Freiburg: I VESPRI SICILIANI, 23.11.2013
Oper in fünf Akten | Musik: Giuseppe Verdi | Libretto: Eugène Scribe und Charles Duveyrier | Uraufführung (französische Originalfassung) : 13. Juni 1855 in Paris | Uraufführung der ersten italienischen Fassung unter dem Titel GIOVANNA DE GUZMAN: 26. Dezember 1855 in Parma | Aufführungen in Freiburg: 23.11. | 5.12. | 7.12. | 13.12. | 20.12. | 25.12.2013 | 10.1. | 12.1. | 17.1. | 19.1. | 24.1. | 12.2. | 14.2. | 16.2.2014
Kritik:
Bereits in den ersten Takten des vom Philharmonischen Orchester Freiburg unter der Leitung von Fabrice Bollon so präzise und spannungsgeladen interpretierten Vorspiels spürt man den musikalisch gereiften Verdi. Raffinierte harmonische und rhythmische Wendungen und Rückungen und die effektvolle Farbigkeit der Instrumentierung lassen die Emanzipation des Komponisten von seinen Vorbildern Donizetti und Bellini erkennen. Allein schon diese Ouvertüre lohnt den Besuch dieser (noch immer zu selten gespielten) Oper aus Verdis mittlerer Schaffensperiode.
Regisseur Michael Sturm betont in seiner Inszenierung den tableauartigen Charakter des Werks mit geschmackvollen Arrangements der Massen- und der intimeren Szenen im leeren, mediterran leuchtend-orangen Halbrund der Bühne von Stefan Rieckhoff. Wenige Versatzstücke reichen den beiden aus, um die wechselnden Schauplätze zu definieren: Eine immer wiederkehrende Statue der Santa Rosalia mit Totenschädel (welche im Gefängnisbild gar zum Leben erwacht und damit wohl unbeabsichtigte Lacher im Publikum provoziert), viele Stühle (die Assoziation mit Ionescos Theaterstück stellt sich unweigerlich ein, führt aber nicht weiter), ein Käfig für die Gefangenen, eine Wand und Lüster im Palast, ein Ruderboot für Procidas Ankunft. Die karge Ausstattung und die einfarbig schwarz (und im Hochzeitsbild weiss) gehaltenen Kostüme (Mitte 20. Jh) von Stefan Rieckhoff würden eigentlich ausreichen, um die Geschichte, diese wie oft bei Verdi unheilvolle Verstrickung von Politik und qualvollem persönlichen Schicksal, plausibel zu erzählen. Doch leider bleibt die Personenregie im Ungefähren stecken, die Emotionen werden ausgeblendet und die Sänger allein gelassen. Allzu oft nehmen dann konventionellste Operngestik und unbeholfenes Herumstehen an der Rampe überhand. Interessant hingegen ist die Idee, den ermordeten Bruder Elenas, Frederigo, der während des Vorspiels von Folter gezeichnet tot vom Stuhl fiel, immer wieder als Untoten über die Bühne geistern zu lassen. Hier wird eine beinahe inzestuöse Beziehung Elenas zu ihrem Bruder angetönt, welche auch deren Bindungsangst zu Arrigo teilweise erklärt. Zu dick aufgetragen und gar nicht einleuchtend hingegen die Videoparabel von der unschuldigen Gazelle, welche vom Geparden gejagt und erlegt wird. Oder soll damit auch gleich noch ein Bogen zu Giuseppe Tomasi di Lampedusas Sizilien-Roman DER GATTOPARDO geschlagen werden? Mir jedenfalls hat sich diese aufgesetzt wirkende Videosequenz nicht erschlossen. Zum Glück stellte sich die Befürchtung nicht ein, dass sie zum Massaker am Ende der Oper nochmals projiziert werde. Stattdessen fiel ein blutgetränkter Vorhang auf die unbeholfen ihren Tod erwartenden Franzosen und über den Leichen erhob sich Procida mit wehender italienischer Tricolore.
