Berlin, Staatsoper: GÖTTERDÄMMERUNG, 23.10.2022
Dritter und letzter Tag des Bühnenfestspiels DER RING DES NIBELUNGEN | Musik: Richard Wagner | Textdichtung vom Komponisten | Uraufführung: 17. August 1876, Festspielhaus Bayreuth | Aufführungen in Berlin: 23.10. | 6.11.2022 | 10.4.2023
Kritik:
DIE NEUEN INHABER
Während im RHEINGOLD (in den 1960er Jahren), in der WALKÜRE und später eingeschränkt auch im SIEGFRIED im Verhaltensforschungszentrum E.S.C.H.E noch emsige Betriebsamkeit herrschte und ziemlich seriös anmutende wissenschaftliche Versuche am Menschen durchgeführt wurden, sind wir nun in der GÖTTERDÄMMERUNG in Dmitri Tcherniakovs grandioser Deutung des RING DES NIBELUNGEN in der Jetztzeit angekommen. Das Zentrum wurde komplett neu renoviert, wahrscheinlich von einem teuren Interiordesigner gestaltet (man munkelt ja auch in Berlin, dass das Bühnenbild einen siebenstelligen Betrag verschlungen haben soll!). Ärzte sieht man keine mehr, die Erben des Imperiums haben auch die Büsten der Wissenschaftler entfernen lassen. Die jungen Leute, welche wohl die Leitung übernommen haben, frönen einem hedonistischen Lebensstil, nur noch Lust, Vergnügen und Spass zählen, Hauptsache teuer und sexy. Die ehemaligen Götter und Leiter des Instituts haben nichts mehr zu melden, haben keine reale Kraft mehr, den Lauf der Welt zu beeinflussen. Es menschelt auf ganz unangenehme Weise. Exponenten der neuen Vergnügungsgesellschaft und des Schicki-Mickitums sind die Gibichungen, Gunther, seine Schwester Gutrune und der Halbbruder der beiden, Hagen. Lauri Vasar gelingt als Gunther ein darstellerisches Paradestück: Er zeigt diesen Schwächling im smarten Look des neureichen Emporkömnmlings, der ohne eigene Leistung zu viel Geld und Einfluss gekommen ist (Parallelen finden sich in Wirtschaft und Politik zuhauf!). Zusammen mit seiner Schwester Gutrune, welche von Mandy Fredrich als kicherndes Blondchen gegeben wird, vertrödelt er den Tag mit Müssiggang, Wein und Zigaretten - und der Häme über einfachere Leute. Die Beziehung zwischen den beiden Gescchwistern ist nicht ganz klar. Beide sind sie unverheiratet, scheinen eine sehr enge Bindung zu haben. Doch Inzest wird nicht explizit angedeutet (hat man in anderen Inszenierungen schon so gesehen). Eher noch scheint Gutrune über ein homosexuelles Begehren ihres Bruders Bescheid zu wissen, lacht sic doch laut heraus, als Hagen den Gunther zur Verheiratung mit Brünnhilde drängt. Auch Gunthers Erschütterung und Trauer nach Siegfrieds Ermordung durch Hagen und wie er den sterbenden Siegfried umarmt, geht weit über die "normale" Blutsbrüderschaft hinaus, welche sie im ersten Akt geschlossen hatten. Der Tod seines Freundes Siegfried jedenfalls lassen die weichliche, vergnügungssüchtige Memme Gunther gegen Hagen aufbegehren, was ihm aber schlecht bekommt, da er von diesem erschlagen wird. Auch Gutrune macht eine Wandlung durch, aus der leichtlebigen, oberflächlichen Blondine wird durch die Ereignisse eine nachdenklich und tief empfindende junge Frau. Ihnen zur Seite steht der Halbbruder Hagen, der von seinem Vater Alberich wohl die Verschlagenheit und von seiner Mutter Krimhild (sie wird bei Wagner nur erwähnt, tritt aber nie auf) die Intelligenz und die Kraft geerbt hat. Über dem Auge trägt Hagen ein entstellendes, blutunterlaufenes Muttermal - ein Kainszeichen? Jedenfalls wird er im dritten Aufzug seinen Halbbruder Gunther ermorden. Miko Kares (er wusste bereits als Fasolt und Hunding zu begeistern) gibt diesen hinterhältig seine Fallstricke auslegenden Bösewicht mit überwältigender Kraft. Sein Bass strömt mit einer grandios angelegten dynamischen und intelligent phrasierenden Fülle, mit