Zürich: VERDI: MESSA DA REQUIEM, 03.12.2016
Requiem | Musik: Giuseppe Verdi | Text folgt der römisch-katholischen Liturgie der Totenmesse | Uraufführung: 22. Mai 1874 in Mailand | Uraufführung in der Choreografie von Christian Spuck: 3. Dezember 2016 in Zürich | Aufführungen in Zürich: 3.12. | 6.12. | 8.12. | 13.12. | 16.12. | 20.12. | 23.12.2016 | 1.1. | 8.1. | 13.1.2017
Kritik:
Die Frage, ob man sakrale Werke szenisch aufführen darf, ist eigentlich eh schon obsolet (unzählige Choreografen haben es nämlich schon erfolgreich getan, z.B. John Neumeier mit MESSIAS oder der MATTHÄUS PASSION, Kenneth MacMillan mit Faurés Requiem, Martin Schläpfer mit Brahms' EIN DEUTSCHES REQUIEM oder Mario Schröder mit dem Requiem von Mozart) und sie stellt sich nach dieser Aufführung von Verdis MESSA DA REQUIEM durch das Opernhaus und das Ballett Zürich erst recht nicht mehr. Denn es ist das ganz grosse Ereignis dieses Abends, dass Verdis Totenmesse nicht „vertanzt“ und auch keinem sentimental-kitschigen Überbau unterjocht, sondern durch die Zusammenarbeit aller Mitwirkenden zu einem berührenden Gesamtkunstwerk gestaltet wurde. Dem Zürcher Ballettdirektor und Choreografen Christian Spuck ist es nicht hoch genug anzurechnen, dass der Abend zwar emotional bewegte, aber nie überwältigte – und dies ist positiv gemeint. Denn Christian Spuck ist es gelungen, sowohl der Musik ihren Raum zu lassen, als auch den Zuschauern die Möglichkeit zu eigenem Kopfkino, zu eigenen Bildern zu geben. Verdis Partitur ist enorm stark, vermag auch als absolute Musik tiefschürfende Gedanken zu evozieren. Spuck mit seiner choreografischen Handschrift, in welche er die Gesangssolisten und den Chor phänomenal mit einbezog, verstand es, die empfindsame musikalische Sprache Verdis in seine Bühnengestaltung mit einzuarbeiten, schuf Szenen und Tableaux von poetischer Kraft, zu denen wohl jede Zuschauerin, jeder Zuschauer seine eigenen „Geschichten“ und Gedanken zu finden in der Lage war. Christian Spuck liess also das Requiem nicht „vertanzen“, und genau deshalb will ich die Choreografie an dieser Stelle auch nicht „zerreden“. Hingehen und auf sich wirken lassen (falls man noch Karten ergattert, denn die Vorstellungen sind praktisch bereits ausverkauft)!
Die Tänzerinnen und Tänzer des Ballett Zürich leisteten an diesem Abend Grandioses. Ausgehend von der Keimzelle des Werks, dem Libera me, welches von der Sopranistin Krassimira Stoyanova so wunderschön interpretiert wurde, lag der Schwerpunkt der Choreografie eher auf der weiblichen Seite: Yen Han tanzte ihren Part mit beinahe ätherischer Zerbrechlichkeit, wunderschön in ihren Pas de deux mit Filipe Portugal (Agnus Dei), wo besonders die fantastische Reinheit der subtilen, komplexen Armbewegungen begeisterte. Giulia Tonelli gestaltete ihre Auftritte mit unter die Haut gehender Intensität, eine Sterbende, die nicht loslassen kann, von Krämpfen gepeinigt, gegen Erstarrungen und Lähmungen kämpfend, sich immer wieder gegen das Schicksal (und schwarze Dämonen und Todesvögel) aufbäumend – eine überaus reife, tief bewegende Leistung von immenser Eindringlichkeit (Tuba mirum, Liber scriptus, Lux aeterna). Herausragend auch Katja Wünsche, Mélissa Ligurgo und Anna Khamzina sowie das gesamte Ensemble des Ballett Zürich, welches in dieser Produktion zum Einsatz kam. Immer wieder vermengte sich das Corps der Tänzer mit dem fantastisch klangschön und ausdrucksstark singenden Chor, Zusatzchor (mit Chorzuzügern) der Oper Zürich (Einstudierung: Marcovalerio Marletta, der für das Verdi Requiem erstmals in Zürich arbeitete). Dabei wurde auch der Chor dezent in die Bewegungschoreografie miteinbezogen. Der Bühnenbildner Christian Schmidt hatte einen grossen, dunkeln Kubus auf die Bühne stellen lassen, welcher klaustrophobische Gefühle der Unentrinnbarkeit auslöste. Am Ende senkte sich zwar die Decke und darauf erblickte man eine einsame, verkrümmt daliegende Gestalt: Ihr schien der Ausbruch aus diesem Gefängnis des Todes gelungen zu sein – aber zu welchem Preis? Das eindringliche Flehen des Libera me und somit Verdis Totenmesse endete also eher mit einem Fragezeichen als mit einem Hoffnungsschimmer.
