Luzern: ANNA BOLENA, 04.03.2011
Lyrische Tragödie in zwei Akten |
Musik: Gaetano Donizetti |
Libretto: Felice Romani |
Uraufführung: 26. Dezember 1830 in Mailand|
Aufführungen in Luzern: 27.2. |2.3. | 4.3. | 13.3. | 24.3. | 29.3. |1.4. |14.4. | 17.4. | 20.4. |30.4. |14.5.2011
Kritik:
Gleich zwei Hauptwerke aus der Zeit des Belcanto hatten am vergangenen Sonntag in Schweizer Opernhäusern Premiere, in Luzern war es Donizettis ANNA BOLENA und in Zürich die ein Jahr später uraufgeführte NORMA von Bellini. Unterschiedlicher hätten die Aufführungen kaum ausfallen können: Während man in Zürich auf die polierte Hochglanzästhetik von Wilsons abstrakter Installation setzte und zwar gepflegtem, aber auch etwas langweiligem Wohlklang frönte, bekam man in Luzern aktuelles, deftiges und handfestes Regietheater vorgeführt. And the winner is: LUCERNE. Der junge Regisseur Tobias Kratzer nähert sich der Vorlage Romanis/Donizettis mit einer adaptierten Fassung von Bergmans Film SZENEN EINER EHE: Anna und ihr Ehemann Enrico haben sich auseinander gelebt, sie widmet sich der Kunst, welche sie sich mit Hilfe seines Einkommens leisten kann, er widmet sich anderen Frauen, treibt mit ihnen Soft SM Spielchen und filmt sich und seine Partnerin (die Haushälterin und Vertraute Annas, Giovanna) auch gerne dabei. Zufällig entdeckt Anna eine dieser widerlichen Videokassetten (sorgfältig versteckt in einem Buch, ganz oben im Regal) und kommt so dem Treiben des ungetreuen Ehemannes auf die Schliche. Das alles hat der Regisseur äusserst nachvollziehbar und mit exakter, prägnanter Charakterzeichnung der Figuren inszeniert. Zu Hilfe kommt ihm dabei das geniale Bühnenbild von Rainer Sellmaier, welcher auch für die äusserst stimmigen Kostüme verantwortlich zeichnet: Wir sehen drei Zimmer einer Villa, Entrée, Wohnzimmer mit angrenzendem Musikzimmer und darüber das Schlafzimmer. Die von Enrico initiierte Intrige nimmt ihren Lauf, Anna wird nach einer durchzechten Nacht mit ihrem ihr noch immer ergebenen Ex Percy und ihrem schwulen, promiskuitiven Bruder Rochefort von ihrem Ehemann überrascht und der Untreue überführt (die Gerüchte um die Homosexualität von Anne Boleyns Bruder George, sowie dessen angeblich inzestuöses Verhältnis zu seiner Schwester, tauchen in der einschlägigen Literatur immer wieder auf). Die sensible, unschuldige Anna verfällt dem Wahnsinn, sieht sich als Reinkarnation der historischen Anne Boleyn. Durch diese weitgehend in herrlichen historischen Tudor-Kostümen dargestellten Traumsequenzen umschifft der Regisseur gekonnt die Klippen, welche sich im zweiten Akt bei einer durchgehenden Modernisierung durchaus in den Weg stellen könnten und kommt zu einem überraschenden Schluss. Das ist dramatisch zupackendes Theater – und wird von den Sängerinnen und Sängern des Luzerner Ensembles mit verblüffender darstellerischer Eloquenz umgesetzt. Madelaine Wibom sieht der Schauspielerin Liv Ullman geradezu verblüffend ähnlich und fasziniert mit ihrer Darstellung vom ersten Moment an, als sie in Wollpullover und Leggins mit dem aufgesetzten Kopfhörer Donizettis Ouvertüre lauscht, welche vom Luzerner Sinfonieorchester unter der entschlossenen Leitung von Florian Pestell schwungvoll gespielt wird. Doch auch im Cocktailkleid anlässlich der Buch-Vernissage in ihrem Salon oder im historischen Kostüm macht Madelaine Wibom eine blendende Figur. Stimmlich scheut sie keine Attacke, erreicht die Spitzentöne mit Kraft und Ausdruck, schafft so trotz ihres eher stählernen Timbres eine Figur aus Fleisch und Blut und zeigt beklemmend das Dilemma, in welchem diese kunstsinnige Frau steckt. Von überwältigender stimmlicher und darstellerischer Kraft – und doch nie polternd – ist der Enrico von Boris Petronje. Beinahe empfindet man Sympathie für die sexuellen Bedürfnisse dieses Mannes, welche in seiner Ehe offensichtlich zu kurz kommen. Doch er wäre nicht ein Mann, wenn er sich nicht schon bald erneut nach Abwechslung sehnen würde. Giovanna wird am Ende des Hauses verwiesen, die nächste Geliebte wartet schon. Und damit sind wir auch wieder beim historischen Heinrich VIII angelangt. Giovanna ist die einzige Hauptfigur, welche durchgehend modern gekleidet bleibt, was insofern auch Sinn macht, da Anna ihre Rivalin auch lange nicht als solche erkennt. Caroline Vitale singt sie mit grosser, herrlich aufblühender Stimme, verleiht den Duetten mit Enrico und mit Anna kraftvolle Würze und singt eine berührende Preghiera im zweiten Akt. Utku Kuzuluk leiht dem biederen, ärmlichen und naiven Percy, welcher seine Ex Anna unermüdlich bis zum bitteren Ende anbetet, seine herrliche Tenorstimme: Die gekonnte Phrasierungskunst gepaart mit wunderschön sattem, ausgeglichenem Timbre vermag zu begeistern! Annas schwuler Bruder, Lord Rochefort, wird von Flurin Caduff bis in die kleinsten Gesten glaubwürdig dargestellt: Endlich sieht man auf einer Opernbühne einmal einen Homosexuellen, der keine Tunte ist. Gekonnt agiert er in Jeans und Marken Sneakers, hantiert mit iBook und Handy – und bewältigt so ganz nebenher noch die Techtelmechtels mit seinen drei Lovern. Auch stimmlich erzielt Flurin Caduff mit seinem herrlich strömenden Bassbariton grosse Wirkung. Das gilt auch für den in Anna verliebten Paketpostboten Smeton: Olga Privalova entzückt mit ihrem warmen Mezzo und lausbübischem Spiel (umwerfend ihre Szene, in der sie den Flachbildfernseher aus der Villa klauen will)! Als Enricos Chauffeur und getreuer Vollstrecker Hervey agiert Robert Maszl. Leider hat Donizetti für ihn nicht allzu viele Noten geschrieben, doch Maszl liess mit seinem hellen Tenor in den Ensembles aufhorchen. Und wenn er dann als Henker den Richtblock mitten auf dem Ehebett platziert, ist eigentlich klar, wo über das Gelingen einer Ehe entschieden wird ...
