Zürich: WERTHER, 02.04.2017
Drame lyrique in vier Akten | Musik: Jules Massenet | Libretto: Édouard Blau, Paul Millet, Georges Hartmann, nach Goethes Briefroman DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHER | Uraufführung: 16. Februar 1892 in Wien (deutsche Fassung von Max Kalbeck), 16. Januar 1893 in Paris (französische Fassung) | Aufführungen in Zürich: 2.4. | 5.4. | 8.4. | 11.4. | 17.4. | 23.4. | 27.4. | 30.4.2017
Kritik:
Vielleicht haben es Opernbesucher, welche Massenets WERTHER noch nie auf der Bühne gesehen haben, leichter, sich in Tatjana Gürbacas neue Inszenierung in Zürich hineinzuleben, sich darin zurechtzufinden, als Operngänger, welche quasi mit Otto Schenks naturalistisch-romantischer Inszenierung am Opernhaus Zürich in den 80er Jahren gross geworden sind. Denn es ist nicht ganz einfach, die Bilder von wehenden Gazevorhängen im Mondschein, fallenden Blättern beim sonntäglichen Kirchgang oder Charlottes Aufbruch im Schneegestöber an Heiligabend aus dem Kopf zu kriegen. Doch je länger die Aufführung gestern Abend dauerte, desto stringenter und spannender erlebte man sie. Zugegeben, ich musste eine Nacht darüber schlafen (oder eben nicht, sondern nachdenken), um zu einer Würdigung zu gelangen. Musiktheater, das bewegt, im wahrsten Sinne des Wortes. Frau Gürbaca lässt alles Naturalistische aussen vor und inszeniert quasi aus dem Kopf Werthers heraus, evoziert die Bilder, welche sich der Künstler und Bohemien Werther selbst macht – Genie und Wahnsinn zugleich. Es ist eine verschrobene Welt, die Werther vor seinem inneren Auge sieht, mit grotesken Anflügen und dabei doch ungemein klarsichtig, eben genau in der Art, die grosse Kunst ausmacht. Bei seinem ersten Auftritt an der Rampe wird er von einer kleinen Schwester Charlottes quasi in das beengte Haus heineingezogen, und von nun an wird er zwar Teil der Handlung, bleibt aber immer auch Beobachter, stellt eigene, bildliche Assoziationen zum Geschehen her. Dabei führt Tatjana Gürbaca die Personen sehr genau, charakterisiert treffend, lebhaft und mit unaufdringlichem Einfallsreichtum. So sieht Werther zum Beispiel im zweiten Akt Charlotte und Albert sich immer noch um die Geschwister kümmern, die unterdessen aber zu Greisen gealtert sind. Über der Szene, in einem der Schränke, thront drohend die Urne mit der Asche von Charlottes Mutter. Diese assoziativen, symbolbeladenen Bilder zeigen Werther die Aussichtslosigkeit seines Begehrens, veranlassen ihn zur abrupten Abreise. Klaus Grünberg hat ein beengtes, klaustrophobisches Einheitsbühenbild geschaffen, einen mit hellem Holz getäfelten Wohnraum, mit übermässiger Tiefenperspektive, welche die winzige Spielfläche grösser erscheinen lässt als sie ist. Schmucklos sind diese Wände, einzig eine Uhr zeigt die reale Zeit der Handlung an. Zum Zuschauersaal hin wird dieser Raum durch einen asymmetrischen Rahmen abgeschlossen. Die raffinierten Lichteffekte (ebenfalls von Klaus Grünberg) schaffen eine Atmosphären zwischen Traum, Albtraum und Realität. Und genau so wechselt auch der szenische Ablauf zwischen realistischen Tätigkeiten und assoziativen Bildern, welche Werther sich in seinem Kopf macht. Wenn Charlotte im dritten Akt den Weihnachtsschmuck an die Wand knallt, dann ist das Realität, drückt ihre zwiespältigen Gefühle zwischen Pflichtbewusstsein (Gemahlin von Albert, weil sie das ihrer Mutter am Sterbebett versprochen hatte) und dem Verlangen nach der Erfüllung in der Liebe zu Werther aus. Wenn Werther dann eintritt und sie zusammen Silberfäden durchs ganze Haus spannen, bis sie wie in einem Netz darin gefangen sind, sich verheddern, dann ist das wieder ein Bild aus Werthers Kopf. Diese Wechsel gedanklich zu verarbeiten ist anspruchsvoll, keine Frage, doch eben auch stimmig und bringt die romantische Oper nahe an unser eigenes