Berlin, Staatsoper: SIEGFRIED, 20.10.2022
Zweiter Tag des Bühnenfestspiels DER RING DES NIBELUNGEN | Musik: Richard Wagner | Textdichtung vom Komponisten | Uraufführung: 16. August 1876, Festspielhaus Bayreuth | Aufführungen in Berlin: 20.10. | 3.11.2022 | 8.4.2023
Kritik:
DAS EXPERIMENT GEHT WEITER
Viel Zeit ist vergangen, die ehemalige Führungsriege im Verhaltensforschungszentrum E.S.C.H.E. in Dmitri Tcherniakovs Lesart von Wagners DER RING DES NIBELUNGEN ist merklich gealtert. Der Seniorchef (Wotan) schleicht als Greis im Labyrinth der Forschungslabore umher, beobachtet als Wanderer nur noch die laufenden Experimente, hat nicht mehr die Macht einzugreifen, wird von den jungen Führungskräften der Anstalt zwar geduldet, aber belächelt und weitgehend ignoriert. Aus den im RHEINGOLD noch gelangweilt im Raucherzimmer herumfläzenden Nornen sind alte Damen mit Handtäschchen geworden; sie suchen wohl nach den von Alberich entwendeten wissenschaftlichen Akten oder kompromittieren den Verträgen oder Einen. Singen darüber werden sie erst in der GÖTTERDÄMMERUNG. Alberich kann sich nur noch mittels einer Gehhilfe fortbewegen - auch körperlich ist er impotent geworden. Die Urmutter Erda hat merklich Speck angesetzt, das Kostüm ist immer noch stahlblau, doch sie ist müde und schwerfällig geworden, mag nicht mehr in die Zukunft schauen und verweist Wotan/Wanderer an die Nornen. Anna Kissjudit singt diese der Welt und den (Klinik-)Göttern überdrüssig gewordene alte Frau mit wunderbar dunkel timbrierter Altstimme und hervorragender Textdeutlichkeit. Einzig Brünnhilde ist nicht gealtert - dank ihrer Strafe. Denn da Wotan sie der Schlafforschung überantwortet hat, behält sie ihre ewige Jugend. Anscheinend ist sie nicht nur an einem Experiment beteiligt, denn Wotan/Wanderer führt sie, die wach ist, ins Labor, wo sie das Experiment mit Siegfried absolvieren muss und unter einer feuerfesten, metallischen Decke schlafend des Helden harrt. Bevor sie einschläft, malt sie mit dem Filzstift die Flammen des sie beschützenden Feuers erneut an die gläsernen Wände des Labors. In dieses Labor wird Siegfried durch Dr. Waldvogel geführt, eine Psychotherapeutin, die Siegfried im zweiten Akt durch mehrere Versuchsreihen laufen liess: Phase 1 war eine Entspannungsübung (Wagners "Waldweben"), Phase 2 dann die Versenkung in die Meditation und die Phase 3 schliesslich die Realisierung eines unbewussten Wunsches, sprich das Erwecken der sexuellen Begierde. Das ist alles hervorragend genau inszeniert, packend und keinen Moment langweilig. Selbstverständlich lässt Tcherniakov den Fafner nicht als Drachen auftreten, sondern als Psychopathen, beinahe wie Hannibal Lecter, gefesselt in Zwangsjacke, mit Beissschutz. Das ist auch ganz aus Wagners Text heraus abzuleiten, da Fafner mehrmals droht, Siegfried aufzufressen, genau wie der Kannibale Lecter es in Filmen wie DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER getan hatte. Peter Rose singt und spielt den Fafner mit der geforderten Bedrohlichkeit hervorragend. Selbstverständlich ist die Erziehung des Findelkindes Siegfried durch Mime auch als Experiment angelegt: Sie hausen zusammen auf engem Raum in einer Laborwohnung - genau die Wohnung, in der in der WALKÜRE bereits Hunding und Sieglinde gewohnt hatten. Dem rotzfreche Bengel Siegfried ist nichts heilig, er hat sich bei seinem ersten Auftritt gar eine Wotan-Maske übergestreift. In königsblauem Adidas-Jogginganzug piesackt er seinen Ziehvater Mime, emanzipiert sich während des Schmiedens des Schwerts Nothung, indem er erst seine Spielzeugautos einschmilzt, danach sein gesamtes Kinderzimmer zertrümmert. Ein wirkliches Schwert schmiedet er zwar nicht sichtbar, Tcherniakov legt das alles nur als psychischen Emanzipationsprozess an. Bei einigen wenigen Zuschauern kam dieser Interpretationsansatz gar nicht gut an, nach dem ersten Akt rief ein Herr lautstark, dass das alles eine Sauerei sei und Pfui! Perönlich fand ich die konsequente Lesart der bisherigen drei Ring-Abende überzeugend, kurzweilig und innerhalb des Konzepts mit meisterhafter Personenführung umgesetzt. Jedenfalls bin ich sehr gespannt auf die Fortsetzung, was zu Beispiel beim letzten,von krisseligen Videoprojektionen geprägten RING DES NIBELUNGEN an der Staatsoper Berlin nicht der Fall gewesen war. Tcherniakov hat sich was getraut, war mutig eine Aussage zu machen, über die nachzudenken jedenfalls mehr als lohnt. Und allzu verkopft ist es auch nicht geworden, man hat genügend gedanklichen Freiraum, um sich auch auf die Musik zu konzentrieren.