einem warmen und eigentlich einnehmenden Timbre, welches das Brutale und Gefährliche seines Charakters abgefeimt verbirgt. Tcherniakov hat wie in den drei bisherigen Ring-Teilen das alles mit allergrösster Genauigkeit und Empfindsamkeit für seelisches Befinden der Personen inszeniert - und die Sänger*innen setzen das mit atemberaubender Eindringlichkeit um. Das ist ganz grosses Musiktheater. Man mag sich an vielem reiben, sich vielleicht sogar empören (die lebenden Kaninchen in den Versuchskäfigen waren/sind ein gefundenes Fressen für die "woke" Generation), doch wenn man sich mit dem Text beschäftigt und darüber nachdenkt, wird einem vieles klar. Nicht restlos alles, aber das ist kaum je bei einer Inszenierung der Fall, wenn man sie nur einmal sieht. Da ist zum Beispiel die Szene mit der Tarnkappe in der GÖTTERDÄMMERUNG. Die Gibichungen und Hagen spielen zwar albern damit, doch Siegfried trägt sie nicht, wenn er als Gunther den Brünnheldenfelsen erklimmt, das Feuer durchschreitet und Brünnhilde gefügig macht. Das verwirrt zuerst, doch wenn man ihm während Brünnhildes Anklage im zweiten Akt genau zuhört, sagt er dort, dass der Tarnhelm wohl versagt habe.
DAS HELDISCHE PAAR
Anja Kampe singt ein diesem Abend eine restlos begeiternde und in ihren Bann schlagende Brünnhilde. Fulminante Höhen, bewegende Ausbrüche, verzweifelte Liebe, Enttäuschung, Wut, Rache - das alles kann sie in ihre Stimm- und Farbgebung einfliessen lassen. Gerade der zweite Akt mit der emotional aufgeladenen Anklage und dem Racheschwur geht unter die Haut, aber auch der hochemotionale Schlussgesang ist Weltklasse. Berührend gerät ihre unerschütterliche Liebesbeteuerung in der Waltrautenszene, wo nicht mal die argumentativ ganz starke Violeta Urmana als Waltraute sie dazu bringen kann, den Rheintöchtern den Ring zurückzugeben. Andreas Schager ist DER Siegfried unserer Tage. Seine Sicherheit, seine Spielfreude und sein riesiger, bruchlos geführter Heldentenor lassen nur noch staunen. Nie lassen seine Kräfte nach, vom Abschied von Brünnhilde, wo er zu neuen Taten aufbricht, über die nach dem Vergessenstrunk zur Schau gestellte pubertäre Übermütigkeit, seine Unterwerfung und Entführung Brünnhildes, seine beschämende Verteidigung seines Verhaltens, sein Geplänkel mit den Rheintöchtern bis zur prahlerischen und dann erkenntnishaften Erzählung beim Wiedererlangen des Gedächtnisses - das ist alles mit leuchtender, klar fokussierter Stimme gestaltet, so dass man vor Bewunderung und Ehrfurcht über diese Klasse-Leistung völlig erschlagen ist. Nach der Anklage Brünnhildes und seiner schlappen Verteidigung begibt er sich zu Beginn des dritten Aufzugs erst mal ins Stress-Labor, wo ihn die drei Ärztinnen Woglinde, Wellgunde und Flosshilde (die Rheintöchter, wieder hervorragend gesungen von Evelin Novak, Natalia Skrycka und Anna Lapkovskaja) erst mal gründlich durchchecken. Es ist dies der einizige Moment der GÖTTERDÄMMERUNG, wo man wahrnimmt, dass das Labor E.S.C.H.E. noch in Betrieb ist. Im Atrium ist die Esche unterdessen gefällt worden (steht so in Wagners Text, da der Esche die Wunde, die Wotan ihr schlug, um aus einem Ast der Weltesche seinen Speer zu schnitzen, nie verheilte und sie verdorrte), sie machte Platz für ein Basketballfeld. Hagens Mannen (klangstark der von Martin Wright einstudierte Staatsopernchor), Gunther und Siegfried spielen, trinken und diskutieren in grün-weissen Trikots. Da wird mal der Ball im Takt der Musik geprellt, mal wird er (wie im Klassenzimmer) als Aufforderung zur Gegenrede hin- und hergeworfen. Hier ist es auch, wo Siegfried dann von Hagen mit einer Fahnenstange in den Rücken gestochen und ermordet wird.
