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Zürich, Opernhaus: I VESPRI SICILIANI; 09.06.2024

Erstellt von Kaspar Sannemann | | I vespri siciliani

Copyright aller Bilder: Herwig Prammer, mit freundlicher Genehmigung Opernhaus Zürich

Oper in fünf Akten | Musik: Giuseppe Verdi | Libretto: Eugène Scribe und Charles Duveyrier | Uraufführung (französische Originalfassung) : 13. Juni 1855 in Paris | Uraufführung der ersten italienischen Fassung unter dem Titel GIOVANNA DE GUZMAN: 26. Dezember 1855 in Parma | Aufführungen in Zürich: 9.6. | 13.6. | 20.6. | 23.6. | 28.6. | 4.7. | 7.7. | 10.7. | 13.7.2024

Kritik: 

BIEITO - DER GOTT DES GEMETZELS

Calixto Bieito, der Regisseur der gestrigen Premiere von Verdis I VESPRI SICILIANI am Opernhaus Zürich, hat vieles richtig gemacht: Er hat das Libretto genau analysiert, er hat das tableauartige dieser ursprünglich für Paris als Grand Opéra konzipierten Partitur erkannt, er hat der Musik den notwendigen Raum gegeben, sich entfalten zu können - und ist trotzdem gescheitert, nicht zuletzt an sich selbst. Denn Bieito hat aus dem Text vornehmlich das herausgeschält, was ihm meistens als zentrales Anliegen erscheint: Das selbstgefällige, machistische, abstossend mysogyne Verhalten der Mächtigen. Auf eine kurze Formel gebracht: MÄNNER SIND SCHWEINE. Das hat er diesmal besonders deutlich gemacht, indem die französischen Besatzer Siziliens sich oftmals Eberköpfe überstülpen und als Keiler herumkriechen und verächtlich die imposante Schleppe von Elenas Hochzeitskleid tragen müssen oder Frauen im Rudel vergewaltigen (quasi den im Text zitierten Raub der Sabinerinnen nachspielen). Aber auch die sizilianischen Patrioten und Umstürzler kriegen ihr Fett weg: Procida führt im fünften Akt - bevor er das Fanal der Glocken zum Massaker der "sizilianischen Vesper" erklingen lässt - eine ganze Horde von Frauen in Unterwäsche an der Leine und etabliert quasi auf den gedemütigten Leibern der Frauen das Fundament seines neuen Regimes. Das Opernhaus Zürich warnt auf seiner Webseite die Besucher*innen: In dieser Inszenierung kommt es zu Darstellungen sexualisierter Gewalt gegen Frauen.

Das Ganze lässt Bieito in einer zerstörten Hafenanlage aus blendend weissen Containern ablaufen. Von Szene zu Szene verschieben sich die Container, eröffnen auf der Drehbühne neue Räume und Projektonsflächen für die Videoeinspielungen von Massen- und Kriegsszenen, meistens in schwarz-weiss, bis auf ein blutüberströmtes Opfer während des Vorspiels, das in Farbe gezeigt wird. Vielleicht ist es Elenas Bruder, dessen weissen Sarg sie lange Zeit auf der Bühne hinter sich herzieht. Mal wird ein angsterfülltes, gepeinigtes Gesicht herangezoomt, mal sieht man Demagogen, die in stummen Mundbewegungen versuchen, die Massen zu verführen. Dann wieder Schlachtfelder, auf denen Hunde nach Essbarem graben. (Bühne: Aida Leonor Guardia, Video: Adriá Reixach). Gekleidet sind die Menschen in sizilianischem Schwarz, und in heutigen Kostümen. Im gesamten ersten Teil sieht man Elena in Highheels, Leggins und schwarzem Mantel, nach der Pause dann barfuss und im Unterleibchen mit Spagettiträgern, bevor sie im fünften Akt in der gigantischen weissen Hochzeitsrobe mit dem fast die ganze Bühnenbreite einnehmenden Schleier auftritt (Kostüme: Ingo Krügler). Den in beeindruckender Lautstärke und Kompaktheit singenden Chor der Oper Zürich mit Chorzuzüger*innen und Zusatzchor (Einstudierung: Janko Kastelic) behandelt der Regisseur eigentlich nur als grell kommentierende Masse, wie in einem antiken Drama. Ab und zu mal eine konventionelle Geste mit hochgereckten Händen und offenen Handflächen, effektvoll ausgeleuchtet von Franck Evin. Was Bieito ein wenig vernachlässigt, ist die interpersonelle Konstellation, er denkt in Bildern und versucht schon gar nicht, dem Publikum die Handlung und die psychischen Befindlichkeiten der Protagonisten näher zu bringen. So entsteht eine Kluft zwischen der eine Eiseskälte ausstrahlenden weissen Containerburg, dem pechschwarzen Hintergrund, den schwarzen Kostümen und der lodernd-leidenschaftlichen musikalischen Sprache. Ganz schwach fand ich den vierten Akt, mit den kleinen Gitterkäfigen für Arrigo, Elena und Procida und der unnötig komplizierten Hinrichtungsmachinierie. Dabei ist dieser Akt musikalisch von einer Genialität, wie sie nur Verdi hervorzubringen verstand: Das persönliche Drama der Protagonisten kontrastiert mit den De-Profundis-clamavati-Gesängen der Mönche. Weil die Inszenierung zwischen vagen Andeutungen und expliziter Gewalt schwankte und daher irgendwie unfertig und etwas plakativ wirkte, sah sich das Produktionsteam am Ende mit unüberhörbaren Unmutsäusserungen des Premierenpublikums konfrontiert. Nach den so superben Regiearbeiten des Regisseurs in Zürich (DIE SOLDATEN, L'INCORONAZIONE DI POPPEA, DER FEURIGE ENGEL, ELIOGABALO) hätte ich ehrlich gesagt bei den VESPRI mehr erwartet.

