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Basel: DIE TOTE STADT, 17.09.2016

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Die tote Stadt

©Sandra Then, mit freundlicher Genehmigung Theater Basel

Oper in drei Bildern | Musik: Erich Wolfgang Korngold | Libretto: Paul Schott (alias Julius Korngold), nach "Bruges-la Morte" von Georges Rodenbach | Uraufführung: 4. Dezember 1920 gleichzeitig in Köln und Hamburg | Aufführungen in Basel: 17.9. | 20.9. | 23.9. | 4.10. | 7.10. | 15.10. | 23.10. | 29.10. | 3.11. | 6.11. | 19.11. | 23.11. | 3.12. | 9.12. | 19.12.2016

Kritik:

„Nicht schon wieder“, denkt man, wenn man den weiss verputzten Beton-Bungalow auf der schwarzen, ansonsten leeren Drehbühne erblickt. Nicht schon wieder ein gestyltes Interieur, Zimmerfluchten, Türen. Doch dann wird man zusehends in dieses Bühnenbild hineingezogen, es entwickelt ein dramaturgisch wichtiges und schlüssiges Eigenleben, dekonstruiert sich zusehends zu Beginn der Traumsequenz, wird  im zweiten Bild in surrealer Art neu geschichtet, dreht sich unerbittlich und beängstigend mit wiederum anders angeordneten Zimmern im dritten und findet gegen Ende, nachdem Paul aus seinem kathartischen Traum zu sich kommt, auf geradezu magische Art zu seiner ursprünglichen Form zurück. Ralph Myers hat diese Bühne entworfen, von den Werkstätten des Theaters Basel wurde sie mit bewundernswerter Perfektion und ausgefeilter Technik (man beachte insbesondere die ausgeklügelten Lichtverhältnisse in den einzelnen Räumen!) umgesetzt. Ein genialer Wurf! Dem Regisseur Simon Stone ist in seiner ersten Arbeit für die Opernbühne ein nicht minder grandioser Wurf gelungen. Da stimmt in der Personenführung jede mimische Regung, jede Geste, es wird mit einer bewundernswerten szenischen Genauigkeit und Stringenz gearbeitet, ein Psychothriller ohne jeglichen Spannungsabfall wickelt sich auf der Bühne ab, zieht die Zuschauer in seinen Bann. Das ist starkes, unter die Haut gehendes Musiktheater erster Güte, da geht die Szene mit der unvergleichlichen, rauschhaften Musik des letzten Wunderkindes Korngold (er begann im Alter von 19 Jahren mit der Arbeit an dieser Oper) Hand in Hand. Simon Stone, Ralph Myers und Mel Page (Kostüme) haben eine reichhaltige, atmosphärisch dichte Inszenierung geschaffen, welche am Ende verdientermassen den ungeteilten, begeisterten Zuspruch des Premierenpublikums erhalten durfte. Grossartig die Genauigkeit in den Details: Zu Beginn nähern sich Brigitta und Frank dem Bungalow, leuchten mit Taschenlampen durch die Fenster in diese „Kirche des Gewesenen“, steigen auf Getränkekisten, um besser durch die Fenster gucken zu können. Drinnen sind die Möbel noch mit weissen Tüchern bedeckt, Paul hat in einem Alkoven hunderte von Polaroids seiner verstorbenen Frau fein säuberlich angeordnet, in einem Metallschrank befindet sich der Schrein mit den „Reliquien“ seiner Marie, ihre persönlichen Sachen bewahrt er in sauber beschrifteten Kartons auf, jeder Gegenstand seiner Frau ist in transparenten Plastiktüten aufbewahrt, geöffnet werden sie nur mit Gummihandschuhen, um ja nichts an ihnen und ihrem Geruch zu beschädigen. Dies zeigt, wie sehr er durch den Tod seiner grossen Liebe aus der Bahn geworfen wurde, mit krankhaften Phobien und Psychosen kämpft. Genial auch die Hinweise durch die Filmplakate an den Wänden: Antonionis BLOW-UP (wo sich ebenfalls, wie in Korngolds Oper, Realität und Illusion auf beunruhigende Art vermischen) und Godards PIERROT LE FOU (der Film behandelt die obsessive Beziehung zu einer Frau). Hat eventuell auch die Hausnummer 37 des Bungalows einen filmischen Bezug (der Mystery-Thriller 37 A PROMISE, oder 37 – der Mord an Kitty Genovese)? Diese feingeistigen Bezüge werden später für den beängstigenden Traum mit vulgäreren Bildern ersetzt, anstelle von Antonioni und Godard entdeckt man dann Plakate von Filmen wie DIRTY DANCING oder dem SciFi Trash-Film ATTACK OF THE 50FT WOMAN an den Wänden. Mariettas Komödiantentruppe besetzt das Haus und wirbelt Pauls peinlich saubere Ordnung gehörig durcheinander (wie es sich eben in einem Albtraum ziemt). Auch das Bild mit der Heilig Blut Prozession wird zu einem Albtraum: Nach dem leidenschaftlichen, entfesselten Liebesakt von Paul und Marietta (der auf dem Küchentisch seinen Anfang nimmt) tummeln sich unzählige Kinder in Pauls Haus, sammeln sich zum Kinderchor, zusammen mit den wie Marie gekleideten Frauen und den wie Paul (mit Borsalino und Trenchcoat) gekleideten Männern umschliessen sie auf der Drehbühne stehend den verwirrten und sich in seinem eigenen Haus nicht mehr auskennenden Paul (Choreinstudierung Henryk Polus, für die Mädchenkantorei Marina Niedel, für die Knabenkantorei Markus Teutschbein). Also keine wogenden Messgewänder und Katholizismus-Kitsch, sondern tiefenpsychologische Durchdringung. Zuvor schon begegnet Paul auf Schritt und Tritt Doppelgängerinnen und Reinkarnationen seiner von der Chemotherapie gezeichneten Frau Marie. Diese tritt am Ende des ersten Bildes auch tatsächlich auf, ihre Stimme erklingt nicht bloss aus dem Off wie in vielen anderen Inszenierungen. Verblüffend, wie schnell sich die lebenslustige Sängerin Marietta hinter der Bühne in die vom Krebs gezeichnete, kahlköpfige Marie verwandeln konnte. So ergibt auch die Aufbewahrung des Haares von Marie (eben deren Perücke) in der „Kirche des Gewesenen“ einen Sinn – wie so vieles an diesem fesselnden Abend.

