Berlin: Philharmonie: MAHLER SINFONIE NR.6, 05.09.2015
Gustav Mahler | Sinfonie Nr. 6 | Uraufführung: 27. Mai 1906 in Essen | Aufführung in Berlin: 5. 9. 2015 durch das Boston Symphony Orchestra
Kritik:
Beinahe eine Minute lang liess Dirigent Andris Nelsons den düsteren Moll-Schluss der sechsten Sinfonie von Gustav Mahler in absoluter Stille im Publikum nachhallen bevor er seine Körperspannung aufhob, die Arme langsam senkte und so den enthusiastischen Applaus aufbranden liess. Diese Ruhe vor dem Beifallssturm brauchte man auch, um von den zuvor durch diese fantastische, aufwühlende Wiedergabe von Mahlers wohl persönlichstem Werk evozierten Emotionen wieder etwas herunterzukommen. Zügig und mit grosser Präzision hatte das grandios aufspielende Boston Symphony Orchestra zuvor die martialische Welt des ersten Satzes durchschritten, einen wunderbaren Kosmos an Klangfarben entfesselt. Lyrische Ruhepunkte gestaltete Andris Nelsons oft mit der rechten Hand, wobei er den Taktstock in die linke nahm und diese auf dem Geländer des Dirigentenpodiums abstützte. Die Musik schien aus seinem gesamten Körper in die Fingerspitzen der rechten Hand zu fliessen und von da mit grösster Präzision in die Interpretationen der Musikerinnen und Musiker zu gelangen. Spannende Klangfelder wurden gestaltet, das lyrische Seitenthema schwang sich sehrend auf, Solovioline, Celesta, Flöte, Klarinette, Oboe und Englischhorn fanden sich in fein ziselierten Dialogen, in rasenden Tutti erreichte man Kulminationspunkte. Nelsons hatte sich für die von Mahler selbst nicht verwendete Satzreihenfolge (wohl aber von Alma zum Teil propagierte) der Binnensätze entschieden, nämlich das Scherzo an die zweite Stelle und das Andante erst an die dritte zu setzen. Gut so, denn es macht Sinn, die schräge, manchmal das Ohr peinigende Parodie des Marsches im Scherzo unmittelbar auf die unerbittlich stampfende Exposition im ersten Satz folgen zu lassen. Hier zeigte das Orchester in den kammermusikalischen Sequenzen seine exquisite Qualität des sorgfältigen, aufeinander hörenden Musizierens. Einen weiteren Höhepunkt bildete dann das liedhaft dahinfliessende, traumhaft schön ausmusizierte Andante. Hier erreichten Nelson und das Boston Symphony Orchestera eine grosse emotionale Tiefe der Interpretation, ohne in kitschige Sentimentalität abzugleiten. Die architektonisch einmalig aufgebaute Einleitung zum vierten Satz, mit ihren mysteriösen Fragmenten, hat wohl vielen Komponisten späterer Filmmusik als Vorbild gedient. Herrlich gestaltete Nelsons die Balance zwischen gleissendem Blech und warmem Streicherklang, die Effekte der beiden Holzhammerschläge wurden gekonnt aufgebaut und ausgespielt. Die Kirchen- und Herdenglocken taten das ihrige, um ländliche Idylle zu erzeugen, welche jedoch schnell wieder von euphorischen und brutalen Steigerungen im Orchester zum Verklingen gebracht wurden. Doch dann folgte das Absinken in düstere, mythische Tiefen, bevor man vom aufwühlenden Schlussakkord aufgewühlt wurde.
Selten habe ich in einem Konzert von Seiten des Publikums eine derart konzentrierte Aufmerksamkeit erlebt, welche über die eineinhalb Stunden Spieldauer dieses Monumentalwerks nie nachgelassen hat. Ein Verdienst bestimmt des Komponisten, aber natürlich auch der spannungsgeladenen, intensiven Interpretation durch Andris Nelsons und sein Boston Symphony Orchestra.
Werk:
Mahler komponierte seine viersätzige sechste Sinfonie (auch „Tragische“ genannt) während seiner Jahre als Hofoperndirektor in Wien. Der erste Satz beginnt mit einem stampfenden Rhythmus, der in einen Marsch übergeht. Dieses Motiv kehrt in allen vier Sätzen wieder, manchmal offensichtlicher, manchmal versteckter. Ein Nebenmotiv schwingt sich mit grosser Emphase empor, darin hat Mahler seine Frau Alma einen Gedenkstein gesetzt. Wie oft bei Mahler dringt eine ländliche Idylle in den Satz, bevor er zum brachialen Marsch zurückkehrt. Ein zerklüftetes Scherzo schliesst sich bruchlos an den ersten Satz an. Der dritte Satz erst stellt den Ruhepunkt der Sinfonie dar, das Andante moderato entfaltet eine lyrische Grundstimmung. Erneut blitzt ein Ländlermotiv auf, auch Kuhglocken sind zu hören. Das Finale wiederum führt mit aufwühlenden Passagen in seelische Abgründe, Ängste, Vorahnungen. Mit rund 30 Minuten Spieldauer gehört er zu den längsten Sätzen in der Musikgeschichte der Sinfonien aller Meister. Tuttischläge schrecken auf, karikierende Marschthemen verzerren den Höreindruck. Mystisch klingende, dissonante Akkorde, jäh erstickende zusammenbrechende Passagen zeichnen diesen rätselhaften Satz aus, faszinieren und nehmen den Hörer mit auf eine hoch spannende, abgründige Fahrt.
Die zu spielende Reihenfolge der Sätze ist umstritten: Mahler selbst hat bei den von ihm dirigierten Aufführungen jeweils das Andante an die zweite Stelle gesetzt und das Scherzo danach folgen lassen. Alma Mahler hingegen propagierte die Reihenfolge Scherzo-Andante, was auch in Bezug auf die Tonarten Sinn macht.
Im Gegensatz zur fünften, wurde die sechste Sinfonie durchaus wohlwollend aufgenommen. Einzig der riesige Orchesterapparat sorgte ab und an für etwas Kritik. Sogar Richard Strauss sprach von einer „Überinstrumentierung“.
Alma Mahler bezeichnete die sechste Sinfonie ihres Gatten als sein persönlichstes Werk: „Kein Werk ist ihm so unmittelbar aus dem Herzen geflossen. Die Sechste ist sein allerpersönlichstes Werk und ein prophetisches obendrein.“