DIE ÜBRIGGEBLIEBENEN DER VORANGEHENDEN ABENDE
Den Nornen sind wir im RHEINGOLD und im SIEGFRIED als stumme Gestalten schon begegnet. Jetzt werden sie bei ihrem Gang durchs Labor fündig, indem sie die Wohnung von Brünnhilde und Siegfried entdecken und sich darin sehr detailliert umsehen - das geht bis zum Durchwühlen der Schmutzwäsche. Die drei Nornen sind auch sehr alt geworden, eine dämmert immer wieder weg, als ihr dann das Seil zugeworfen wird und sie über das Ende der Götter sinniert, ist sie jedoch voll da und liefert sich mit den Schwestern gar eine Balgerei mit Handtaschen um die Deutungshoheit der Prophezeihung. Noa Beinart, Kristina Stanek und Anna Samuil machen das umwerfend gut - und singen erst noch sehr, sehr schön und intensiv. Sogar ihre Mutter Erda (Anna Kissjudit) hat ganz am Ende der Götterdämmerung noch zwei stumme Auftritte (in Wagners Text so nicht vorgesehen). Erstens erweist sie Siegfrieds Leiche die Referenz (alt und schwer schlurfend) und zweitens versucht sie Brünnhilde ganz am Ende auf der leeren Bühne mithilfe des papierenen Waldvogels doch noch irgenwie zum Bleiben verleiten zu wollen. Vergebens. Zwei Auftritte hat auch noch Alberich, der von Johannes Martin Kränzle erneut mit fantastischer Genauigkeit charakterisiert wird. Zuerst begegnen wir ihm in der Gibichungenhalle in der zweiten Szene des ersten Aufzugs, wo er Hagen nur beobachtet, dann zweiten Aufzug im Hörsaal, wo sein Sohn Hagen Wache hält. Alberich windet sich bis auf eine vergraute Unterhose splitternackt unter den Stühlen hervor (Schläfst du Hagen, mein Sohn). In ihrer Nacktheit und mit dem schleimig-schleichenden Gang und dem ständigen Begehren nach dem Ring hat die Figur etwas von Gollum/Smeagol aus dem HERR DER RINGE von Tolkien. Quasi ein Überrschungsgast erweist Siegfried an der Therapie-/Leichenhausliege noch die letzte Ehre: Es ist der nun noch stärker gealterte Göttervater Wotan selbst, der von seinem Enkel Abschied nimmt. Lange versteckt er sich hinter den anderen Trauergästen, am Ende wenn Brünnhilde zu ihrem Schlussgesang anhebt, steht er mit ihr zusammen bei der Leiche Siegfrieds. Das ist ein sehr berührender Moment (von Wagner auch nicht vorgesehen), wenn sich Vater und Tochter in der Trauer um den Geliebten und den Sohn wieder annähern. Auch solche Konstellationen kennen wir aus dem realen Leben und Tcherniakov hat das sehr fein umgesetzt. Auch dabei hat er nur auf den Text gehorcht, singt doch Brünnhilde "Meine Klage hör, du hehrster Gott" (damit meint sie natürlich Wotan) und schickt ihn darauf weg mit den Worten "Auch deine Raben hör' ich rauschen; mit bang ersehnter Botschaft send' ich die beiden nun heim. Ruhe, ruhe, du Gott!" Darauf verlässt Wotan still und leise die Bühne, Brünnhilde wirft sich auf den Leichnam, der Raum wird weggezogen - die Bühne steht schwarz und leer. Kein Weltenbrand ist zu erleben, der tobt nur im Orchester - und wie. Thomas Guggeis und die Staatskapelle Berlin lassen nochmals das ganz grosse Geschütz auffahren, lassen den Teppich aus den fein gewobenen Leitmotiven der riesigen Partitur regelrecht expoldieren. In der GÖTTERDÄMMERUNG ist ja praktisch jeder Takt mit Motiven, deren Transformationen und Partikeln durchwoben, das alles wurde an den vier Abenden glanzvoll und subtil ausgehorcht dargeboten. Einzig die Hörner erwischten in der GÖTTERDÄMMERUNG nicht den allerbesten Tag, da waren doch einige verzögerte Einsätze und Hickser zu hören.
