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Zürich, Opernhaus: WERTHER, 23.01.2024

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Werther

copyright aller Bilder: Toni Suter, mit freundlicher Genehmigung Opernhaus Zürich

DER lyrische Tenor unserer Tage, Benjamin Bernheim, in einer seiner Paraderollen

Drame lyrique in vier Akten | Musik: Jules Massenet | Libretto: Édouard Blau, Paul Millet, Georges Hartmann, nach Goethes Briefroman DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHER | Uraufführung: 16. Februar 1892 in Wien (deutsche Fassung von Max Kalbeck), 16. Januar 1893 in Paris (französische Fassung) | Aufführungen dieser Wiederaufnahme in Zürich: 23.1. | 27.1. | 31.1. | 4.2.2024

Kritik: 

GÄNSEHAUTMOMENTE UND TRÄNEN ...

... sind bei der Wiederaufnahme dieser Produktion aus dem Jahr 2017 garantiert. Nicht nur bescheren uns die Regisseurin Tatjana Gürbaca und ihr Bühnenbildner Klaus Grünberg am Ende ein Bild, das zutiefst rührt und bewegt, auch die Dirgentin Giedrė Šlekytė, die wunderbar differenziert spielende Philharmonia Zürich und die Interpret"innen, allen voran natürlich Startenor Benjamin Bernheim in der Titelrolle und die ausdrucksstarke Mezzosopranistin Rihab Chaieb als Charlotte, sorgen für emotionalen Aufruhr des Herzens. 

Meine Eindrücke zur Inszenierung aus dem Jahr 2017 kann man mittels untenstehendem Link nachlesen. Kurz zusammengefasst: Tatjana Gürbaca und Klaus Grünberg ist mit dieser Inszenierung ein ganz grosser Wurf gelungen. Die Aussparung alles Naturalistischen, die Konzentration der Handlung in einem hermetisch abgeriegelten, asymmetrischen Seelenraum, in dem Reales mit dem Kopfkino des Künstlers verwoben wird, bedarf eines gedanklichen Einlassens auf das Konzept; doch wenn man das schafft, wird man mit einer stringenten und bestechenden Unerbittlichkeit in den Strudel dieser Liebe ohne glücklichen Ausweg hineingezogen. Am Ende, wenn sich endlich die Fenster und Türen dieses getäfelten Raums öffnen und den Blick ins Weltall und den entschwindenden Planeten Erde, dieses Tal der Tränen, freigeben, denkt man immer noch sofort an Hesses von Richard Strauss in den VIER LETZTEN LIEDERN so genial vertontes Gedicht BEIM SCHLAFENGEHEN. Werthers Suizid, das Eingeständnis ihrer Liebe durch Charlotte und Gürbacas Kontrastierung des tragischen Paares mit der Idealvorstellung eines gemeinsam alternden, in seiner dauerhaften, ewigen Liebe verbundenen Paares und das freie Schweben des gesamten Raums im Universum, ist einer der Momente, in dem uns klar wird, warum wir die Emotionalität der Oper so lieben. Das ist schlicht genial konzipiert - von Massenet und dem Inszenierungsteam. Und es funktioniert so gut, weil eben Weltklasse-Interpret*innen am Werk sind.

Die international tätige, litauische Dirigentin Giedrė Šlekytė führt mit grandios gehaltenen Spannungsbögen durch die meisterhafte Partitur Massenets (wohl seine beste, wobei die restlichen 23 Opern des Meisters auch mal der Wiederentdeckung bedürften, denn ausser seiner MANON sind seine Werke doch eher nur noch am Rand des Repertoires oder gar ausserhalb dieses Randes anzutreffen). Frau Šlekytė bringt die exquisite Orchestrierung Massenets mit tranparenten Klangvorstellungen zum Klingen, besonders die kammermusikalisch geprägten Passagen werden von den exzellenten Musiker*innen der Philharmonia Zürich mit wunderbarer Einfühlsamkeit gespielt. Frau Šlekytė versteht es ausgezeichnet, die lieblichen, manche sagen "parfümierten", Passagen mit der gebotenen Süsse zum Erblühen zu bringen, ohne dass der Klang klebrig wird. Grossartig werden z.B. im Clair de lune die fragmentarisch hereinwehenden Phrasen nach und nach zum Ganzen gefügt. 