Inhalt:
König Heinrich der VIII. von England liebt seine 2. Ehefrau Anne Boleyn nicht mehr. Er hat ein Auge auf die Hofdame seiner Gattin, Jane Seymour, geworfen. Anne ahnt zwar, dass ihr der König nicht mehr treu ist, kennt jedoch den Namen seiner Geliebten nicht. Einst gab sie ihren Geliebten, Lord Percy, auf, um an Heinrichs Seite Königin zu werden. Sie warnt Jane, sich nicht vom Glanz des Throns verführen zu lassen. Jane wird von Gewissensbissen gequält. Heinrich will sich Annes entledigen, um Jane ehelichen zu können: Dafür holt er Percy aus der Verbannung zurück, um seine Gattin so des Ehebruchs zu überführen. Annes Bruder Rochefort soll im Auftrag des Königs für ein heimliches Treffen Annes mit Percy sorgen. Der in Anne verknallte Page Smeton beobachtet das Treffen Annes mit Percy und überrascht die beiden, da er glaubt, Percy wolle seiner geliebten Königin zu nahe treten. Der König tritt just in diesem Moment dazu und lässt alle drei festnehmen, da bei Smeteon auch noch ein Bild Annes gefunden wird.
Jane besucht Anne und rät ihr, sich schuldig zu bekennen. Da wird Anne klar, dass Jane ihre Rivalin ist. Doch ihre Wut wandelt sich schnell in Mitleid für Jane. Jane bricht zusammen. Vor dem Tribunal bekennt sich Smeton schuldig, auch Anne und Percy treten trotzig auf und bekennen sich ihrer Liebe zueinander. Trotz der Fürbitte Janes bleibt Heinrich hart und lässt Anne Boleyn zum Tode verurteilen. Im Kerker erinnert sie sich ihrer ersten grossen Liebe. Von Ferne vernimmt sie die Böllerschüsse, welche die Hochzeit des Königs mit Jane verkünden. Sie bittet Gott noch um Vergebung für das sündige Paar, dann werden die drei Verurteilten zum Henker geführt.
Werk:
Gaetano Donizetti (1797-1848) war zweifellos der fleissigste Komponist von Belcanto-Opern. Sein Oeuvre umfasst über 60 Opern. ANNA BOLENA ist seine dreissigste. Sie wurde in der selben Saison uraufgeführt wie Bellinis SONNAMBULA und von den selben Interpreten, Giuditta Pasta und Giovanni Rubini. Mit dieser Oper erzielte Donizetti seinen ersten nationalen und internationalen Erfolg. Zwar vermochte er noch immer nicht die langen, innigen Melodien eines Bellini zu schreiben, dafür war er seinem „Rivalen“ an dramatischer Ausdruckskraft überlegen, welche sich vor allem in den gekonnt angelegten Ensembles und Duetten niederschlägt. Wie damals üblich entnahm er für ANNA BOLENA einige Nummern oder Teile davon früheren Werken. Nach 1880 gerieten die Werke des Belcanto eher etwas in Vergessenheit, wurden als minderwertig abgestempelt. Erst die durch den Dirigenten Tullio Serafin an der Scala herausgebrachten Premieren (ANNA BOLENA z.B. mit Maria Callas als Interpretin und Luchino Visconti als Regisseur) führten zu einer Renaissance dieser Werke, welche bis heute anhält. In der Nachfolge der Callas profilierten sich u.a. Montserrat Caballé, Leyla Gencer, Renata Scotto, Joan Sutherland und Edita Gruberova in der Rolle von Donizettis Tudor-Königin.
Musikalische Höhepunkte:
Ella, di me, Giovanna, Akt I
Deh, non voler costringere, Smeton-Anna, Akt I
Io sentii sulla mia mano, Quintett, Akt I
Tace ognuno, Enrico, Anna, Smeton, Percy, Giovanna, Rochefort, Finale Akt I
Dio che mi vedi in cuore, Duett Anna-Giovanna, Akt II
Al dolce guidami castel natio, Anna Akt II