Erleben, denn immer wieder malen wir uns doch in Gedanken Situationen aus, auch wenn wir nicht die Genialtät des jungen Sturm und Drang Künstlers besitzen. Durch die Kostüme von Silke Willrett wird diese zeitliche Nähe zu unserer Gegenwart noch unterstützt, die Kleider kreisen um die späten 70er, frühen 80er Jahre, mit Plateau-Schuhen und wilden Kombinationen von Stoffen und Mustern, wie sie im Endstadion der Pop-Art getragen wurden, einer Zeit, in der viele geniale Künstler - vor allem der Musikbranche - durch den Freitod diese Welt verlassen haben (im Programmheft wird Kurt Cobain zitiert mit seinen Abschiedsworten „It's better to burn out than to fade away“) - und auch Werther beendet sein Leben ja mit dem Schuss in seinen Kopf. Was dann noch folgt, ist wahrlich von unbeschreiblicher poetischer Kraft: Zum Schlussduett zwischen Werther und Charlotte kommen ihre Alter Egos als ein greises Paar auf die Bühne, mit dem Indianerfederschmuck und der Prinzessinnenkrone, welche Werther und Charlotte im ersten Akt zum Ball getragen hatten. Voll berührender Zärtlichkeit tanzen die beiden Alten einen langsamen Walzer, setzen sich auf die Fensterbank nebeneinander, alle Fenster und Türen des beengten Hauses öffnen sich und das Haus scheint nun völlig schwerelos durchs All zu schweben, losgelöst von der Erde, diesem Tal der Tränen. Werther stirbt, doch unweigerlich denkt man bei diesem Bild an Hermann Hesse „Und die Seele, unbewacht,
will in freien Flügen schweben, um im Zauberkreis der Nacht tief und tausendfach zu leben“. Schöner und bewegender inszeniert endete kaum je eine Opernaufführung von den gut 2000, die ich bis anhin erleben durfte.
Zur Umsetzung ihres starken Konzepts durfte Frau Gürbaca auf eine hochklassiges Team von Sängerdarsteller*innen zählen: allen voran natürlich der wie immer blendend aussehende Startenor Juan Diego Flórez, der seinen Fachwechsel behutsam und intelligent angeht. Von der Erscheinung her kann man sich natürlich kaum einen adäquateren Darsteller für den jungen Schwärmer Werther vorstellen. Seine Stimme kam gut durch die nicht immer leisen Orchesterfluten (wenigstens im hinteren Parkett), verfügte über eine wunderbar warme Mittellage, zeichnete sich durch hervorragende Phrasierung aus, klang nur leicht angestrengter in der Höhe, doch die Spitzentöne (das ais im Pourquoi me réveiller) wurden sauber erreicht und gehalten. Ein überaus eleganter, smarter Werther, ohne Tenorallüren, ohne Schluchzer, ohne unnötiges Forcieren. In Anna Stéphanys Charlotte hatte er eine starke Partnerin. Sie setzte ihren farbenreichen Mezzosopran intelligent ein, kälter klingend im ersten Teil, wo sie ihre Gefühle noch unterdrücken musste (wollte), sich zur gewaltigen Expressivität steigernd im zweiten Teil mit der grandios gestalteten Briefsszene und dem berührenden Schlussakt. Für Anna Stéphany war dies ein gelungenes Rollendebut, wie auch für ihre Schwester Sophie in der Oper, welche von Mélissa Petit glockenrein, quirlig und sehr menschlich gesungen und gespielt wurde. Herausragend auch Audun Iversen, welcher mit seinem herrlich ausgeglichen timbrierten, sonoren Bariton einem die Rolle des Albert auf sympathische Art und Weise näher brachte. Die Zeichnung der kleineren Partien gelang Frau Gürbaca ebenfalls ausgezeichnet: Wunderbar der Bailli (Vater von Charlotte, Sophie und deren Geschwistern) von Cheyne Davidson, ebenso wie der Johann von Yuriy Tsiple und der Schmidt von Martin Zysset. Auch das entrückt von Klopstocks Empfindsamkeit schwärmende Liebespaar Käthchen und Brühlmann wurde von Soyoung Lee und Stanislav Voroboyov bestens interpretiert. Ein groses Lob gebührt auch den Solisten des Kinderchors der Oper Zürich, welche ihr Weihnachtslied in der Probe im Hochsommer und im Schlussbild an Heiligabend mit imponierender Natürlichkeit sangen.
