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Bern: DIE TOTE STADT, 01.04.2011&05.06.2011

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Die tote Stadt

Bild: art-tv.ch

Oper in drei Bildern |

Musik: Erich Wolfgang Korngold |

Libretto: Paul Schott (alias Julius Korngold), nach "Bruges-la Morte" von Georges Rodenbach | Uraufführung: 4. Dezember 1920 gleichzeitig in Köln und Hamburg | Aufführungen in Bern: 1.4. | 9.4. | 12.4. |30.4. | 4.5. | 11.5. | 17.5. | 5.6. |19.6.2011

Kritik:

Bereits nach wenigen Takten, in denen sich die schwelgerische Musik Korngolds zum ersten Mal so richtig aufschwang, war es klar: Das wird ein viel versprechender Abend werden im Stadttheater Bern. Das Versprechen wurde mehr als eingelöst – es wurde ein grosser, ja ein überwältigender Abend, ein Abend voll leidenschaftlicher, rauschhafter Ekstase, für welchen sich dann auch das Premierenpublikum mit enthusiastischem Applaus bei allen Beteiligten bedankte.

Wo soll man anfangen, nachdem man eine Aufführung erleben durfte, welche wie aus einem Guss durchgehend auf höchstem musikalischem und szenischem Niveau über die Bühne ging? In Anbetracht der immensen Schwierigkeiten, welche die Partie des Paul in sich birgt, ist es wohl nur gerecht, bei ihm zu beginnen. Niclas Oettermann bewältigte die hohe Tessitur, welche Korngold seinem Protagonisten auferlegt hatte, mit phänomenaler Selbstverständlichkeit. Kein Drücken, kein Schummeln bei hohen Tönen trübten die wunderbar fiebrig gesungenen Kantilenen. Heldentenoraler Glanz wechselte mit beispielhaftem Schmelz für Trauer und Träumerei, daneben konnte er aber auch immer Reserven für religiösen Eifer und Raserei mobilisieren. Am Ende vermochte er - nach einer beinahe zweistündigen Tour de force - noch eine letzte Strophe von Glück, das mir verblieb von so berückender Zartheit und Innigkeit zu gestalten, dass manch ein Zuschauer wohl verstohlen zum Taschentuch greifen musste. Doch auch sein Spiel überzeugte: Ein junger Mann, welcher durch den zu frühen Tod seiner Geliebten völlig aus der Bahn geworfen wurde, depressiv oft am Rande des Wahnsinns dahinschrammt und durch die Katharsis des (schrecklichen) Traums endlich aus seinem tristen Dasein findet. Nun kann er das Kabel des Diaprojektors, welcher ständig die Bilder der Verstorben auf die Wände projiziert hatte, aus der Steckdose ziehen und sich so von den bedrückenden Schatten der Vergangenheit endgültig lösen. Den dreigeschossigen Reliquienschrein, in welchem er die Gegenstände der Toten aufbewahrte, lässt er hinter sich. Ein letzter Blick zurück, dann verlässt er die „tote Stadt“. Ausgelöst wurde diese reinigende Kraft des Tagtraums durch die Begegnung Pauls mit der Tänzerin Marietta: Mardi Byers sang sie mit wunderbar warmem, fraulichem Timbre, verfügte über eine exzellente gestalterische Kraft vor allem in der Mittellage und begeisterte mit prallem, verführerischem und erotischem Spiel in der Traumsequenz. (Ihr provozierend laszives Spiel im Schlafanzug Pauls mit der heiligen „Reliquie“, dem Zopf der toten Marie, führte zu Pauls Ausrasten und ihrer Ermordung im Traum.). Beinahe gespenstisch hallte ihre Stimme in dieser Szene zuerst als Verstorbene in den Raum, wie eine „Stimme von oben“. In unisono gesungener Ekstase vereinigten sich danach die Stimmen Mariettas und Pauls zum Geschlechtsakt vor der Pause. Die Atemlosigkeit des Liebesspiels wurde vom Orchester als Vorspiel zum dritten Bild mit grossartiger rhythmischer Präzision dargeboten, Maestro Srboljub Dinić und das Berner Symphonieorchester in Grossbesetzung loteten die Farbigkeit, die Feinnervigkeit und das Schwelgerisch-Schwärmerische der Partitur aufs Herrlichste aus, ohne die Musik Korngolds kitschig klingen zu lassen. Da der Raum im engen Orchestergraben des Stadttheaters für die vielen MusikerInnen nicht ausreichte, mussten einige in den Proszeniumslogen und hinter der Bühne Platz nehmen. Trotz dieser Schwierigkeiten wurde ein verblüffendes Mass an Präzision und ausbalancierten Klangs erreicht. Auch der Chor wurde ins Off verbannt (in die Eingeweide des Theaters). Die elektronische Verstärkung der exzellenten Chorgesänge fügte sich dank einer ausgeklügelten Tontechnik wie selbstverständlich in den Gesamtklang ein und verstärkte so den alptraumhaften Charakter des Mittelteils. Die Inszenierung von Gabriele Rech im schlichten Bühnenbild von Stefanie Pasterkamp und den Kostümen von Gabriele Heimann in einem durch gerade Linien skizzierten Ambiente der 50er/60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts erreichte durch ihre Geradlinigkeit eine geradezu unheimliche Konzentration und liess der Musik den ihr zustehenden Raum. Die Hinweise auf den Ort der Handlung blieben dezent, eine symbolische Brücke und die Projektion von Wasser auf die weissen (und im Traumbild schwarzen) Wände reichten vollkommen aus. Auch die Traumsequenz wurde nicht über Gebühr mit sexuellem und/oder religiösem Firlefanz überladen und führte so zu eindringlichen Bildern. (Man hat dies auch schon als Tummelplatz persönlicher sexueller Obsessionen von Regisseuren über sich ergehen lassen müssen ...) Die Oper kommt mit wenigen Personen aus. Neben Paul und Marietta haben nur sein Freund Frank (Fritz im Traum) und Pauls Haushälterin Brigitta grössere Auftritte. Gerardo Garciacano gestaltete den besorgten Freund Frank mit kernigem Bariton und sang den Schlagerwalzer des Fritz Mein Sehnen, mein Wähnen mit ironisch schmachtender Stimme. Einmal mehr aufhorchen liess die aus dem Zürcher Ensemble aus kleinen Partien bekannte Anja Schlosser (Bettina) mit ihrem ungemein aussdrucksstarken Mezzosopran. Die weitere Entwicklung dieser Sängerin muss man unbedingt im Auge behalten! Hervorragend in Spiel und Gesang auch die Komödiantentruppe um Marietta: Andries Cloete, Anne-Florence Margot, Rebekka Maeder und Tomi Kuusisto machten den Auftritt zu einem witzigen, unaufdringlichen Intermezzo.