Denn fesseln vermag neben der Szene natürlich vor allem auch die Musik Korngolds, welche zum Glück in den letzten Jahrzehnten ihre verdiente Renaissance erleben darf, nachdem DIE TOTE STADT nach den Riesenerfolgen in den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts doch nach dem zweiten Weltkrieg eher ein Dasein im Schatten führen musste. Nach Zürich (2003), Bern (2011) und St.Gallen (2014) hat nun auch Basel eine fantastische, unbedingt sehens- und hörenswerte und praktisch strichlose Produktion dieser süchtig machenden Oper zu bieten. Beim neuen Musikdirektor des Theaters Basel, Erik Nielsen, und dem Sinfonieorchester Basel ist die farbenreiche, traumhaft orchestrierte Partitur in allerbesten Händen. Mit fantastischer Klarheit und Transparenz sind die Motive herausgearbeitet, werden die kammermusikalischen und filigranen Stellen sauber gespielt. Daneben aber entfaltet sich auch der opulente, süffige und rhythmisch mitreissende Charakter des vollen Orchesterklangs mit begeisternder Brillanz. Doch stets so kontrolliert dosiert, dass die Sängerinnen und Sänger nicht zum Forcieren gezwungen werden. Dies ist vor allem wichtig, da die Gestaltung der Bühne mit ihrer Offenheit gegen oben und hinten ja nicht gerade sängerfreundlich ist. Eine grosse Freude ist es, dass sich das Theater Basel in der Lage sieht die mörderische Riesenpartie des Paul mit einem eigenen Ensemblemitglied zu besetzen. Rolf Romei steht die Gewaltspartie mit disziplinierter Einteilung der Kräfte grossartig durch, da sieht man ihm auch zwei, drei entglittene Töne gerne nach, denn er vermag mit der feinfühligen Interpretation und seinem äusserst angenehmen, nie gequält oder gepresst klingenden Timbre seines jugendlichen Heldentenors zu rühren. Gerade am Ende, wenn er nochmals die wunderschönen Phrasen von Glück, das mir verblieb in herrlichstem Piano und wunderbar sauber intoniert singt, ist das von einer seltenen Qualität. Marietta wird von Helena Juntunen als burschikose, lebenslustige und lebenshungrige Frau gesungen und gespielt, mit einem leichten, gekonnten Touch ins Vulgäre. Gelungen ist der stimmige Einfall des Regisseurs, den Hit Glück, das mir verblieb als Karaoke-Spielerei von Paul und Marietta im Wohnzimmer zu geben (woher sollte Marietta auch sonst den Text zu Pauls Lieblingslied kennen?). Helena Juntunen singt das „Wunschkonzert“- Stück vereint mit Rolf Romei ausgezeichnet, ebenso schön singt sie die Erscheinung der Marie gegen Ende des ersten Bildes, wo die Stimmen von Romei und Juntunen voller Zärtlichkeit miteinander verschmelzen. Aufhorchen lässt Eve-Maud Hubeaux als Brigitta: Sie beginnt mit grosser Zartheit, ja beinahe verletzlich, doch dann schwingt sich ihre samtene Mezzosopranstimme in der wohl schönsten Phrase der Partitur ( ... und wo Liebe ist ...) zu einer fulminanten, ja geradezu orgiastischen Üppigkeit auf – Gänsehaut pur. Sebastian Wartig glänzt mit seinem warmen Bariton in der Doppelrolle Frank/Fritz. Fast fürchtete man, dass die umtriebigen, alkoholgeschwängerten Aktionen der Komödiantentruppe (toll gesungen von Ye Eun Choi (Juliette), Sofia Pavone (Lucienne), Karl-Heinz Brandt (Victorin) und Nathan Haller (Graf Albert) die Wirkung seines unglaublich schön und sanft gesungenen Walzer Mein Sehnen, mein Wähnen empfindlich stören könnten, doch selbst sie wurden dann zunehmend von der magischen, tröstenden Kraft dieser Musik in ihren Bann gezogen, genauso wie das Publikum im Saal, welches sich bei allen Künstlerinnen und Künstlern mit verdientem, enthusiastischem Applaus bedankte.