ÜBERRAGENDES MUSIKTHEATER
Thomas Guggeis und die Staatskapelle Berlin woben erneut einen exzellenten, farbenprächtigen Klangteppich, daraus ragten unter die Haut gehende orchestrale Zwischenspiele und explosive Klangballungen hervor (aber auch kammermusikalisch transparent gestaltete Passagen und Motivverschlingungen - und führten so das "unpopulärste" Werk der Tetralogie zu einem spannenden Genuss. Michael Volle verlieh dem Wanderer (Wotan) eine ungeheure Bühnenpräsenz: Altersweise, nicht nur resignierend, sondern auch listig und durchaus witzig legte er die Figur an. Was für ein begnadeter Sängerdarsteller. Das gilt auch für die beiden Nibelungenbrüder, Alberich und Mime: Johannes Martin Kränzle war auch als alter, gebrechlicher Alberich ein starker Sparringpartner zu Volles Wanderer. Der Dialog der beiden Alten im zweiten Akt war komisch und kraftvoll zugleich, zwei leicht senile, rechthaberische, frustrierte weisse Männer, die sich kindlich über ihre vermeintlichen Listen amüsieren. Herrlich! Der Mime wurde von Stephan Rügamer weit weniger hässlich keifend angelegt, als man die Rolle auch schon interpretiert gehört hatte. Rügamer gestaltete die horrenden Textpassagen im ersten und sein von Falschheit geprägtes Getue im zweiten Aufzug mit fantastischer Diktion und sorgsamer Linienführung. Ganz stark interpretierte er seine Schreckensvision von Fafner. Andreas Schager ist wohl als junger Siegfried heutzutage unübertroffen. Sein Heldentonor ist voller Strahlkraft, das ist oft laut, sehr laut, aber passt wunderbar zu dem pubertierenden Jüngling und dem angehenden - und manchmal auch verunsicherten - Helden. Die Schmiedeszene Blase, Balg! wurde zum stimmlichen Ereignis. Im zweiten Aufzug ist Siegfried einerseits der Held, der sich ohne Fürchten dem psychopathischen Mörder Fafner (wunderbar wild, bedrohlich und bassgewaltig gesungen und gespielt von Peter Rose) entgegenstellt, andererseit ist er immer noch ein staunendes Kind, das das Spielen nicht verlernt hat und freudig auf des papierene Vöglein von Dr. Waldvogel (mit schöner Leichtigkeit gesungen von Victoria Randem) reagiert. Im dritten Aufzug dann spielt er den coolen Typen, die Hände lässig in den Hosentaschen der Jogginghose versteckt und auf der Mauer rund im die Esche im Innenhof des Instituts balancierend und so seine Nervosität in der ersten Begegnung mit dem anderen Geschlecht überspielend. Im Finale mit der Brünnhilde von Anja Kampe liefen beide zu exaltierter, grosser Form auf. Die Siegfried-Brünnhilde ist wohl die schwierigste der drei Brünnhilden im RING DES NIBELUNGEN. Sie hat keine Aufwärmphase, muss gleich in unangenehmer stimmlicher Lage voll präsent sein. So schlichen sich denn zu Beginn bei Anja Kampes Interpretation auch einige klangliche Verhärtungen durch zu starkes Forcieren ein, die sich jedoch in der knapp 40 Minuten dauernden Erweckungsszene zunehmend lösten und Frau Kampe fand gegen Ende zu strahlender, dynamisch differenziert gestaltender Form, die hohen Cs kamen sicher und leuchtend!
