Zürich: ORPHÉE ET EURIDICE, 14.02.2021
Tragédie (Drame-heroïque) in vier Akten | Musik: Christoph Willibald Gluck | Libretto: Pierre-Louis Moline nach Ranieri de’ Calzabigi | Uraufführung: 5. Oktober 1762 in Wien | Uraufführung französische Fassung: 2. August 1774 in Paris | Uraufführung der Fassung von Hector Berlioz (wird in Zürich gespielt): 19. November 1859 in Paris
Pandemie bedingt wird die Premiere nur im Live Stream aus dem Opernhaus Zürich übertragen.
Kritik der Premiere (am Bildschirm geschaur):
Eigentlich eine ganz wunderbare (beabsichtigte?) Fügung der Spielplangestaltung: Ausgerechnet am Valentinstag feiert die Oper mit den so herrlich intensiv empfundenen Liebesbezeugungen ihre Premiere (Pandemie bedingt natürlich nur im Livestream), Christoph Willibald Glucks ORPHÉE ET EURIDICE. Diese Oper, diese Ode an die Liebe, die im Gegensatz zum antiken Mythos mit einem Happyend schliesst, ist ein Triumph der Liebe, die selbst dem Tode trotzt und die Götter milde stimmt. In Zürich nun wurde das so berührende Werk Glucks in den Händen des Künstlerduos Christoph Marthaler und Anna Viebrock zu einem Triumph der muffigen Hässlichkeit. Marthaler vertraute anscheinend der innigen und beschaulichen Langsamkeit der Oper nicht so ganz und führte zusätzliches Personal ein, sieben Schauspieler trugen zur Verschwurbelung der Handlung bei, rezitierten Texte und Dialoge, stellten Gören, Funktionäre (des Jenseits? des Hades?) dar. Allesamt hatten sie irgendwelche spastischen Bewegungsticks, quatschten und schrien auch (zum Glück selten) in die Musik rein. Das Interieur war eine für Anna Viebrock typische Bühne: Zwei Etagen, Kunstlederstühle und Sofas, flimmernde Bildschirme, auf denen auch mal rätselhafte Zeichen erschienen, es handelte sich um zwei gespiegelten Räume, dazwischen ein grosser Vorraum zum Reich des Todes, gemusterte Tapeten, Nippes auf dem Sims über dem Radiator, ein Fahrstuhl (wohl ins Jenseits). Für den Eintritt in den Hades senkten sich die Wände der oberen Etage nach unten. Ausgesprochen hässlich auch die Kostüme, ein bunter Mix aus geschmacklosen Alltagskleidern, einzig Amor trug ein einigermassen schickes Kostüm, in dem er am Ende dann aber auch den Bühnenboden als Reinigungsfachkraft wischen musste und Euridice mit dem Wischmopp wieder zum Leben erweckte (das ist sowas von ausgelutscht). Orphée schien vor Trauer dermassen verwirrt zu sein, dass er wohl wahllos die übelsten Klamotten aus seinem Schrank genommen hatte; er trug einen gelben Strickpulunder über einem knielangen karierten Mantel, Jeans und Turnschuhe. Euridice ein taubenblaues Barbie-Hochzeits- oder Cocktailkleidchen. Die männlichen Schauspieler waren beinahe wie Clochards gekleidet. Als running gag wurde eine Urne (wohl mit Euridices Asche) von Hand zu Hand gereicht, immer wieder anders platziert und dann per Fernbedienung zur Explosien gebracht, als Euridice ihren zweiten Tod erleiden musste. Auch das ständige Umplatzieren eines Paars beiger Damenschuhe wirkte (rein in die Handtasche, raus aus der Handtasche) reichlich abgedroschen. Der Wunschkonzert-Hit der Oper (Reigen seliger Geister) wurde mit Mikrofon angesagt, als Wunsch eines Radiohörers für seine Tanten. Ein Gag der weder neu noch lustig ist. Immerhin zweifelte das Inszenierungsteam nicht am Happyend – es gab Pizza für alle vom Lieferdienst. Es wäre interessant gewesen, die Reaktion eines Premierenpublikums auf diese Art von Inszenierung zu erleben. Die zahlreichen fanatischen Marthaler-Anhänger in Zürich hätten sich vor Jubel wahrscheinlich nicht mehr eingekriegt, die restlichen Zuschauer*innen wären ratlos oder empört gewesen. Persönlich finde ich, dass Marthaler am besten ist, wenn er sich eigene Stücke zimmert (wie z.B. SALE, das Händel-Pasticcio am Opernhaus Zürich). Wenn er sich an integralen Meisterwerken der Oper vergreift, überzeugt mich das weniger.
Der grösste Lichtblick des Abends war die Mezzosopranistin Nadezhda Karyazina in der den Abend tragenden Rolle des Orphée: Eine herrlich runde, wunderbar reine Stimme mit exzeptioneller, voller Tiefe und einer Pianokultur, die direkt von den Engeln kommen muss. Ein purer Genuss! Ganz wunderbar sang auch Alice Duport-Percier als Amor, ein lichter Sopran, der direkt zu Herzen geht. Chiara Skerath gestaltete mit warmem Sopran die Euridice, vermochte ihrer Verwirrung über die vermeintlich kalte Schulter ihres Geliebten glaubwürdigen Ausdruck zu verleihen.
Stefano Montanari leitete die sauber und klangschön spielende Philharmonia Zürich, welche aus dem Probesaal am Kreuzplatz (wie auch der von Ernst Raffelsberger einstudierte Chor) mittels Glasfaserkabel ins Opernhaus zugeschaltet wurden. Die am Fernsehen erreichte Tonqualität und Abmischung des Klangs war sehr zufriedenstellend, grössere Koordinationsprobleme traten nach meinem Empfinden nicht auf.
