Napoli, Teatro San Carlo: ANNA BOLENA, 17.06.2023
Lyrische Tragödie in zwei Akten | Musik: Gaetano Donizetti | Libretto: Felice Romani | Uraufführung: 26. Dezember 1830 in Mailand| Aufführungen in Neapel: 8.6. | 11.6. | 14.6. | 17.6.2023
Kritik:
PRIMA LA MUSICA ...
Von einem Fest der Stimmen ist zu berichten. Was für ein stilbewusstes Ensemble konnte das Teatro di San Carlo in Neapel für Donizettis Meisterwerk auf der Bühne versammeln und dem begeisterten Publikum präsentieren! Angefangen bei der Interpretin der Titelpartie, Maria Agresta, welche mit ihrem wunderschön timbrierten Sopran die Facetten und Stimmungen der unglücklichen Königin aufs Subtilste aushorchte, eine bewundernswerte Haltung bis ins Delirium zeigte. Ihre reine, unforcierte Stimmführung, ihre feinen Schattierungen und ihre himmlischen Piani vermochten einen zu bannen. Nie ging sie über ihre stimmlichen Grenzen, blieb stets dem schönen, ebenmäßigen Klang verpflichtet und wenn sie ein Acuto wagte, dann musste man nicht um dessen Erreichung bangen. Annalisa Stroppa als ihre Rivalin und Vertraute, Giovanna Seymour, stand ihr in nichts nach. Auch sie wusste mit Stilsicherheit und grandioser Agilität zu begeistern. Ihr herrlicher Mezzosopran ist von einem einnehmenden, goldenen Farbton geprägt. Catarina Piva ergänzte das Trio der Frauenstimmen mit einer wunderbaren Gestaltung der Hosenrolle des Pagen Smeton. Schmachtend in seinem Liebesbegehren, unglücklich in seiner Entscheidung, Anna retten zu wollen mit einer Falschaussage, mutig seine Folter ertragend. Ganz fantastisch sang René Barbera den Percy, was für ein stilsicherer tenore die grazia! Schlank in der Stimmführung, sicher in der Intonation und überaus versiert in den Koloraturen. Alexander Vinogradov verkörperte mit wunderbar sattem Bass den Womanizer König Enrico VIII. Nicolò Dominik schließlich war ein stimmlich überaus adäquater Rochefort, der auch etwas unglücklich agierende Bruder Annas. Giorgi Guliashvili machte eine stimmlich gute, schon beinnahe zu einnehmende Figur als Sir Hervey. Wunderbar klangschön sang der Chor des Teatro di San Carlo (Einstudierung: José Luis Basso seine rührend kommentierenden Passagen. Riccardo Frizza am Pult des Orchestra del Teatro di San Carlo führte mit federnder Energie und Elastizität durch den Abend, vielleicht hätten etwas angezogenere Tempi der Aufführung nicht geschadet (sie dauerte über vier Stunden), andererseits brachte er durch sein mitatmendes Dirigat die Protagonisten nie in Bedrängnis, diese konnten die Belcanto - Bögen wunderschön fließend aussingen.
... DOPPO LA SCENA
Dass der Abend an manchen Stellen etwas langatmig wirkte, lag also nicht an den Ausführenden, sondern an der Inszenierung durch Jetske Mijnssen, im Bühnenbild von Ben Baur und mit den Kostümen von Klaus Bruns. Die Inszenierung ist in einem schmalen Guckkasten, einer Art langem Flur angesiedelt, links und rechts stehen hohe Türen. Die Rückwand ist eine geschlossene, grünlich strukturierte Fläche; durch lautloses Verschieben dieser Wand werden weitere Türen sichtbar, bestimmt bedeutungsschwanger, allerdings hat sich mir diese Bedeutung nicht erschlossen. Käfig ohne Ausweg? Die Roben der Damen weisen in der Üppigkeit der verwendeten Stoffbahnen eher auf die Entstehungszeit der Oper als auf die Epoche der Tudors hin, allerdings finden sich gerade bei den Männern und in der Robe von Klein-Elisabeth eher Akzente an die Mode des 16. Jahrhunderts. Die Farben sind gedeckte Grün - und Blautöne, alles sehr apart. Man kann sich das gut anschauen, bald schon stellt sich aber eine szenische (gepflegte) Langeweile ein. Gerade wenn man sich vor Augen führt, was Tobias Kratzer seinerzeit in Luzern aus dem Stoff dieser Donizetti - Oper gemacht hatte. Jetske Mijnssen hinterfragte die Auswirkungen der Geschehnisse auf die Tochter Annas und Enricos (die spätere Elisabeth I.), ein Kind in einer Oper bewirkt beim Publikum stets einen Jö-Effekt, und so bekam die Interpretin dieser stummen Rolle dann am Ende auch fast mehr Applaus, als die SängerInnen der Hauptpartien. Ganz missraten fand ich das Ende: Eigentlich sollte Anna im Kerker vor der Hinrichtung nur den Hochzeitsmarsch und den Jubel des Volkes für das neue Paar Enrico und Giovanna Seymour hören, hier nun öffnete sich der Guckkasten (endlich ...) und eine riesige Hochzeitsgesellschaft ganz in Weiß - inklusive eines peinlichen Balletts - bevölkerte die Szene und Anna bewegte sich im schwarzen Unterkleid wie ein bedrohlicher Schatten unter den Hochzeitsgästen. So verpuffte irgendwie der Effekt der Finalarie im szenischen Übermaß.