Ein unterhaltsamer SIEGFRIED war das, wunderbar und unterhaltsam gespielt und inszeniert, die inhärente Komik des Stückes voll erfassend. Man freut sich riesig auf das Finale am nächsten Sonntag und ist gespannt, wie Dmitri Tcherniakov diese GÖTTERDÄMMERUNG und damit den RING enden lassen wird.
Inhalt des zweiten Tages:
Der Wälsungenspross Siegfried (Sohn der Geschwister Sieglinde und Siegmund, siehe Walküre) wächst beim Zwerg Mime auf. Dieser will sich Siegfrieds Kraft zunutze machen, um das zerbrochene Schwert Notung wieder neu zu schmieden. Siegfried gelingt dies. Damit tötet er den Riesen Fafner, der sich in einen fürchterlichen Drachen verwandelt hat und den Ring des Nibelungen Alberich hütet. Siegfried bemächtigt sich des Rings und des Tarnhelms, trinkt das Blut des Drachen, wird dadurch hellhörig und versteht nun die Falschheit seines Ziehvaters Mime. Er streckt den Zwerg nieder und schlägt auch dessen Bruder Alberich aus dem Feld, der ebenfalls scharf auf den mächtigen Ring ist. Göttervater Wotan (der Wanderer) hat eben vergeblich Urmutter Erda um Rat gefragt, wie seine Machtsphäre noch zu retten sei. Das Waldvögelein führt Siegfried zur schlafenden Brünnhilde. Wotan versucht noch, Siegfried den Zutritt zum Walkürenfelsen zu verwehren. Vergeblich: Der junge Held zerschlägt den Speer des Göttervaters, bricht damit dessen Macht und erweckt Wotans Tochter Brünnhilde, die den strahlenden Helden jubelnd begrüsst.
Das Werk:
Wagner begann bereits 1856 mit der Komposition des SIEGFRIED, brach aber 1857 die Arbeit im 2. Akt ab (er beschäftigte sich zwischenzeitlich mit TRISTAN UND ISOLDE und den MEISTERSINGERN). Er nahm die Komposition erst 1869 wieder auf und vollendete die Partitur 1871.
Bis zum erlösenden, strahlenden C-Dur Finale des dritten Aktes verwendet Richard Wagner in den ersten beiden Akten eher die düsteren Farben des Orchesters. Besonders die starke Präsenz der Bratschen im ersten Akt ist bemerkenswert. Sie charakterisieren die Heimtücke des Mime. Immer wieder erklingt mit den Tuben das schwarze, bedrohliche Motiv des Drachen Fafner, bevor die Hörner dann den Helden Siegfried feiern. Daneben entbehrt jedoch der erste Akt mit dem rotznasigen jungen Siegfried und dem von Falschheit nur so strotzenden Mime nicht einer gewissen Komik.
Wagners orchestrale Instrumentierungs- und Charakterisierungskunst ist in diesem Werk – trotz eines zehnjährigen Kompositionsunterbruchs – auf dem Höhepunkt angelangt. Das Vorspiel zum dritten Akt verwebt äusserst kunstvoll die vielschichtigen Leitmotive.
Musikalische Höhepunkte:
Notung! Notung! Neidliches Schwert, Siegfried, Akt I
Dich holdes Vöglein, Siegfried, Akt II (Waldweben)
Wohin schleichst du?, Alberich-Mime, Akt II
Vorspiel Akt III
Wache, Wala! Wala erwach!, Wanderer-Erda, Akt III
Selige Öde auf sonniger Höh’, Siegfried Akt III
Heil dir Sonne, heil dir Licht, Brünnhilde Akt III
Ewig war ich, ewig bin ich, Brünnhilde Akt III