Gegen Ende (nachdem zu Orphées grosser Arie – Was mache ich bloss ohne Euridice? - schon mal Tische und Stühle weggetragen werden) singt Amor davon, dass er die beiden nun wieder vereinten Liebenden von diesem schrecklichen Ort wegführen werde. Die Glücklichen – dem Zürcher Publikum wird die Inszenierung wohl für eine Wiederaufnahme nach den Corona-Zeiten erhalten bleiben.
Inhalt:
Orpheus beklagt zusammen mit den Hirten den Tod seiner Gattin Eurydike. Er verflucht die Götter der Unterwelt. Amor überbringt ihm die Erlaubnis des Göttervaters Zeus, in die Unterwelt, den Hades, hinabzusteigen. Allerdings müsse es ihm da gelingen, die Furien mit seinem Gesang zu besänftigen. Zudem darf er Eurydike nur unter der Voraussetzung sich auf dem Rückweg aus der Unterwelt nicht nach ihr umzusehen zu den Lebenden zurückführen.
Im zweiten Akt empfangen die wütenden Geister der Unterwelt den Sänger Orpheus. Auf seine Bitten um Einlass antworten sie ostentativ mit NO. Doch die Macht der Musik erweicht die Gemüter der Furien zusehends, so dass Orpheus schliesslich der Zutritt gewährt wird. Er betritt das Elysium, die heiteren seligen Geister empfangen ihn. Orpheus wird zu Eurydike geleitet.
Orpheus will nun Eurydike aus der Unterwelt geleiten. Doch diese wird ein bisschen störrisch, da Orpheus sie nie anblickt. Sie fühlt sich von ihm nicht mehr geliebt, will lieber wieder in die Unterwelt zurückkehren. Orpheus ist dieser Klage Eurydikes nicht mehr gewachsen und verliert seine Standfestigkeit – er dreht sich nach ihr um, will sie in seine Arme nehmen. In diesem Moment fällt Eurydike leblos zu Boden. Orpheus hebt zu seiner grossen Klage an : Que farò senza Euridice? Er will nicht mehr länger leben. Als Deus ex machina erscheint wiederum Amor, entreisst Orpheus den Dolch und führt ihm die Gattin zu.
Werk:
Die Orpheus-Sage gehört wohl zu den am häufigsten vertonten Stoffen. Die erste Oper, deren Musik die Jahrhunderte überdauert hat, war Jacopo Peris EURIDICE (um 1600). Kurze Zeit später folgte Monteverdi mit seinem L`ORFEO, im Barockzeitalter gab es ebenfalls verschiedene Vertonungen der Sage, z.B. von Telemann und Graun. Dann folgten Gluck, Haydn und Paër. Aus dem 19. Jahrhundert ragt nur Offenbachs Parodie ORPHÉE AUX ENFERS heraus, doch im 20. Jahrhundert regte der mythische Stoff erneut viele Komponisten an: Debussy (unvollendet), Milhaud, Krenek, Henze, Birtwistle, Glass.
Christoph Willibald Ritter von Gluck (1714-1787) gilt als Reformator der Oper. Er befreite die damals populäre neapolitanische Oper mit ihren Sängerstars (viele von ihnen Kastraten) von allem virtuosen Zierat und versuchte zum natürlichen, dem Text verpflichteten Gefühlsausdruck zu gelangen. Die Secco-Rezitative wurden durch Accompagnati ersetzt. ORFEO ED EURIDICE stand am Beginn von Glucks so genannten „Reformopern“. Ganz ablegen konnte er auch darin die Konventionen noch nicht: So ist die Hauptpartie für einen Kastraten geschrieben worden (heute wird diese Wiener Fassung meist von einer Altistin oder Mezzosopranistin gesungen oder von einem Countertenor), Gluck setze Da-capo-Arien ein und übernahm Passagen aus anderen Werken, was eigentlich der textbezogenen, natürlichen Ausdruckskraft eher zuwiderlaufen müsste. Doch insgesamt erreicht Gluck in dieser Oper eine tief berührende Kraft des musikalischen Ausdrucks, findet zu schmerzerfüllten Passagen, zu Leidenschaft, Zärtlichkeit, Verzweiflung und Wut – zu einer Klangmagie, der man sich kaum entziehen kann.
Für Paris schrieb Gluck die Partie des Orpheus für Tenor um, erweiterte die Partitur durch weitere Arien und Balletteinlagen. Oftmals wurde versucht, aus dramaturgischen Gründen Mischfassungen aus der Wiener und der Pariser Fassung auf die Bühne zu bringen, meist erfolglos.
Für die Sängerin Pauline Viardot bearbeitete Hector Berlioz 1859 die beiden Partituren Glucks, die der Wiener Uraufführung und diejenige der Pariser Version. Für seine Fassung hatte Berlioz eng mit der Sängerin zusammengearbeitet. Aus Glucks französischer Fassung übernahmen sie vor allem die Szenen, in denen Orphée nicht singt. Die Szenen, in denen er zusammen mit Euridice und l’Amour auftritt, behalten die Stimmlage der Pariser Fassung bei. In fast allen Soloszenen Orphées wird die Stimmlage der Wiener Fassung übernommen, allerdings mit der Instrumentation der Pariser Fassung.
Link zum Livestream: https://www.opernhaus.ch/digital/corona-spielplan/