Verdi hat für die drei Protagonisten und die Protagonistin enorm anspruchsvolle und kräftezehrende Partien geschrieben. Maria Agresta als Elena musste zudem ihre Auftrittsarie auf dem Sarg des Bruders singen, der dann auch noch von Monfortes Entourage hochgehoben wurde, so dass sie den Corragio-Teil der Kavatine stehend auf dem schwankenden Sarg zu intonieren hatte. Ein nicht gerade sängerfreundlicher Einfall des Regisseurs, den Agresta aber mit Bravour meisterte. Im zweiten Akt fand Maria Agresta zu einem eindringlichen, zart intonierten Eingeständnis ihrer Liebe im Duett mit Arrigo. Das Finale des dritten Aktes krönte Maria Agresta mit wunderbaren, über dem Tutti schwebenden Phrasen. Erste Buhs gab es, weil der Regisseur dazu drei geschändete Frauenleichen von den Hauptleuten Montfortes an Stricken kopfüber hochziehen liess. Nach einem wunderbar erfüllten Io muoio im grossen Duett mit Arrigo im vierten Akt misslang ihr leider die Schlusskadenz total, da versagte die Intonation wohl wegen Ermüdungserscheinungen. Im Schlussakt hatte sie aber noch den - neben Procidas Arie im zweiten Akt-  grössten Hit der Oper zu singen, den Bolero (oftmals auch als Siciliana bezeichnet, was nach Ulrich Schreiber eigentlich falsch ist): Mercè dilette amiche. Dass der Chor in der Einleitung des Boleros und danach so hämisch grölen musste, hat das Lied Elenas in einen etwas seltsamen Rahmen gesteckt, ganz abgesehen von den erwähnten eberköpfigen Schleppenträgern. Die Koloraturen Maria Agrestas klangen denn auch stellenweise etwas gequält. Unter diesen Umständen die notwendige Leichtigkeit hinzukriegen, ist bestimmt schwierig. Der Arrigo von Sergey Romanovsky (Rollendebüt) klang zu Beginn sehr einnehmend und mit wunderbarer tenoraler Frische. Aber auch bei ihm machten sich Ermüdungserscheinungen bemerkbar, die er durch übermässiges Forcieren zu kaschieren suchte. Ich weiss, dass Regisseure und Intendanten und vielleicht auch das Orchester zusätzliche Pausen nicht mögen. Aber sängerfreundlicher wäre es, wenn man bei Fünfaktern eine zusätzliche Pause nach dem zweiten Akt einlegen würde. Das nur so am Rande. Immerhin vermochten Maria Agresta und Sergey Romanovsky am Ende noch mal all ihre ausdrucksstarken Kräfte zu mobilisieren und erschütternd aufzutrumpfen, so dass das Finale unter die Haut ging. Quinn Kelsey gestaltete die Einsamkeit des Herrschers Monforte, diesen Vater, der seinen verlorenen Sohn (Arrigo) zurückzugewinnen sucht, mit grosser Intensität. Die Konfrontation mit Arrigo war auch von der Personenführung her ausgezeichnet gelungen, das Ringen der Beiden wurde mit einer bewegenden und brachialen Körperlicheit ausgetragen, wohl ein szenischer Höhepunkt des Abends. Der Musikwissenschaftler und Verdi-Kenner Massimo Mila schrieb über dieses Duett: " ... Aus dem Dramenungetüm Scribes hat Verdi das entnommen, was ihn interessierte: die Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn .... Das Duett aus dem dritten Akt ist eines der erhabensten Meisterwerke Verdis, grossartig, einer der absoluten Werte, die sein Genie hervorgebracht hat." Das spürte man gestern Abend mit allergrösster Deutlichkeit. Als Procida beeindruckte Alexander Vinogradov mit der enormen Lautstärke seines klangvollen, leicht aufgeraut timbrierten Basses. In seine grosse Auftrittsarie im zweiten Akt O tu Palermo, terra adorata wusste er auch subtilere Schattierungen einzuflechten. Eine stimmige Idee des Regisseurs war es, die kleine Partie der Vertrauten Elenas, Ninetta, durch eine stumme, mahnende Präsenz aufzuwerten. Wie ein unheimlicher Schatten der Vergangenheit schritt sie ständig über die Bühne. Irene Friedli war dazu die ideale Besetzung. Die Entourage Montfortes bestand aus den französischen Adligen und Offizieren Bethune (Jonas Jud), Vaudemont (Brent Michael Smith), Danieli (Raúl Gutiérrez), Roberto (Stansilav Vorobyov) und Tebaldo (Omer Kobiljak), welche stimmlich allesamt blendende Figur machten und darstellerisch die Inkarnation des abartigen Männerbildes des Regisseurs waren. Wie sie sich zu Beginn ein erst in Plastikfolie gehülltes und dann ausgepacktes Vergewaltigungsopfer von Mann zu Mann reichten - wie eine Trophäe aus einer Sammlung - war einfach nur grausam und abstossend, aber wahrscheinlich auch aktuell ein Ritual von durch den Krieg pervertierter Männer (z.B. die Hamas am 7. Oktober 2023). Die Wankelmütigkeit solch williger Gefolgsleute zeigte Bieito mit aller Krassheit am Ende: Während des nur 30 musikalische Sekunden dauernden Gemetzels der "Sizilianischen Vesper" erkennen sie sofort, dass sich die Waagschale zu ihrer Ungunst neigt und schlagen sich umgehend auf die Seite der Aufständischen. Sie sind die ersten, welche sich auf ihren ehemaligen Anführer Monforte stürzen und ihn mit ihren Dolchen dahinmetzeln. Maximilian Lawrie (Manfredo) war in der Minirolle des Begleiters Procidas zu erleben. 

