Zürich, Tonhalle: MAHLER SINFONIE NR. 6, 03.06.2023
Gustav Mahler | Sinfonie Nr. 6 | Uraufführung: 27. Mai 1906 in Essen | Aufführung in Zürich: 3.6. | 4.6.2023
Kritik:
ENTFESSELTE KLANGMAGIE
"Übermächte sind im Spiel", singt die Amme in Richard Strauss' DIE FRAU OHNE SCHATTEN am Ende des zweiten Aktes, wenn die Erde sich öffnet, alles zusammenfällt, ein Entkommen kaum möglich erscheint. Im Finale von Gustav Mahlers 10 Jahre zuvor entstandener Sinfonie Nr. 6 sind die Übermächte nicht nur im Spiel, sie sind regelrecht entfesselt, türmen sich zu unbeschreiblichen, tosenden Wogen auf, bizarre Klangfetzen flirren durch den Saal, Windesrauschen und erruptive Fluten kämpfen gegen verfremdete, schrille "Parsifal"-Choräle, der Kampf der Instrumente ist erbarmungslos, überschäumend, kulminiert in zwei eindringlichen Schlägen des Holzhammers, Paukenschläge hallen wie Gewehrschüsse, Posaunen und Tuba rufen in einer Schreckensvision zum Jüngsten Gericht. Kein Entrinnen ist möglich, keine hoffnungsstiftende Apotheose der Versöhnung. Mahler schliesst mit einem aufrüttelnden, durch Mark und Bein gehenden Moll-Akkord, der dann im Pianissimo verklingt. Die Magier, die hier ihren Klangzauber verbreiten, sind die in Hochform spielenden Musiker*innen des Tonhalle-Orchesters Zürich unter der Leitung des Dirigenten Michael Tilson Thomas. Man kann getrost sagen, das Konzert war ein Ereignis. Mahler hat sich ja in seinen sinfonischen Werken nie beschränkt, sie sind in ihren Ausmassen - wie bei Bruckner - meist Rahmen sprengend. Seine Sechste macht hier keine Ausnahme, gerade der Finalsatz stellt mit seiner Spieldauer von gut 30 Minuten einen gewaltigen Brocken dar. Doch dem endlich in Zürich debütierenden Dirigenten Micheal Tilson Thomas und dem Tonhalle-Orchester Zürich gelingt das Kunststück, dass diese Sinfonie nie lang oder gar geschwätzig wirkt, das ist vom ersten, markant einfahrenden Marschthema an bis zur eine menschliche Hölle antizipierenden Schluss von einer nie nachlassenden Spannung geprägt, und dies obwohl Tilson Thomas nach jedem Satz kurze Erholungspausen einlegt, sich einen Schluck aus dem Wasserglas gönnt, ja vor Beginn des Finales den ersten Violinen gar nochmals das Hauptthema vorsingt. Schon bei seiner Begrüssung des Orchesters, wo er allen Streichern in der ersten Reihe die Hand schüttelte oder küsste, hatte man das Gefühl, dass die Chemie zwischen ihm und dem Orchester einfach stimmte. Mit klarer, uneitler Zeichengebung spornt er zu Höchstleistungen an, gibt auch den zerklüftesten Passagen Form und vor allem Gehalt, evoziert sphärische Klänge, Herdengeläute (Mahler liebte ländliche Idyllen, auch wenn sie in dieser Sinfonie kaum je liedhafte Formen annehmen), gleissende Passagen der Blechbläser (Wow, welch eine Reinheit der Intonation!); es herrscht eine kontrollierte Lockerheit, nichts wird zelebriert, sondern Tilson Thomas setzt auf zügige, mitreissende Kraft und nicht auf Gottesdienst. Tilson Thomas behält die ursprüngliche Satzreihenfolge bei - macht von den Tonarten her Sinn und wurde auch von Alma Mahler so empfohlen- und setzt nicht wie Mahler bei seinen eigenen Aufführungen das Andante an die zweite Stelle. Im Scherzo dominiert die Dämonie, martialisch unterlegt