Inhalt:

Pauls Frau Marie ist tot, doch er kann ihr Ableben nicht akzeptieren. In Brügge hat er in seinem Zimmer ein Art Schrein zum Gedenken an seine Frau errichtet, hier frönt er seiner Depression und badet in seiner Trauer, seinem Selbstmitleid. Seine Haushälterin Brigitta und sein Freund Frank sind besorgt. Auf einem seiner seltenen Spaziergänge hat Paul eine Frau erblickt, welche seiner Marie verblüffend ähnlich sieht. Er lädt sie zu sich ein. Es ist die Tänzerin Marietta. Paul schlägt alle Warnungen in den Wind und vermeint, eine Reinkarnation Maries vor sich zu haben, das Glück der Gemeinsamkeit erneut zu finden. Doch Marietta entschwindet wieder mit ihrer Tanztruppe, Paul versinkt in Visionen. Er stöbert Marietta auf, schleppt sie in seine Wohnung und verbringt die Nacht mit ihr. Paul quälen Gewissensbisse, er begibt sich frühmorgens aus dem Haus. Marietta durchstöbert den "heiligen Schrein", Paul ertappt sie dabei, stürzt sich auf sie, erkennt in ihr eine billige Nutte und erwürgt sie, während draussen die Heilig-Blut-Prozession vorbeizieht.

Paul erwacht aus seinem Traum. Marietta kehrt zurück und holt ihren Schirm (oder je nach Inszenierung auch den Schal). Paul beschliesst die Stadt der Toten, Brügge, zu verlassen.

Werk:

Erich Wolfgang Korngold war ein Wunderkind, verblüffte bereits als Neunjähriger die Musikwelt mit ausgefeilten Partituren. Die Oper DIE TOTE STADT, welche er als 23-jähriger geschrieben hatte, wurde zu einem Grosserfolg. Die Partitur dieser morbiden, typischen fin de siècle Erzählung weist eine Qualität auf, welche auch bekanntere Werke von Richard Strauss oder Puccini nicht immer erreichen. Nach der Annexion Österreichs durch Nazideutschland blieb der Jude Korngold im Exil in Kalifornien, wurde dort ein bedeutender Komponist für Filmmusik und gewann sogar zwei Oscars. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden seine Opern nicht mehr sehr hoch geschätzt, gerieten beinahe in Vergessenheit. Sie galten als rückschrittlich. Doch dank einer grandiosen Einstudierung in New York 1975 wurde die Musikwelt  wieder auf Korngolds wunderbare Schöpfungen aufmerksam. Seit den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts taucht insbesondere DIE TOTE STADT wieder öfters auf den Spielplänen auf. Seine Oper DAS WUNDER DER HELIANE war vor einiger Zeit in Kaiserslautern und in den 80er Jahren in Bielefeld zu erleben gewesen und wird konzertant im Juli 2017 in Freiburg i.Br. erklingen.

Die Partie des Paul gehört wegen ihrer hohen Lage und der zweistündigen Dauerpräsenz auf der Bühne zu den anspruchsvollsten und gefürchtetsten Tenorpartien.

Musikalische Höhepunkte:

Glück, das mir verblieb, Marietta-Paul, Bild I

Mein Sehnen, mein Wähnen, Pierrot-Fritz, Bild II

Karten

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