Inhalt:
König Heinrich der VIII. von England liebt seine 2. Ehefrau Anne Boleyn nicht mehr. Er hat ein Auge auf die Hofdame seiner Gattin, Jane Seymour, geworfen. Anne ahnt zwar, dass ihr der König nicht mehr treu ist, kennt jedoch den Namen seiner Geliebten nicht. Einst gab sie ihren Geliebten, Lord Percy, auf, um an Heinrichs Seite Königin zu werden. Sie warnt Jane, sich nicht vom Glanz des Throns verführen zu lassen. Jane wird von Gewissensbissen gequält. Heinrich will sich Annes entledigen, um Jane ehelichen zu können: Dafür holt er Percy aus der Verbannung zurück, um seine Gattin so des Ehebruchs zu überführen. Annes Bruder Rochefort soll im Auftrag des Königs für ein heimliches Treffen Annes mit Percy sorgen. Der in Anne verknallte Page Smeton beobachtet das Treffen Annes mit Percy und überrascht die beiden, da er glaubt, Percy wolle seiner geliebten Königin zu nahe treten. Der König tritt just in diesem Moment dazu und lässt alle drei festnehmen, da bei Smeton auch noch ein Bild Annes gefunden wird.
Jane besucht Anne und rät ihr, sich schuldig zu bekennen. Da wird Anne klar, dass Jane ihre Rivalin ist. Doch ihre Wut wandelt sich schnell in Mitleid für Jane. Jane bricht zusammen. Vor dem Tribunal bekennt sich Smeton schuldig, auch Anne und Percy treten trotzig auf und bekennen sich ihrer Liebe zueinander. Trotz der Fürbitte Janes bleibt Heinrich hart und lässt Anne Boleyn zum Tode verurteilen. Im Kerker erinnert sie sich ihrer ersten grossen Liebe. Von Ferne vernimmt sie die Böllerschüsse, welche die Hochzeit des Königs mit Jane verkünden. Sie bittet Gott noch um Vergebung für das sündige Paar, dann werden die drei Verurteilten zum Henker geführt.
Werk:
Gaetano Donizetti (1797-1848) war zweifellos der fleissigste Komponist von Belcanto-Opern. Sein Oeuvre umfasst über 60 Opern. ANNA BOLENA ist seine dreissigste. Sie wurde in der selben Saison uraufgeführt wie Bellinis SONNAMBULA und die Hauptpartien wurden von den selben Interpreten verkörpert, Giuditta Pasta und Giovanni Rubini. Mit dieser Oper erzielte Donizetti seinen ersten nationalen und internationalen Erfolg. Zwar vermochte er noch immer nicht die langen, innigen Melodien eines Bellini zu schreiben, dafür war er seinem „Rivalen“ an dramatischer Ausdruckskraft überlegen, welche sich vor allem in den gekonnt angelegten Ensembles und Duetten niederschlägt. Wie damals üblich entnahm er für ANNA BOLENA einige Nummern oder Teile davon früheren Werken. Nach 1880 gerieten die Werke des Belcanto eher etwas in Vergessenheit, wurden als minderwertig abgestempelt. Erst die durch den Dirigenten Tullio Serafin an der Scala herausgebrachten Premieren (ANNA BOLENA z.B. mit Maria Callas als Interpretin und Luchino Visconti als Regisseur) führten zu einer Renaissance dieser Werke, welche bis heute anhält. In der Nachfolge der Callas profilierten sich u.a. Montserrat Caballé, Leyla Gencer, Renata Scotto, Joan Sutherland und Edita Gruberova in der Rolle von Donizettis Tudor-Königin.
Musikalische Höhepunkte:
Ella, di me, Giovanna, Akt I
Deh, non voler costringere, Smeton-Anna, Akt I
Io sentii sulla mia mano, Quintett, Akt I
Tace ognuno, Enrico, Anna, Smeton, Percy, Giovanna, Rochefort, Finale Akt I
Dio che mi vedi in cuore, Duett Anna-Giovanna, Akt II
Al dolce guidami castel natio, Anna Akt II