St.Gallen: DIE TOTE STADT, 10.05.2014& 09.11.2014
Oper in drei Bildern | Musik: Erich Wolfgang Korngold | Libretto: Paul Schott (alias Julius Korngold), nach "Bruges-la Morte" von Georges Rodenbach | Uraufführung: 4. Dezember 1920 gleichzeitig in Köln und Hamburg | Aufführungen in St.Gallen: 10.5. | 18.5. | 21.5. | 25.5. | 3.6. | 7.6.2014 und Wiederaufnahme in der nächsten Saison ab 25.9.14
Kritik:
Kurzkritik der Vorstellung vom 9. November:
Die gestrige Vorstellung hat dem Publikum wieder einmal deutlich vor Augen (und Ohren) geführt, dass im Theater Menschen und nicht Maschinen auf der Bühne stehen, Menschen, welche eben auch vor allem in der kälteren Jahreszeit nicht vor Infekten gefeit sind. Es traf nun in St.Gallen ausgerechnet den Sänger des Paul in der TOTEN STADT, einer immens schwierigen Partie (weil ständig in einer unangenehm hohen Lage singend). Nun sind Interpreten dieser Rolle kurzfristig natürlich nicht gerade wie Sand am Meer aufzutreiben und deshalb ist es John Uhlenhopp hoch anzurechnen, dass er durch seinen fast übermenschlichen Kraftakt die Vorstellung trotz seiner heftigen Indisposition zu retten bereit war. Ob er mit dieser heldischen Tat allerdings seiner Stimme und seiner Gesundheit einen Gefallen tat, sei mal dahingestellt ... . (Es gilt zwar die Theaterregel: Der Lappen muss hoch. Aber aus Rücksicht auf die Gesundheit der Sängerinnen oder Sänger und den Ansprüchen des Publikums müsste man eventuell auch das Absagen oder kurzfristige Umstellen des Programms zumindest in Betracht ziehen dürfen!) John Uhlenhopps Darstellung dieses psychisch schwerst angeschlagenen Mannes jedenfalls war bezwingend und trotz der Erkältung blitzten immer wieder facettenreiche Momente seiner Gesangskunst auf. Zum Glück hat das Ensemble in St.Gallen den erkrankten Kollegen sehr gut getragen und liess reife Leistungen hören: Molly Fillmore ist von Spiel und Erscheinung her eine wunderbare Marietta, sie gestaltet die Partie gesanglich über weite Strecken ausgezeichnet, findet zu herrlich blühenden Aufschwüngen voller Erotik, erreicht Spitzentöne mit Kraft. Einzig in der Mittellage verliert die Stimme manchmal etwas an Substanz und wirkt zu kalt und fahl. Mit herrlich kernigem Bariton und ausgezeichneter Diktion singt Jordan Shanahan den Frank und den Walzer des Fritz im Traumbild „Mein Sehnen, mein Wähnen“. Susanne Gritschneder wiederholt ihre warm und satt intonierte, gestrenge Brigitte der Premiere; Frau Gritschneder verfügt über ein überaus farbenreiches Tmbre, eine Stimme, die man einfach lieben muss. Ausgezeichnet auch die Mitglieder und Entourage von Mariettas Truppe: Nik Kevin Koch mit hellem, gut fokussiertem Tenor als leicht gehbehinderter Graf Albert, Riccardo Botta als clownesker Victorin, Michaela Frei als Lucienne und Fiqerete Ymeraj als Juliette.
Aber was die Reise nach St.Gallen vor allem lohnenswert macht, ist das Dirigat von Otto Tausk und das vielschichtige Spiel des Sinfonieorchesters St.Gallen: Das Fiebrige, das Geheimnisvolle und das Psychedelische der soghaften Partitur des jungen Korngold wird aufs Prächtigste ausgelotet!
Premiere:
Das Ereignis des Abends steigt aus dem Orchestergraben empor: Otto Tausk feuert das Sinfonieorchester St.Gallen zu einer fiebrig glühenden, ungemein packenden und das Soghafte der Partitur betonenden Wiedergabe von Korngolds meisterhafter Komposition an. Dabei scheut er weder die knalligen Effekte, noch die dem Werk immanente Süsslichkeit. Wunderbar zart und sauber gespielte Kantilenen der Streicher kontrastieren mit prägnanten Rhythmen des Schlagwerks, fantastisch rein spielen die Hörner ihre Passagen, bereichern die Holzbläser den orchestralen Teppich. Die von Korngold so genial orchestrierte Farbigkeit des Klangs entfaltet unter den einfühlsam gestaltenden Händen des Chefdirigenten ihre reiche Palette und berauschende Wirkung. Ein grandioser Abend des in Grossformation auftrumpfenden Sinfonieorchesters St.Gallen.