DAS STIMMWUNDER BERNHEIM

Benjamin Bernheim in der Titelpartie ist schlicht und einfach unübertrefflich und mir kommt kein Tenor der Gegenwart in den Sinn, der ihm hier das Wasser reichen könnte. Welch eine perfekte Stimmführung, Pianotöne voller Ausdruckskraft, ohne je ins Weinerliche oder in tenorale Schluchzer abzugleiten, ein Passaggio der Extraklasse, eine dynamische Bandbreite, die bruchlos und organisch zu Steigerungen in der Lage ist, welche Gänsehautmomente evozieren. Dazu kommt ein gekonnter Einsatz der Voix mixte, einer Technik, welche es ihm ermöglicht, Töne in hohen Lagen ohne jegliches Forcieren mit exemplarischer Klangschönheit wiederzugeben. Dazu kommt, dass Benjamin Bernheim ein eindringlicher, glaubhafter Darsteller ist. Höhepunkt ist natürlich die Szene, wo er mit Charlotte im dritten Akt seine Übersetzungen der Balladen Ossians durchgeht und dabei zu seiner "Arie" Pourquoi me réveiller inspiriert wird. Wie Bernheim diesen tenoralen Hit aufbaut, rührt zu Tränen. Das ist Gesangskunst auf allerhöchstem Niveau, dynamisch so wunderbar organisch und differenziert sich steigernd, dabei immer mit perfekter Sauberkeit auf der Gesangslinie bleibend.

FEMME FATALE

Wenn die Charlotte durch eine Mezzosopranistin besetzt wird (es gibt auch Aufnahmen mit Sopranistinnen, z. B. Victoria de los Angeles oder Angela Gheorgiu) erhält die Partie durch den dunkleren Klang der Stimme oftmals eine erotischere Färbung, erinnert dann schnell an die im zweiten Kaiserreich und bis zum fin de siècle oft in Opern anzutreffenden femmes fatales. Und fatale ist Charlotte ja für Werther, wenn auch die Erotik vordergründig nicht so eine grosse Rolle spielt wie in Bizets CARMEN oder in Saint-Saëns' SAMSON ET DALILA. In dieser Wiederaufnahme in Zürich nun ist die Partie der jungen Mezzosopranistin Rihab Chaieb anvertraut worden, welche mit sensibler Stimmführung und eindringlicher Expressivität die Dilemmata der Figur zwischen Pflichterfüllung als Ehefrau Alberts, als Ersatzmutter ihrer jüngeren Geschwister, dem Versprechen, das sie ihrer früh verstorbenen Mutter an deren Sterbebett gegeben hatte (die Urne der Mutter thront bedrohlich im zweiten Akt im Zentrum der Rückwand) expressiven Ausdruck verleiht. In ihrer grossen Briefszene im dritten Akt gelingt Rihab Chaieb ein unter die Haut gehendes Porträt dieser in vielerlei Hinsicht unfreien Frau, der das Glück versagt bleibt. 

DER EHEMANN UND DIE SCHWESTER

Audun Iversen sang den Albert in Zürich bereits in der Premiere 2017. Sein Bariton klingt überaus einnehmend, er singt einen fantastischen Albert, der einem keineswegs unsympathisch ist, schliesslich kann er ja nichts dafür, dass Charlotte sich in Werther verliebt hatte. Darstellerisch ist auch er ganz stark, nur schon die Blicke, die er mit seiner Gattin wechselt, sprechen Bände. Die lebenslustige Schwester Charlottes, Sophie, die am Ende des zweiten Aktes von Werther so schändlich versetzt wird, dass sie in Tränen ausbricht, wird von Sandra Hamaoui mit grandioser stimmlicher Agilität gesungen, da paart sich perlende Leichtigkeit mit dynamischer Intensität!