mit reichhaltigem Einsatz des Schlagwerks und abgründigen Ländlerpassagen. Aufhorchen lassen exzellent ausgeführte, mystisch-groteske Holzbläserpassagen. Die Holzbläser sind es dann auch, die im Andante, dem kurzen Ruhepol der Sinfonie, zusammen mit den mit warmem Klang intonierenden Streichern kurzzeitig etwas tröstende Innigkeit verbreiten. Es öffnet sich ein weites Klangspektrum, exquisite Klangmischungen aus Celesta, Xylophon, Harfen, Englischhorn und Streicherklängen in den allerhöchsten Lagen - blitzsauber intoniert - erfreuen das Ohr, bevor eine schmerzhafte Aufwallung auch diesem Zauber ein Ende bereitet und danach im Finale die erwähnten entfesselten Mächte alles "Schöne" zu Fall bringen. Die Genialität Mahlers offenbart sich in seiner "modernsten", persönlichsten und ergreifendster Sinfonie, der Tragischen, die zwar in einer Stimmung des Glücklichseins geschaffen worden war, jedoch den Schrecken, der ihn bald sowohl persönlich als auch die Welt im Allgemeinen ereilen wird, beklemmend antizipiert.
Hoffentlich darf man Michael Tilson Thomas bald wieder einmal in Zürich erleben!
Werk:
Mahler komponierte seine viersätzige sechste Sinfonie (auch „Tragische“ genannt) während seiner Jahre als Hofoperndirektor in Wien. Der erste Satz beginnt mit einem stampfenden Rhythmus, der in einen Marsch übergeht. Dieses Motiv kehrt in allen vier Sätzen wieder, manchmal offensichtlicher, manchmal versteckter. Ein Nebenmotiv schwingt sich mit grosser Emphase empor, darin hat Mahler seiner Frau Alma einen Gedenkstein gesetzt. Wie oft bei Mahler dringt eine ländliche Idylle in den Satz, bevor er zum brachialen Marsch zurückkehrt. Ein zerklüftetes Scherzo schliesst sich bruchlos an den ersten Satz an. Der dritte Satz erst stellt den Ruhepunkt der Sinfonie dar, das Andante moderato entfaltet eine lyrische Grundstimmung. Erneut blitzt ein Ländlermotiv auf, auch Kuhglocken sind zu hören. Das Finale wiederum führt mit aufwühlenden Passagen in seelische Abgründe, Ängste, Vorahnungen. Mit rund 30 Minuten Spieldauer gehört er zu den längsten Sätzen in der Musikgeschichte der Sinfonien aller Meister. Tuttischläge schrecken auf, karikierende Marschthemen verzerren den Höreindruck. Mystisch klingende, dissonante Akkorde, jäh erstickende zusammenbrechende Passagen zeichnen diesen rätselhaften Satz aus, faszinieren und nehmen den Hörer mit auf eine hoch spannende, abgründige Fahrt.
Die zu spielende Reihenfolge der Sätze ist umstritten: Mahler selbst hat bei den von ihm dirigierten Aufführungen jeweils das Andante an die zweite Stelle gesetzt und das Scherzo danach folgen lassen. Alma Mahler hingegen propagierte die Reihenfolge Scherzo-Andante, was auch in Bezug auf die Tonarten Sinn macht.
Im Gegensatz zur fünften, wurde die sechste Sinfonie durchaus wohlwollend aufgenommen. Einzig der riesige Orchesterapparat sorgte ab und an für etwas Kritik. Sogar Richard Strauss (auch kein Kostverächter, was üppige Instrumentierung anbelangte )sprach von einer „Überinstrumentierung“.
Alma Mahler bezeichnete die sechste Sinfonie ihres Gatten als sein persönlichstes Werk: „Kein Werk ist ihm so unmittelbar aus dem Herzen geflossen. Die Sechste ist sein allerpersönlichstes Werk und ein prophetisches obendrein.“