Am Ende also steht Brünnhilde auf der leeren Bühne - sie begegnet mit ihrer Reisetasche in der Hand wie erwähnt noch kurz Erda, dann wendet sie sich nach vorne, während auf der Rückwand ein Textentwurf Wagners zu lesen ist, den er für das Ende der GÖTTERDÄMMERUNG vorgesehen hatte, jedoch nie vertonte: "Aus Wunschheim zieh ich fort, Wahnheim flieh' ich auf immer; des ew'gen Werdens offene Tore schließ' ich hinter mir zu: nach dem wunsch- und wahnlos heiligsten Wahlland, der Weltwanderung Ziel, von Wiedergeburt erlöst, zieht nun die Wissende hin. Alles Ew'gen sel'ges Ende, wißt ihr, wie ich's gewann? Trauernder Liebe tiefstes Leiden schloß die Augen mir auf: enden sah ich die Welt." Es ist dies, obwohl Sieglindes optimistisches "Hehrstes Wunder"-Motiv aus der WALKÜRE dazu erklingt ein sehr pessimistischer Schluss - und darum für die heutige Zeit so passend nachdenklich stimmend. Danke Dmitri Tcherniakov für diesen Eye-Opener-Ring!
Werk:
Die GÖTTERDÄMMERUNG bildet den monumentalen Schlussteil von Wagners Tetralogie, ein Werk von ungeheurem Ausmass und ebensolchen Anforderungen an die Ausführenden. Nach aussen stellt diese Werk - mit einer Aufführungsdauer von sechs Stunden - den opernhaftesten Teil der vier Abende dar, mit grossen arienhaften Szenen und dem Chor, der hier zum einzigen Mal im gesamten RING auftaucht. Daneben kommt das sinfonische Element, als orchestrales Intermezzo, ausgiebig zum Tragen (Siegfrieds Rheinfahrt, Trauermusik, Weltenbrand). Trotz des gewaltigen Umfangs der Partitur herrscht nach dem ruhigen Beginn (Szene der Nornen) eine nie nachlassende Spannung und eine geballte, hochdramatische Erregung. Wagner hat die Charakterzeichnungen der Personen noch weiter verfeinert, die Motive werden kunstvoll verwoben und zu einem eruptiven Schluss gebracht.
Das aussergewöhnliche Drama um Liebe, Macht und gebrochene Verträge findet mit der Rückgabe des fluchbeladenen Rings an die Rheintöchter sein Ende.
Inhalt des dritten Tages:
Der letzte Teil von in Richard Wagners "Ring"-Tetralogie schildert den Tod Siegfrieds, den Untergang der Götter und die Erlösung vom Ring und seinem Fluch: Siegfried lebt nun mit Brünnhilde zusammen, doch es drängt ihn zu neuen Taten. Als Pfand seiner Liebe überlässt er ihr den Ring. Von seiner Macht weiß er allerdings nichts. Unterdessen hat Alberich mit Grimhild einen Sohn gezeugt: Hagen. Er will ihn benutzen, um wieder in den Besitz des Rings zu gelangen. Hagen weiss um den Ring und seine Macht und gibt Siegfried einen Vergessenstrank. Nun kann er sich an nichts mehr erinnern. Er erklärt sich einverstanden, Brünnhilde für Gunther freien und kriegt dafür Gunthers Schwester Gutrune zur Frau. Brünnhilde fühlt sich von Siegfried betrogen. Sie verrät Hagen, dass Siegfried am Rücken verletzlich ist. Hagen ermordet Siegfried. Erst nach dem Tod Siegfrieds begreift Brünnhilde, dass sie von Hagen benutzt wurde, um den Ring zu erlangen. Sie nimmt den Ring an sich und reitet in den Scheiterhaufen auf welchem der tote Held verbrannt werden soll. Der Rhein tritt über die Ufer, die Rheintöchter ziehen Hagen in die Fluten. Das Feuer greif auf Walhall über, das Ende der Götter ist da.
Musikalische Höhepunkte:
Tagesanbruch, Prolog
Zu neuen Taten, Brünnhilde-Siegfried, Prolog
Siegfrieds Rheinfahrt, Prolog
Hier sitz ich zur Wacht, Hagen, Akt I
Altgewohntes Geräusch, Brünnhilde-Waltraute, Akt I
Schläfst du Hagen, mein Sohn, Alberich-Hagen, Akt II
Welches Unholds List, Verschwörungsszene Brünnhilde, Hagen, Gunther, Akt II
Mime hiess ein mürrischer Zwerg – Brünnhilde, heilige Braut, Siegfrieds Erzählung, Akt III
Siegfrieds Tod, Trauermusik, Akt III
Starke Scheite schichtet mir dort, Schlussgesang der Brünnhilde, Akt III