EIN LOB DEN INTERPRET*INNEN DER KLEINEREN PARTIEN

Martin Zysset sang den Schmidt bereits 2017 und ist nun erneut in dieser dankbaren Charakterpartie zu erleben. Zusammen mit dem Johann von Andrew Moore sprechen sie gerne den Tränken des Bacchus zu, bringen etwas Leichtigkeit in die Schwere der Handlung. Die beiden sind ein herrliches Paar. Valeriy Murga gibt einen sympathischen Bailli, der seiner reichen Kinderschar (zu der ja auch die beiden ältesten Kinder Charlotte und Sophie gehören) ein liebevoller Vater ist. Als romanitsche Klopstock-Anhänger bringen Brühlmann (Jonas Jud) und sein Käthchen (Flavia Stricker) einen lichten Farbtupfer in die Tragödie und die Leiden Werthers und Charlottes.

Fazit: Es gibt nur noch drei Vorstellungen dieser fantastischen Produktion. EIN MUSS!

Inhalt:

Sommer: Charlotte, die Tochter des verwitweten Amtsmanns probt mit ihren jüngeren Geschwistern Weihnachtslieder. Sie hat als ältestes Kind die Aufgaben und die Rolle der Mutter im Haus übernommen, nachdem ihre Mutter früh verstarb. Werther soll Charlotte zum Ball begleiten, da ihr Verlobter Albert abwesend ist. Werther sinniert bei seinem ersten Auftritt über die Natur und die malerische Stimmung. Fasziniert betrachtet er die Musikprobe im Haus des Amtsmanns. Charlotte und Werther werden einander vorgestellt. Werther spürt erste Gefühle für Charlotte in sich aufwallen. Sie machen sich auf den Weg zum Ball. Unterdessen kommt Albert früher als erwartet nach Hause. Sophie, Charlottes jüngere Schwester, erzählt ihm, dass man im Hause mit den Vorbereitungen zur Hochzeit zwischen Charlotte und Albert beschäftigt sei. Albert geht ab und verspricht, am nächsten Tag wiederzukommen. Bei Mondenschein (Claire de lune) kehren Charlotte und Werther vom Ball zurück. Werther gesteht Charlotte seine Liebe. Doch Charlotte konfrontiert ihn mit dem Versprechen, das sie einst ihrer Mutter gegeben hatte: Sie wird Albert heiraten. Werther ist verzweifelt.

Herbst: Charlotte und Albert sind nun verheiratet. Auf dem Weg zur Kirche werden sie vom eifersüchtigen Werther beobachtet. Als Albert aus der Kirche kommt, spürt er den Grund für Werthers Niedergeschlagenheit und versucht mit ihm zu sprechen. Werther versichert Albert seiner Loyalität. Doch als er wieder allein ist, bricht er in Selbstmitleid völlig zusammen. Charlotte kommt aus der Kirche. Er erinnert sie an die glückliche Stunde im Mondenschein. Doch Charlotte geht nicht darauf ein, weist Werther auf ihre Pflichten ihrem Gemahl gegenüber hin und empfiehlt ihm schliesslich, die Gegend für eine Weile zu verlassen und erst so gegen Weihnachten wieder zurückzukehren. Werthers Gedanken kreisen um Suizid. Sophie will Werther aus der trüben Stimmung reissen, doch er weist sie dermassen schroff ab, dass Sophie in Tränen ausbricht. Sophie berichtet Albert und Charlotte von Werthers rüdem Abgang. Albert wird klar, dass Werther seine Frau liebt.