Cornelius Meister (designierter GMD der Staatsoper Stuttgart) legte eine ungewohnte Lesart von Massenets Partitur vor: Es schien an gewissen Stellen fast, als wolle er jeglichen Anflug von „himbeersüsser Musik“ (Manuel Brug) und Parfüm um jeden Preis vermeiden. Aufgepeitscht und hochdramatisch erklang die zeitweise mit ekstatischer Kraft spielende Philharmonia Zürich – doch ein Clair de lune bleibt eben ein Clair de lune und die Süsse der Violine, die Zärtlichkeit des melodischen Einfallsreichtums Massenets setzte sich dann doch durch. Gut so!
Inhalt:
Sommer: Charlotte, die Tochter des verwitweten Amtsmanns probt mit ihren jüngeren Geschwistern Weihnachtslieder. Sie hat als ältestes Kind die Aufgaben und die Rolle der Mutter im Haus übernommen, nachdem ihre Mutter früh gestorben ist. Werther soll Charlotte zum Ball begleiten, da ihr Verlobter Albert abwesend ist. Werther sinniert bei seinem ersten Auftritt über die Natur und die malerische Stimmung. Fasziniert betrachtet er die Musikprobe im Haus des Amtsmanns. Charlotte und Werther werden einander vorgestellt. Werther spürt erste Gefühle für Charlotte in sich aufwallen. Sie machen sich auf den Weg zum Ball. Unterdessen kommt Albert früher als erwartet nach Hause. Sophie, Charlottes jüngere Schwester, erzählt ihm, dass man im Hause mit den Vorbereitungen zur Hochzeit zwischen Charlotte und Albert beschäftigt sei. Albert geht ab und verspricht, am nächsten Tag wiederzukommen. Bei Mondenschein (Claire de lune) kehren Charlotte und Werther vom Ball zurück. Werther gesteht Charlotte seine Liebe. Doch Charlotte konfrontiert ihn mit dem Versprechen, das sie einst ihrer Mutter gegeben hatte: Sie wird Albert heiraten. Werther ist verzweifelt.
Herbst: Charlotte und Albert sind nun verheiratet. Auf dem Weg zur Kirche werden sie vom eifersüchtigen Werther beobachtet. Als Albert aus der Kirche kommt, spürt er den Grund für Werthers Niedergeschlagenheit und versucht mit ihm zu sprechen. Werther versichert Albert seiner Loyalität. Doch als er wieder allein ist, bricht er in Selbstmitleid völlig zusammen. Charlotte kommt aus der Kirche. Er erinnert sie an die glückliche Stunde im Mondenschein. Doch Charlotte geht nicht darauf ein, weist Werther auf ihre Pflichten ihrem Gemahl gegenüber hin und empfiehlt ihm schliesslich, die Gegend für eine Weile zu verlassen und erst so gegen Weihnachten wieder zurückzukehren. Werthers Gedanken kreisen um Suizid. Sophie will Werther aus der trüben Stimmung reissen, doch er weist sie dermassen schroff ab, dass Sophie in Tränen ausbricht. Sophie berichtet Albert und Charlotte von Werthers rüdem Abgang. Albert wird klar, dass Werther seine Frau liebt.