Regisseur Jan Schmidt-Garre und sein Team (Bühne: Vincent Lemaire, Kostüme: Thomas Kaiser, Licht: Reinhard Traub) nehmen das Fiebrig-Üppige der Musik nicht auf, sondern beschränken sich auf eine nüchterne, psychoanalytische Sicht auf das Geschehen um Paul, der sich in seiner Wohnung eingeigelt hat, sich ganz der „Kirche des Gewesenen“ - sprich dem Andenken an seine verstorbene Frau hingibt. Von Anfang an macht der Regisseur klar, dass es sich bei den Bildern zwei und drei um Traumbilder handelt, Träume mit kathartischer Wirkung ganz im Sinne Freuds mit einer Konfrontation des triebgesteuerten ES mit dem Über-Ich. Pauls Freund Frank funktioniert hier als Psychoanalytiker, der für Paul diesen reinigenden Traum in Szene setzt, schlüpft zwischendurch auch in die Rolle des Fritz und singt da als Pierrot die wunderbare Walzer-Schnulze Mein Sehnen, mein Wähnen. Die dezenten Kostüme sind im Stil der Entstehungszeit gehalten, 20er Jahre des letzten Jahrhunderts. Marietta tritt im luftigen Kleidchen mit tiefer Taille und gerader, kurz geschnittener Bob-Frisur auf. Nur Paul und die ihn treu umsorgende Brigitta scheinen noch im späten 19. Jahrhundert stehen geblieben zu sein. Auf der Bühne sieht man keine Anspielungen an die Stadt Brügge. Der Einheitsraum von Vincent Lemaire wird von schmucklosen, grauen Wänden und immensen Türen dominiert, welche sich ins Nichts öffnen, sich auch mal unheimlich verschieben, eine Leere symbolisieren, welche auch in Pauls Kopf herrscht. Selbst Pauls Reliquienschein wird nicht gezeigt, das Morbide seiner nekrophilen Begierden wird nur durch warmes, gelbes Licht angedeutet, wenn er sich durch die mittlere Tür in seine „Kirche des Gewesenen“ zurückzieht. Schmidt-Garre inszeniert das alles mit Geradlinigkeit, versucht durch das Mitwissen des Zuschauers suspense (in Hitchcock-Manier) aufzubauen, wie er im Programmheft schreibt, doch irgendwie bleibt diese Psychoanalyse blutleer, stellenweise geradezu akademisch fad. Paul liegt im Bild zwei und drei auf seiner Chaiselongue, die Tanzpantomime, die Heilig-Blut-Prozession, die Verführung durch Marietta, deren Ermordung – alles läuft mit dezenter Zurückhaltung ab. Ausser der subtilen Änderung des Lichts werden kaum theatralische Mittel eingesetzt. Etwas mehr an Pep, an morbider Schlüpfrigkeit oder praller Sinnlichkeit hätte dem Konzept nicht geschadet. Die Loslösung des Über-Ichs vom ES allerdings ist klug und stimmig umgesetzt. Der Regisseur nimmt klar Stellung, bei ihm bewirkt die reinigende Wirkung der Konfrontation mit dem Traum quasi ein Happyend: Paul schliesst zwar, wie vom Libretto vorgegeben, die Tür zum Zimmer der Verstorbenen, doch er löst sich nicht von Marietta, sondern nimmt sie an der Hand und verlässt mit ihr zusammen die „Stadt des Todes“.
Bekanntermassen ist die Partie des Paul sehr schwer zu besetzen – es braucht einen Tenor mit heldischer Strahlkraft und entsprechender Kondition, um die zwei Stunden Dauerpräsenz auf der Bühne durchzuhalten. Stefan Vinke bringt das alles mit. Sein Organ strotzt vor Kraft, überstrahlt mühelos auch die dick instrumentierten Passagen des Orchesters. Er singt die Partie mit wie selbstverständlich erscheinender Textsicherheit und bewundernswerter Kondition, fiebriger Emphase in den lang gehaltenen Tönen der hohen Tessitur, ohne jegliche Ermüdungserscheinungen. Das Singen im Dauerforte ist mit der Zeit für den Zuhörer etwas ermüdend, zumal stellenweise die Intonation auch nicht immer über jeden Zweifel erhaben ist. Aber nichtsdestotrotz, eine Parforce-Leistung. Molly Fillmore als Marietta vermag es ihm mit ihrem von einem leichten Vibrato umflorten Sopran punkto Kraftentfaltung nicht immer gleich zu tun. Und man fragt sich, ob sie mit dieser Partie, den hart erkämpften, manchmal etwas gequetschten Höhen, ihrer Stimme, welche eigentlich über ein schönes, leicht herbes, lyrisch timbriertes Grundmaterial verfügt, wirklich einen Gefallen tut. So gehen bei ihr wirklich schön geratene, beinahe liedhafte Passagen kaum je organisch in dramatischere Ausbrüche über, was besonders schmerzlich beim absoluten Hit des Stücks, Glück, das mir verblieb, zu hören war. David Maze ist ein warmstimmiger, fürsorglich-besorgter Frank im ersten Bild. Ihm ist der zweite Wunschkonzert-Hit der Oper, Mein Sehnen, mein Wähnen, anvertraut, welchen er schön gestaltend mit relativ spröder, aber ehrlicher stimmlicher Tongebung - den süssen Kitsch vermeidend - als Fritz-Pierrot im zweiten Bild singt. Susanne Grittschneder lässt als treue Haushälterin Brigitta einmal mehr aufhorchen: Mit ihrem einnehmend timbrierten Mezzosopran gestaltet sie das Arioso der Haushälterin (Und wo Liebe, dort dient eine arme Frau zufrieden) zu Beginn mit wunderbar aufblühender Stimme und hat im zweiten Bild einen eindrücklich Auftritt im Kreis ihrer Klosterfrauen. Fiqerete Ymeraj, Michaela Frei, Riccardo Botta und Cristian Joita ergänzen das Ensemble mit Wohlklang als Juliette, Lucienne, Victorin und Graf Albert.
