, wo er ebenfalls von Orest ermordet wird. Chrysothemis meldet den Tod des usurpatorischen Herrscherpaares und die Rückkehr des tot geglaubten Bruders. Elektra beginnt einen ekstatischen Tanz des Triumphes auf dessen Höhepunkt sie tot zusammenbricht. Chrysothemis ruft nach Orest.
Werk:
Mit ELEKTRA ging der Klangmagier Richard Strauss noch einen Schritt weiter als mit der vorangehenden SALOME: Der Orchesterapparat ist gigantisch (111 MusikerInnen werden gefordert), die Leitmotive werden zu dichten Blöcken gefügt, die Grenzen der Tonalität immer wieder getestet und zum Teil gesprengt. Strauss schaffte es, mit dem Riesenapparat eine geradezu elektrisch aufgeladene Spannung zu erzeugen, welche an Intensität bis zum erlösenden, ekstatischen Schlusstanz in triumphierendem C-Dur ständig zulegt. Die an kompositorischem Raffinement kaum zu überbietende Partitur lebt vom Kontrast des Kammerspiels mit einem immer wieder quasi entfesselt auftrumpfenden Orchester. Süssliche Klänge (Walzer der Chrysothemis), tonmalerische Klänge und extreme dynamische Steigerungen (Elektra) wechseln mit herben Dissonanzen und Bitonalität (Klytämnestra). An die drei Frauenpartien werden höchste Anforderungen gestellt.
Berühmte Interpretinnen der Titelpartie waren: Anny Konetzni, Erna Schlüter, Inge Borkh, Astrid Varnay, Christel Goltz, Birgit Nilsson, Ingrid Bjoner, Dame Gwyneth Jones (unvergessen ihre Auftritte in Genf), Deborah Polaski (auch in Zürich in der Berghaus- Inszenierung zu erleben) und Pauline Tinsley.
Der Fluch der Atriden
In Mykene lebten zwei königliche Brüder, Atreus und Thyestes. Thyestes schlief mit Atreus Gemahlin. Nach Entdeckung des Seitensprungs seiner Gemahlin setzte Atreus die aus der ausserehelichen Beziehung entsprungenen Söhne seiner Frau und seinem Bruder zum Frass vor und vertrieb Thyestes. Als Strafe verhängten die Götter dem Reich des Atreus eine Dürreperiode, die erst zu Ende ginge, wenn Atreus seinen Bruder zurückkehren liesse. Unterdessen hatte Thyestes aber mit seiner eigenen Tochter einen „Rächer“ gezeugt, den Aigisth, der unerkannt am Hofe des Atreus aufwuchs und eigentlich von Atreus dazu ausersehen war, den Thyestes nach dessen Rückkehr zu ermorden. Stattdessen erschlug Aigisth seinen Onkel Atreus.
Die Söhne des Atreus, Agamemnon und Menelaos, mussten bald darauf in den Trojanischen Krieg ziehen, um die Gattin des Menelaos, Helena, zu befreien. Um günstigen Wind für seine Flotte zu erhalten, opferte Agamemnon seine Tochter Iphigenie, zum Entsetzen seiner Gemahlin Klytämnestra. Aus Trauer, Wut und Rache über den (vermeintlichen) Opfertod ihrer Tochter gab sich Klytämnestra Agamemnons Erzfeind Aigisth hin. Nach Agamemnons Rückkehr aus Troja (mit der Seherin Cassandra) wurde dieser von seiner Frau und Aigisth im Bade ermordet. Elektra, die Tochter Agamemnons und Klytämnestras, schwor Rache. Ihr Bruder Orest wurde von ihr angefeuert, die Mutter und deren Liebhaber umzubringen.
Die Erinnyen (Rachegöttinnen) verfolgten den Muttermörder. Orest konnte sich vom Fluch, der auf seinem Geschlecht lag, nur durch einen Diebstahl, den er im Tempel von Tauris begehen sollte, befreien. Dort traf er auf seine tot geglaubte Schwester Iphigenie, die jeden ankommenden Fremdling ermorden musste. Noch rechtzeitig erkannte Iphigenie in dem Fremden ihren Bruder und gemeinsam gelang ihnen die glückliche Rückkehr nach Griechenland.
Musikalische Höhepunkte:
Allein! Weh, ganz allein!, Monolog der Elektra
Ich kann nicht sitzen und ins Dunkel starren, Chrysothemis-Elektra
Ich habe keine guten Nächte, Szene Klytämnestra-Elektra
Orest, Erkennungsszene Elektra-Orest
Ob ich nicht höre – Schweig und tanze, Schlussszene Elektra-Chrysothemis