Berlin, Deutsche Oper: MESSA DA REQUIEM, Ballett: 04.05.2023
Requiem | Musik: Giuseppe Verdi | Text folgt der römisch-katholischen Liturgie der Totenmesse | Uraufführung: 22. Mai 1874 in Mailand | Uraufführung in der Choreografie von Christian Spuck: 3. Dezember 2016 in Zürich | Aufführungen in Berlin: 29.4. | 4.5. | 6.5. | 12.5. | 2.6. | 19.6. | 22.6. | 27.6.2023
Kritik:
Während Zürichs zukünftige Ballettdirektorin Cathy Marston sich mit THE CELLIST in Zürich vorstellen konnte, präsentierte der noch amtierende Zürcher Ballettdirektor Christian Spuck an seinem zukünftigen Wirkungsort Berlin die wohl aufsehenerregendste Schöpfung seiner elfjährigen, erfolgreichen Arbeit in der Schweiz: MESSA DA REQUIEM, dieses sensationelle Gesamtkunstwerk, das einen enormen Aufwand für jede Bühne erfordert, Chor, vier Gesangssolisten, großes Orchester, das gesamte Corps de ballet. Nach der Premiere in Zürich im Dezember 2016 war dies meine zweite Begegnung mit dieser Choreografie. Wiederum beeindruckten die düster ausgeleuchteten Bilder zutiefst. Auf der im Vergleich zu Zürich mit größeren Dimensionen aufwartenden Bühne der Deutschen Oper Berlin wirkten die Tableaux im dunklen Bühnenkasten von Christian Schmidt noch beklemmender, gerade mit dem Blick von weiter oben nahm man auch die Spuren der Menschen in der Asche des Bühnenbodens noch verstärkter wahr. Allerdings schuf die größere Entfernung zur Bühne (im Gegensatz zur Intimität im kleineren Zürcher Haus) auch eine gewisse Distanziertheit, und vermehrt ertappte man sich dabei, wie der eigene Fokus eher auf den Gesangssolisten ruhte als auf den Tänzer*innen des Staatsballetts Berlin. Dr eigentliche Tanz geriet gegennüber der Macht der Bilder so oft ins Hintertreffen. Die Gruppenformationen hatte ich vom Ballett Zürich präziser, synchroner getanzt in Erinnerung. Sehr fein und mit großer Intensität bzw. Kraft getanzt, erlebte ich hier in Berlin Ksenia Ovsyanick, Marina Kanno, Jana Salenko, Cameron Hunter, David Soares, Alexei Orlenco u.v.a.m mit solistischen und halbsolistischen Aufgaben. In dem die Augen auf Dauer ermüdenden, diffusen Licht waren die unterschiedlichen Solisten manchmal schwierig auseinanderzuhalten. Grandios sang der Rundfunkchor Berlin (Leitung: Gijs Leenaars), ließ das DIES IRAE so richtig überwältigend einfahren, vermochte aber auch den verhaltenen Chorpassagen im REQUIEM oder dem LIBERA ME mit wunderschöner Pianokultur einfühlsamen Ausdruck zu geben. Olesya Golovneva (Sopran), Karis Tucker (Mezzosopran), Attilio Glaser (Tenor) und Lawson Anderson (Bass) harmonierten mit noblem Schönklang und unaffektierter Ausdrucksstärke als solistisches Quartett und verliehen ihren Partien dem sakralen Charakter des Werks angemessene, geschmackssichere Dramatik. Nicholas Carter schuf mit dem Orchester der Deutschen Oper Berlin intime und aufrüttelnde Momente voller Intensität und währte die großen Bögen.
Werk:
Die eigentliche Keimzelle des sakralen Werks ist das Libera me, welches Verdi für eine Gemeinschaftskomposition (Messa per Rossini) mehrer Komponisten zum Tode Rossinis geschrieben hatte. Die Aufführung am ersten Todestages Rossinis am 13. November 1869 kam leider nicht zustande. Nachdem jedoch Verdis Freund und Mitstreiter, der Dichter und die Identifikationsfigur des italienischen Risorgimento Allesandro Manzoni, verstorben war, nahm Verdi das Manuskript des Libera me wieder aus der Schublade und erweiterte es zu einer seiner reifsten und berührendsten Kompositionen, der MESSA DA REQUIEM. Eine weitere Eigenahnlehnung ist das Lacrimosa, welches Teile aus der Totenklage für Posa aus Verdis DON CARLOS enthält.
Das Werk besteht aus den Sätzen Introitus (Requiem aeternam, Te decet hymnus, Kyrie, Sequenz (Dies irae, Tuba mirum, Liber scriptus, Quid sum miser, Rex tremendae, Recordare, Ingemisco, Confutatis, Larymosa) Offertorium, Sanctus, Agnus Dei, Communio (Lux aeterna), Responsorium (Libera me, dies irae, Libera me). Wie Berlioz' Grande Messe des Morts oder Brahms' Ein Deutsches Requiem ist Verdis Messa da Requiem nicht für den liturgischen Gebrauch, sondern für den Konzertsaal geschrieben. Nachdem bei der Uraufführung in der schlichten Kirche von San Marco in Mailand (Per l'anniversario della morte di Alessandro Manzoni XXII Maggio MDCCCLXXIV) der Applaus noch untersagt gewesen und mehr als 3000 Besucher keinen Einlass gefunden hatten, führte Verdi das Werk drei Tage später nochmals an der Scala auf, mit überwältigendem Erfolg: Nach jedem Teil wurde heftig applaudiert (einige Sätze mussten gar wiederholt werden!) und Verdis Requiem erreichte eine bis heute ungebrochene Beliebtheit bei Publikum und Musikern. Verdi selbst dirigierte das Werk in Paris und London. Natürlich gab es auch Kritiker, welche das sakrale Werk einer zu opernhaften Oberflächlichkeit bezichtigten, so Hans von Bülow oder Cosima Wagner. Aber abgesehen von diesen mit Vorurteilen behafteten Personen aus dem Dunstkreis Richard Wagners, wird Verdis Totenmesse zu Recht als inspiriertes, ernsthaftes und von Schönheit erfülltes, würdiges Gebet der Lebenden für den Frieden der Toten UND der Lebenden wahrgenommen und verehrt. Und das Erstaunlichste: Verdis geniale Komposition mit all ihrer Kraft und ihrer transzendentalen Luzidität vermag gläubige UND Atheisten gleichermassen zu berühren.