Nachtrag zur Vorstellung vom 5. Juni2011:

Der oben stehende Eindruck hat sich mehr als bestätigt, diese Produktion sollte man sich auf keinen Fall entgehen lassen. Leider gibt es nur noch eine Vorstellung und zwar am 19. Juni. Die Darstellung und die gesangliche Leistung von Niclas Oettermann kann nicht genug gewürdig werden. Ohne jegliche Ermüdungserscheinungen in der Stimme steht er die Gewaltspartie des Paul durch. Mardi Byers hat gegenüber der Premiere noch an Intensität und kokettem stimmlichem Liebreiz gewonnen und Gerardo Garciacano machte dem Berner Publikum mit dem Ohrwurm Mein Sehnen, mein Wähnen ein berührendes, wunderschönes Abschiedsgeschenk. Er wird nächstes Jahr in Dortmund singen. Wie aus einem Guss auch das farbeneiche, die Schönheiten der Partitur voll auskostende Spiel des Berner Symphonieorchesters unter Sroljub Dinić.

Hingehen und in den betörenden Strudel eintauchen. Widerstand zwecklos!

Fazit:

Wäre der Begriff nicht so abgedroschen, man könnte vom „Wunder von Bern“ sprechen ... NICHT VERPASSEN!

 

Inhalt:

Pauls Frau Marie ist tot, doch er kann ihr Ableben nicht akzeptieren. In Brügge hat er in seinem Zimmer ein Art Schrein zum Gedenken an seine Frau errichtet, hier frönt er seiner Depression und badet in seiner Trauer, seinem Selbstmitleid. Seine Haushälterin Brigitte und sein Freund Frank sind besorgt. Auf einem seiner seltenen Spaziergänge hat Paul eine Frau erblickt, welche seiner Marie verblüffend ähnlich sieht. Er lädt sie zu sich ein. Es ist die Tänzerin Marietta. Paul schlägt alle Warnungen in den Wind und vermeint, eine Reinkarnation Maries vor sich zu haben, das Glück der Gemeinsamkeit erneut zu finden. Doch Marietta entschindet wieder mit ihrer Tanztruppe, Paul versinkt in Visionen. Er stöbert Marietta auf, schleppt sie in seine Wohnung und verbringt die Nacht mit ihr. Paul quälen Gewissensbisse, er begibt sich frühmorgens aus dem Haus. Marietta durchstöbert den "heiligen Schrein", Paul ertappt sie dabei, stürzt sich auf sie, erkennt in ihr eine billige Nutte und erwürgt sie, während draussen die Heilig-Blut-Prozession vorbeizieht.

Paul erwacht aus seinem Traum. Marietta kehrt zurück und holt ihren Schirm. Paul beschliesst die Stadt der Toten, Brügge, zu verlassen.

Werk:

Erich Wolfgang Korngold war ein Wunderkind, verblüffte bereits als Neunjähriger die Musikwelt mit ausgefeilten Partituren. DIE TOTE STADT, welche er als 23-jähriger geschrieben hatte, wurde zu einem Grosserfolg. Die Partitur dieser morbiden, typischen fin de siècle Erzählung weist eine Qualität auf, welche auch bekanntere Werke von Richard Strauss oder Puccini nicht immer erreichen. Nach der Annexion Österreichs durch Nazideutschland blieb der Jude Korngold im Exil in Kalifornien, wurde dort ein bedeutender Komponist für Filmmusik und gewann sogar zwei Oscars. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden seine Opern nicht mehr sehr hoch geschätzt, gerieten beinahe in Vergessenheit. Sie galten als rückschrittlich. Doch dank einer grandiosen Einstudierung in New York 1975 wurde die Musikwelt  wieder auf Korngolds wunderbare Schöpfungen aufmerksam. Seit den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts taucht insbesondere DIE TOTE STADT wieder öfters auf den Spielplänen auf. Sein WUNDER DER HELIANE war letztes Jahr in Kaiserslautern zu erleben.

Die Partie des Paul gehört wegen ihrer hohen Lage und der zweistündigen Dauerpräsenz auf der Bühne zu den anspruchsvollsten und gefürchtetsten Tenorpartien.

Musikalische Höhepunkte:

Glück, das mir verblieb, Marietta-Paul, Bild I

Mein Sehnen, mein Wähnen, Pierrot-Fritz, Bild II

Informationen und Karten

 

Premierenapplaus

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