Das Premierenpublikum bedankte sich mit begeistertem Applaus bei den Solisten und vor allem bei Otto Tausk und dem Sinfonieorchester St.Gallen. Schade nur, dass der Applaus viel zu früh einsetzte und die letzten, wunderbar zarten und einfühlsamen Klänge von Korngolds sensationellem Opernerfolg überlagerte.
Inhalt:
Pauls Frau Marie ist tot, doch er kann ihr Ableben nicht akzeptieren. In Brügge hat er in seinem Zimmer ein Art Schrein zum Gedenken an seine Frau errichtet, hier frönt er seiner Depression und badet in seiner Trauer, seinem Selbstmitleid. Seine Haushälterin Brigitta und sein Freund Frank sind besorgt. Auf einem seiner seltenen Spaziergänge hat Paul eine Frau erblickt, welche seiner Marie verblüffend ähnlich sieht. Er lädt sie zu sich ein. Es ist die Tänzerin Marietta. Paul schlägt alle Warnungen in den Wind und vermeint, eine Reinkarnation Maries vor sich zu haben, das Glück der Gemeinsamkeit erneut zu finden. Doch Marietta entschwindet wieder mit ihrer Tanztruppe, Paul versinkt in Visionen. Er stöbert Marietta auf, schleppt sie in seine Wohnung und verbringt die Nacht mit ihr. Paul quälen Gewissensbisse, er begibt sich frühmorgens aus dem Haus. Marietta durchstöbert den "heiligen Schrein", Paul ertappt sie dabei, stürzt sich auf sie, erkennt in ihr eine billige Nutte und erwürgt sie, während draussen die Heilig-Blut-Prozession vorbeizieht.
Paul erwacht aus seinem Traum. Marietta kehrt zurück und holt ihren Schirm (oder je nach Inszenierung auch den Schal). Paul beschliesst die Stadt der Toten, Brügge, zu verlassen.
Werk:
Erich Wolfgang Korngold war ein Wunderkind, verblüffte bereits als Neunjähriger die Musikwelt mit ausgefeilten Partituren. DIE TOTE STADT, welche er als 23-jähriger geschrieben hatte, wurde zu einem Grosserfolg. Die Partitur dieser morbiden, typischen fin de siècle Erzählung weist eine Qualität auf, welche auch bekanntere Werke von Richard Strauss oder Puccini nicht immer erreichen. Nach der Annexion Österreichs durch Nazideutschland blieb der Jude Korngold im Exil in Kalifornien, wurde dort ein bedeutender Komponist für Filmmusik und gewann sogar zwei Oscars. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden seine Opern nicht mehr sehr hoch geschätzt, gerieten beinahe in Vergessenheit. Sie galten als rückschrittlich. Doch dank einer grandiosen Einstudierung in New York 1975 wurde die Musikwelt wieder auf Korngolds wunderbare Schöpfungen aufmerksam. Seit den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts taucht insbesondere DIE TOTE STADT wieder öfters auf den Spielplänen auf. Seine Oper DAS WUNDER DER HELIANE war vor einiger Zeit in Kaiserslautern und in den 80er Jahren in Bielefeld zu erleben gewesen.
Die Partie des Paul gehört wegen ihrer hohen Lage und der zweistündigen Dauerpräsenz auf der Bühne zu den anspruchsvollsten und gefürchtetsten Tenorpartien.
Musikalische Höhepunkte:
Glück, das mir verblieb, Marietta-Paul, Bild I
Mein Sehnen, mein Wähnen, Pierrot-Fritz, Bild II
Wie stets sehr stimmig gestaltet: Videobeitrag von Mélanie Moser zur Produktion in St.Gallen: http://vimeo.com/95032433