Hans von Bülow hatte ja im 19.Jahrhundert herablassend von Verdis Requiem als „Oper im Kirchengewande“ gesprochen. Dieses Vorurteil hat leider überlebt und schlug sich auch ein bisschen auf die musikalische Interpretation nieder, obwohl Maestro Fabio Luisi im Programmheft diesem Urteil von Bülows vehement widersprach. Und doch war die Interpretation an einigen Stellen für meinen Geschmack dann etwas zu diesseitig und zu vordergründig opernhaft (das ist natürlich ein „Jammern“ auf sehr hohem Niveau). Vielleicht lag der allzu dramatisch aufgeputschte Eindruck auch daran, dass die Gesangssolisten auf der Bühne waren, in die Choreografie einbezogen wurden (zwar nicht tanzend, aber mit feinfühligen Gesten und Berührungen). Man musste aufpassen, dass das Auge (des Operngewohnten) nicht an den Sängerinnen und Sängern haften blieb, sondern auch dem parallel ablaufenden Tanz Beachtung und Aufmerksamkeit zukommen liess. Im Graben (und zum Dies irae auch einige Blechbläser im zweiten Rang) sorgte die Philharmonia Zürich für einen ausgezeichneten Gesamtklang. Das Solistenquartett war von exquisiter Qualität und liess kaum Wünsche offen: Francesco Meli mit seinem wunderbaren tenoralen Schmelz, Georg Zeppenfeld mit sonorem, sehr sorgfältig intonierendem Bass, Veronica Simeoni mit betörendem, einfühlsam gestaltendem Mezzosopran und natürlich Krassimira Stoyanova mit ihrem farbenreichen Sopran. Sie stand am Ende in einem Traum aus schwarzem Taft und Tüll (die ansonsten dezenten und dem Thema überaus angemessenen Kostüme stammen von Emma Ryott) mitten auf der Bühne und flehte um Befreiung vom ewigen Schrecken des Todes. Gerade in solchen Momenten der berührenden Innigkeit verstand es Christian Spuck, der Musik und der stimmigen Lichtgestaltung durch allein den Raum zu überlassen und so die Intensität des Augenblicks zu gewährleisten.
Am Ende tosender Applaus - eine standing ovation des ausverkauften Hauses - wie man ihn an einer Premiere schon lange nicht mehr erlebt hatte. Umso unverständlicher war es, dass sich trotz des anhaltenden, lautstarken und vehementen Beifalls der Vorhang nicht mehr hob. Schade, denn das Publikum hätte sich bei den Künstlerinnen und Künstlern gerne nochmals für dieses ausserordentliche, bewegende Erlebnis bedankt.
Der TV Sender arte strahlt am 18.12.2016 um 23.05 Uhr die Produktion der Oper und des Ballett Zürich aus unter dem Titel „LIBERA ME, eine Verdi-Choreografie von Christian Spuck“ aus.
Fazit: Starke, eindringliche Bilder, tief berührend - und ganz wichtig: Mit grossem Respekt vor der Musik visualisiert! Ein Riesenerfolg beim Publikum, verdient!
ARTE übertrug die Aufzeichnung der Premiere am 18.12. 2016. Es besteht die Möglichkeit, das Ballett vom 18.12. bis zum 17.1.2017 online auf ARTE Concert zu sehen: concert.arte.tv.
Werk:
Die eigentliche Keimzelle des sakralen Werks ist das Libera me, welches Verdi für eine Gemeinschaftskomposition (Messa per Rossini) mehrer Komponisten zum Tode Rossinis geschrieben hatte. Die Aufführung am ersten Todestages Rossinis am 13. November 1869 kam leider nicht zustande. Nachdem jedoch Verdis Freund und Mitstreiter, der Dichter und die Identifikationsfigur des italienischen Risorgimento Allesandro Manzoni, verstorben war, nahm Verdi das Manuskript des Libera me wieder aus der Schublade und erweiterte es zu einer seiner reifsten und berührendsten Kompositionen, der MESSA DA REQUIEM. Eine weitere Eigenahnlehnung ist das Lacrimosa, welches Teile aus der Totenklage für Posa aus Verdis DON CARLOS enthält.
Das Werk besteht aus den Sätzen Introitus (Requiem aeternam, Te decet hymnus, Kyrie, Sequenz (Dies irae, Tuba mirum, Liber scriptus, Quid sum miser, Rex tremendae, Recordare, Ingemisco, Confutatis, Larymosa) Offertorium, Sanctus, Agnus Dei, Communio (Lux aeterna), Responsorium (Libera me, dies irae, Libera me). Wie Berlioz' Grande Messe des Morts oder Brahms' Ein Deutsches Requiem ist Verdis Messa da Requiem nicht für den liturgischen Gebrauch, sondern für den Konzertsaal geschrieben. Nachdem bei der Uraufführung in der schlichten Kirche von San Marco in Mailand (Per l'anniversario della morte di Alessandro Manzoni XXII Maggio MDCCCLXXIV) der Applaus noch untersagt gewesen und mehr als 3000 Besucher keinen Einlass gefunden hatten, führte Verdi das Werk drei Tage später nochmals an der Scala auf, mit überwältigendem Erfolg: Nach jedem Teil wurde heftig applaudiert (einige Sätze mussten gar wiederholt werden!) und Verdis Requiem erreichte eine bis heute ungebrochene Beliebtheit bei Publikum und Musikern. Verdi selbst dirigierte das Werk in Paris und London. Natürlich gab es auch Kritiker, welche das sakrale Werk einer zu opernhaften Oberflächlichkeit bezichtigten, so Hans von Bülow oder Cosima Wagner. Aber abgesehen von diesen mit Vorurteilen behafteten Personen aus dem Dunstkreis Richard Wagners, wird Verdis Totenmesse zu Recht als inspiriertes, ernsthaftes und von Schönheit erfülltes, würdiges Gebet der Lebenden für den Frieden der Toten UND der Lebenden wahrgenommen und verehrt. Und das Erstaunlichste: Verdis geniale Komposition mit all ihrer Kraft und ihrer transzendentalen Luzidität vermag gläubige UND Atheisten gleichermassen zu berühren.