Das Dirigat übernahm Ivan Repušic, der die Philharmonia Zürich erstmals leitete und sie mit aufpeitschender Verve, zügigen Tempi (zu Beginn bei der ersten Chorszene vielleicht etwas überhastet) und schön herausgearbeiteten solistischen Passagen durch den inklusive Pause dreieinviertel Stunden dauernden Abend führte. 

P.S.: Oftmals wird kolportiert, dass I VESPRI SICILIANI ein selten gespieltes Werk aus der Feder Verdis sei. Dem ist, zumindest in Zürich, nicht so. Wie unten angeführt, ist dies bereits die dritte Produktion dieser Oper aus Verdis mittlerer Schaffensperiode, die ich in Zürich seit 1971 erleben durfte. Von LA FORZA DEL DESTINO z.B. gab es auch "nur" drei Neuproduktionen in dieser Zeit. Auch anderswo ist I VESPRI SICILIANI (oder in der originalen, französischsprachigen Fassung mit Ballett als LES VÊPRES SICILIENNES) immer mal wieder auf der Bühne anzutreffen: Scala di Milano, Bologna, Wiener Staatsoper, Turin, Royal Opera House Covent Garden, San Carlo in Napoli, Deutsche Oper Berlin u.a.m.

Inhalt:

Die Oper behandelt (historisch ziemlich fehlerhaft) den Aufstand in Palermo zur Vesperzeit am 30 März 1282 gegen die Herrschaft Karls von Anjou auf Sizilien.

Die sich unterdrückt fühlenden Sizilianer, aufgestachelt von der um ihren von den Franzosen ermordeten Bruder trauernden Elena, sinnen auf Rache an der Schreckensherrschaft der französischen Besetzer der Insel. Der Gouverneur Montfort will den eben aus der Haft entlassenen Widerstandskämpfer Arrigo auf seine Seite ziehen. Doch Arrigo eilt zu Elena.

Giovanni di Procida ist der geistige Führer der Widerstandskmpfer. Er kehrt eben aus dem Exil zurück (O tu Palermo) und ruft seine Landsleute zur offenen Erhebung auf. Arrigo sichert ihm Unterstützung zu. Er wird jedoch gegen seinen Willen in den Palast des Gouverneurs Montfort geschleppt. Procida versteht sich wunderbar in der Agitation und stachelt französische Soldaten zum Brautraub anlässlich eines sizilianischen Hochzeitsfestes an. Auch Elenas Zofe wird von den Franzosen entführt.

Monfort hat unterdessen durch einen Brief seiner von ihm getrennt lebenden Gemahlin erfahren, dass Arrigo eigentlich sein Sohn ist. Er gibt sich Arrigo gegenüber als Vater zu erkennen.