Dezember: Charlotte liest Werthers Briefe, welch er ihr aus seinem „Exil“ geschrieben hat. Sie muss sich selbst ihre Gefühle der Zuneigung zu Werther eingestehen. Werther tritt unverhofft ein und wirft sich ihr zu Füssen (Pourqoi me réveiller). Charlotte wirft sich in seine Arme, weicht jedoch von Pflichtgefühl erfasst gleich wieder zurück und stürmt aus dem Zimmer. Albert hat ein Schreiben Werthers erhalten. Darin bittet Werther ihn um seine Pistolen, da er eine lange Reise plane. Albert und Charlotte ist der wahre Zweck dieser Bitte bewusst und Albert weist seine Gattin an, dem Diener die Waffen auszuhändigen und sie Werther zukommen zu lassen. Nachdem Charlotte wieder alleine ist, ergreift sie ihren Mantel und stürmt davon.
Heiligabend: Ein Intermezzo (La nuit de noël) leitet den letzten Akt ein. Charlotte findet Werther, der sich in die Brust geschossen hat, in seinem Zimmer auf dem Boden liegend vor. Sterbend bittet er sie um Vergebung und hindert sie daran, Hilfe zu holen. Endlich kann auch Charlotte zu ihren wirklichen Gefühlen stehen (Et Werther, moi je t'aime). Werther stirbt und Charlotte muss erkennen, dass sie die Liebe ihres Lebens verloren hat. Von Ferne hört man das Weihnachtslied der Kinder aus dem ersten Akt ... .
Werk:
Jules Massenet (1842-1912) komponierte neben Bühnenmusiken, Balletten, sakralen Werken, Kammermusik und Liedern ungefähr 30 Opern (einige Partituren sind verschollen oder blieben unaufgeführt). Trotz der Reichhaltigkeit seines Oeuvres vermögen sich aus seinem Opernschaffen lediglich zwei Stücke dauerhaft im Repertoire zu halten, MANON und WERTHER. Vereinzelt tauchen auch THAÏS (besonders wegen des orchestralen Zwischenspiels der Solovioline, genannt Méditation) CENDRILLON, LE CID, DON QUICHOTTE oder HÉRODIADE auf. Vielerorts gilt der französische Spätromantiker als zu parfümiert in seinem Musikstil. Dabei war Massenet ein sehr gewissenhafter, mit Geschmack und psychologischem Gespür für seine Charakterisierungen vorgehender Komponist. Seine Partituren sind von tiefer Lyrik geprägt, üppig orchestriert, melodisch einfallsreich, haben eigentlich alle Ingredienzien (wie auch stimmige, spannende Libretti,) um eine breite Publikumsschicht anzusprechen. WERTHER nun wurde nicht in Paris (Brand des „Stammhauses“ von Massenet, der Opéra-Comique) uraufgeführt, sondern in einer deutschen Übersetzung in Wien, wo auch seine MANON bereits ein grosser Erfolg gewesen war. WERTHER fand dann ein Jahr später doch noch den Weg nach Paris, wurde dort aber kein grosser Erfolg. Erst eine Wiederaufnahme 10 Jahre später führte auch in Frankreich dazu, dass WERTHER zur beliebtesten Oper von Massenet wurde (neben MANON) und dies auch blieb. In Deutschland tat man sich eher schwer mit den Franzosen, die sich am Nationalheiligtum Goethe „vergriffen“ hatten. Neben Massenet waren dies Gounod mit FAUST und Ambroise Thomas mit MIGNON. Doch unterdessen hat auch der WERTHER seinen verdienten Platz im Repertoire deutscher Bühnen gefunden. Die Titelrolle gehört zu den begehrtesten Partien für Tenöre mit lyrisch-dramatischer Leuchtkraft wie Georges Thill, Alfredo Kraus, José Carreras, dem kürzlich leider verstorbenen Nicolai Gedda oder Roberto Alagna. Interessanterweise schuf Massenet für den Sänger Battistini auch eine Bariton-Version, welche u.a. auch in Zürich mit Thomas Hampson zu erleben war. Die Partie der Charlotte wird von lyrischen Sopranen (z.B. Angela Gheorghiu, Victoria de los Angeles) genauso gerne gesungen wie von Mezzosopranistinnen (Rita Gorr, Tatjana Troyanos, Anne Sophie von Otter, Teresa Berganza – die auch neben Kraus und Carreras in Zürich zu erleben gewesen war).