Dezember: Charlotte liest Werthers Briefe, welche er ihr aus seinem „Exil“ geschrieben hat. Sie muss sich selbst gegenüber ihre Gefühle der Zuneigung zu Werther eingestehen. Werther tritt unverhofft ein und wirft sich ihr zu Füssen (Pourqoi me réveiller). Charlotte wirft sich in seine Arme, weicht jedoch von Pflichtgefühl erfasst gleich wieder zurück und stürmt aus dem Zimmer. Albert hat ein Schreiben Werthers erhalten. Darin bittet Werther ihn um seine Pistolen, da er eine lange Reise plane. Albert und Charlotte ist der wahre Zweck dieser Bitte bewusst und Albert weist seine Gattin an, dem Diener die Waffen auszuhändigen und sie Werther zukommen zu lassen. Nachdem Charlotte wieder alleine ist, ergreift sie ihren Mantel und stürmt davon.

Heiligabend: Ein Intermezzo (La nuit de noël) leitet den letzten Akt ein. Charlotte findet Werther, der sich in die Brust geschossen hat, in seinem Zimmer auf dem Boden liegend vor. Sterbend bittet er sie um Vergebung und hindert sie daran, Hilfe zu holen. Endlich kann auch Charlotte zu ihren wirklichen Gefühlen stehen (Et Werther, moi je t'aime). Werther stirbt und Charlotte muss erkennen, dass sie die Liebe ihres Lebens verloren hat. Von Ferne hört man das Weihnachtslied der Kinder aus dem ersten Akt ... .

Werk:

Jules Massenet (1842-1912) komponierte neben Bühnenmusiken, Balletten, sakralen Werken, Kammermusik und Liedern ungefähr 30 Opern (einige Partituren sind verschollen oder blieben unaufgeführt). Trotz der Reichhaltigkeit seines Oeuvres vermögen sich aus seinem Opernschaffen lediglich zwei Stücke dauerhaft im Repertoire zu halten, MANON und WERTHER. Vereinzelt tauchen auch THAÏS (besonders wegen des orchestralen Zwischenspiels der Solovioline, genannt Méditation) CENDRILLON, LE CID, DON QUICHOTTE oder HÉRODIADE auf. Vielerorts gilt der französische Spätromantiker als zu parfümiert in seinem Musikstil. Dabei war Massenet ein sehr gewissenhafter, mit Geschmack und psychologischem Gespür für seine Charakterisierungen vorgehender Komponist. Seine Partituren sind von tiefer Lyrik geprägt, üppig orchestriert, melodisch einfallsreich, haben eigentlich alle Ingredienzien (wie auch stimmige, spannende Libretti,) um eine breite Publikumsschicht anzusprechen. WERTHER nun wurde nicht in Paris (Brand des „Stammhauses“ von Massenet, der Opéra-Comique) uraufgeführt, sondern in einer deutschen Übersetzung in Wien, wo auch seine MANON bereits ein grosser Erfolg gewesen war. WERTHER fand dann ein Jahr später doch noch den Weg nach Paris, wurde dort aber kein grosser Erfolg. Erst eine Wiederaufnahme 10 Jahre später führte auch in Frankreich dazu, dass WERTHER zur beliebtesten Oper von Massenet wurde (neben MANON) und dies auch blieb. In Deutschland tat man sich eher schwer mit den Franzosen, die sich am Nationalheiligtum Goethe „vergriffen“ hatten. Neben Massenet waren dies Gounod mit FAUST und Ambroise Thomas mit MIGNON. Doch unterdessen hat auch der WERTHER seinen verdienten Platz im Repertoire deutscher Bühnen gefunden. Die Titelrolle gehört zu den begehrtesten Partien für Tenöre mit lyrisch-dramatischer Leuchtkraft wie Georges Thill, Alfredo Kraus, José Carreras, dem kürzlich leider verstorbenen Nicolai Gedda oder Roberto Alagna. Interessanterweise schuf Massenet für den Sänger Battistini auch eine Bariton-Version, welche u.a. auch in Zürich mit Thomas Hampson zu erleben war. Die Partie der Charlotte wird von lyrischen Sopranen (z.B. Angela Gheorghiu, Victoria de los Angeles) genauso gerne gesungen wie von Mezzosopranistinnen (Rita Gorr, Tatjana Troyanos, Anne Sophie von Otter, Teresa Berganza – die auch neben Kraus und Carreras in Zürich zu erleben gewesen war).

Karten

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