Maskenball im Palast Monforts: (Ballett LES QUATRE SAISONS). Elena will Montfort erdolchen, doch Arrigo wirft sich schützend vor seinen Vater. Arrigo wird als Verräter gebrandmarkt.

Arrigo erklärt der gefangen genommenen Elena sein Dilemma. Monfort verlangt die Hinrichtung der Verschwörer. Arrigo bittet seinen Vater um Gnade für Elena und Procida und deren Anhänger. Monfort stimmt unter der Bedingung zu, dass Arrigo ihn „Vater“ nenne. Arrigo weigert sich. Doch angesichts des Henkers ruft er Mio padre! Montfort hält sein Versprechen und will Arrigo und Elena am nächsten Tag zur Vesperstunde vermählen.

Es folgt ein Liebesuett Arrigo-Elena und ihr Hoffen auf Versöhnung zwischen den Franzosen und den Sizilianern. Procida flüstert jedoch Elena zu, dass nach dem Läuten der Hochzeitsglocken und ihrem Jawort das Gemetzel beginnen wird. Elena will deshalb auf die Hochzeit verzichten, um das Stichwort für den Aufstand nicht geben zu müssen. Arrigo klagt seinem Vater die geplante Verweigerung der Eheschliessung durch Elena. Monfort legt die Händer der Liebenden aber trotzdem ineinander. Procida lässt die Kirchenglocken läuten und trotz Elenas wiederholtem NEIN stürzen sich sizilianische Kämpfer auf die Franzosen und metzeln Monfort und die Franzosen nieder.

Werk:

Nach dem grossen Erfolg mit der Vertonung von Victor Hugos LE ROI S'AMUSE als RIGOLETTO standen Verdi auch die Türen der Pariser Oper weit offen. So nahm er den Auftrag, eine Oper für die Pariser Weltausstellung zu komponieren, gerne an. Die breitgefächerten Möglichkeiten des grossen Hauses lockten ihn, obwohl er sich wohl kaum ganz dessen bewusst war, dass er sich nicht (wie er es sich gewohnt war) mit dem Librettisten zusammenraufen konnte. Denn zur Verfügung gestellt wurde ihm ein Elaborat aus der Schreibwerkstatt von Eugène Scribe, der nur ein ursprünglich für Donizetti vorgesehenes Libretto (LE DUC D'ALBA) durch eine Verlegung nach Sizilien leicht zu LES VÊPRES SICILIENNES abzuändern bereit war und die Ausführung danach einem Assistenten überliess. Trotzdem geriet die Uraufführung zu einem Erfolg und ermöglichte Verdi, seine Fortschritte im Bereich der Harmonik und der Entwicklung der Figuren zu demonstrieren. In Italien musste aufgrund der Zensur die Handlung nach Portugal verlegt werden (die Oper hiess nun GIOVANNA DE GUZMAN) und erschien erst 1861 unter dem Titel I VESPRI SICILIANI auf den Bühnen. Das Werk erlebte in den 1920er jahren eine Art Renaissance auf den mitteleuropäischen Bühnen, danach wurde es wieder seltener gespielt, doch in den letzten 50 Jahren erkannte man, dass die Opert kompositorisch hervorragend gemacht ist und Verdis Reifeprozess hervorragend zeigt. Sie enthält fantasievolle melodische Eingebungen, differenziert gestaltete Ensembles, effektvolle Aktfinali und musikalisch subtil ausgestaltete Partien von Menschen in Dilemmata. Die beiden schwierigen Arien der Elena (In alto mare und der Boléro Mercé, dilette amiche) und die prächtige, patriotische Bassarie des Procida O patria – O tu Palermo, sowie der dritte Akt mit der grossen Szene des Monforte und der anschliessenden Auseinandersetzung mit seinem Sohn Arrigo und dessen Arie Giorno di pianto zu Beginn des vierten Aktes gehören zu den eindringlichsten Momenten von Verdis mittlerer Schaffensperiode. Eine sehr gelungene Komposition stellt auch die für die Pariser Oper obligate Balletteinlage (Les Quatre Saisons) dar, welche jedoch heutzutage oft Strichen zum Opfer fällt.

Von mir besuchte Aufführungen von I VESPRI SICILIANI am Opernhaus Zürich:

01.12.1971 ML: Nello Santi, Inszenierung: Ladislav Štros; Elena: Eva Illes, Monforte: Kari Nurmela,. Arrigo: Sergio di Amorim, Procida: Aurelian Neagu

08.06.2004 ML: Carlo Rizzi, Inszenierung: Cesare Lievi, Elena: Paoletta Marrocu, Monforte: Leo Nucci, Arrigo: Renzo Zulian, Procida: Ruggero Ramondi

Karten

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