Bedingt durch Krankheitsfälle im Ensemble musste die Premiere ja um drei Wochen verschoben werden. Doch erneut hatte es kurz vor der Premiere nun den Tenor und die Sopranistin "erwischt". Somit wurden gestern die Rollen der Elena und des Arrigo von der geplanten Zweitbesetzung interpretiert. Obwohl sich auch Liene Kinča als leicht indisponiert ansagen liess, überraschte die junge Sopranistin mit einer fulminanten musikalischen Leistung in dieser schwierigen Partie zwischen Spinto- und Koloraturfach. Die preghiera im ersten Akt erfüllte sie mit ihrer wunderbar dunkel funkelnd timbrierten Stimme mit zu Herzen gehender Innigkeit, den diffizilen Bolero im Schlussakt mit leichtfüssig perlender Koloratursicherheit. Wunderbar: Hier kündigt sich eine ideale Lady Macbeth an! Diese Sängerin muss man unbedingt im Auge behalten! Für James Lee kommt die relativ hohe Tessitura des Arrigo allerdings etwas zu früh. Von der sicher und schön geführten, gut fokussierten Mittellage aus erreichte er die höheren Töne nur unter Aufbietung all seiner (gewiss beachtlichen) Reserven. Doch fragt man sich, ob er der Entwicklung seiner Stimme mit dieser Hochdruck-Leistung und dem ständigen Singen am Limit wirklich einen Gefallen tut. Sehr schön und sauber gelang den beiden die Kadenz des Duetts. Juan Orozco gab mit seinem nobel und raumfüllend strömenden Bariton den Tyrannen Monfort, den Mann der mit dem Dilemma Machterhaltung versus Vaterliebe kämpft. Im Spiel war er zwar relativ zurückhaltend, doch stimmlich wahrlich beeindruckend. Mit zu Beginn (O patria) etwas aufgerautem, leicht zittrigem Bass, doch im Verlauf des Abends immer sicherer und schwärzer werdend und mit herrlicher Tiefe sang Jin Seok Lee den unversöhnlichen Procida. Adäquat besetzt waren die Nebenrollen der französischen Offiziere. Eine gewichtige Rolle spielt der Chor in dieser Oper und der Chor und Extrachor des Theaters Freiburg (Einstudierung Bernhard Moncado) löste die dankbare Aufgabe mit Verve und geballter, aber auch fein differenzierter Durchschlagskraft. Das Philharmonische Orchester Freiburg und der Dirigent Fabrice Bollon untermalten das hochdramatische Geschehen auf der Bühne mit kräftigen Farben, klug disponierter Architektonik, vorwärtsdrängenden Tempi, aber auch eindringlichen Phrasen der Holzbläser und der Violinen. Insgesamt doch eine lohnenswerte Begegnung mit einem zu Unrecht etwas vernachlässigten Werk des Meisters der italienischen Oper, der vor 200 Jahren geboren wurde und die Musiktheaterlandschaft mit seinen unsterblichen Melodien, seiner gekonnt verknappten Dramatik und seiner einfühlsamen Charakterisierungskunst so reich beschenkt hat.
Inhalt:
Die Oper behandelt (historisch ziemlich fehlerhaft) den Aufstand in Palermo zur Vesperzeit am 30 März 1282 gegen die Herrschaft Karls von Anjou auf Sizilien.
Die sich unterdrückt fühlenden Sizilianer, aufgestachelt von der um ihren von den Franzosen ermordeten Bruder trauernden Elena, sinnen auf Rache an der Schreckensherrschaft der französischen Besetzer der Insel. Der Gouverneur Montfort will den eben aus der Haft entlassenen Widerstandskämpfer Arrigo auf seine Seite ziehen. Doch Arrigo eilt zu Elena.
Giovanni di Procida ist der geistige Führer der Widerstandskmpfer. Er kehrt eben aus dem Exil zurück (O tu Palermo) und ruft seine Landsleute zur offenen Erhebung auf. Arrigo sichert ihm Unterstützung zu. Er wird jedoch gegen seinen Willen in den Palast des Gouverneurs Montfort geschleppt. Procida versteht sich wunderbar in der Agitation und stachelt französische Soldaten zum Brautraub anlässlich eines sizilianischen Hochzeitsfestes an. Auch Elenas Zofe wird von den Franzosen entführt.
Monfort hat unterdessen durch einen Brief seiner von ihm getrennt lebenden Gemahlin erfahren, dass Arrigo eigentlich sein Sohn ist. Er gibt sich Arrigo gegenüber als Vater zu erkennen.
Maskenball im Palast Monforts: (Ballett LES QUATRE SAISONS). Elena will Montfort erdolchen, doch Arrigo wirft sich schützend vor seinen Vater. Arrigo wird als Verräter gebrandmarkt.
Arrigo erklärt der gefangen genommenen Elena sein Dilemma. Monfort verlangt die Hinrichtung der Verschwörer. Arrigo bittet seinen Vater um Gnade für Elena und Procida und deren Anhänger. Monfort stimmt unter der Bedingung zu, dass Arrigo ihn „Vater“ nenne. Arrigo weigert sich. Doch angesichts des Henkers ruft er Mio padre! Montfort hält sein Versprechen und will Arrigo und Elena am nächsten Tag zur Vesperstunde vermählen.
Es folgt ein Liebesuett Arrigo-Elena und ihr Hoffen auf Versöhnung zwischen den Franzosen und den Sizilianern. Procida flüstert jedoch Elena zu, dass nach dem Läuten der Hochzeitsglocken und ihrem Jawort das Gemetzel beginnen wird. Elena will deshalb auf die Hochzeit verzichten, um das Stichwort für den Aufstand nicht geben zu müssen. Arrigo klagt seinem Vater die geplante Verweigerung der Eheschliessung durch Elena. Monfort legt die Händer der Liebenden aber trotzdem ineinander. Procida lässt die Kirchenglocken läuten und trotz Elenas wiederholtem NEIN stürzen sich sizilianische Kämpfer auf die Franzosen und metzeln Monfort und die Franzosen nieder.
Werk:
Nach dem grossen Erfolg mit der Vertonung von Victor Hugos LE ROI S'AMUSE als RIGOLETTO standen Verdi auch die Türen der Pariser Oper weit offen. So nahm er den Auftrag, eine Oper für die Pariser Weltausstellung zu komponieren, gerne an. Die breitgefächerten Möglichkeiten des grossen Hauses lockten ihn, obwohl er sich wohl kaum ganz dessen bewusst war, dass er sich nicht (wie er es sich gewohnt war) mit dem Librettisten zusammenraufen konnte. Denn zur Verfügung gestellt wurde ihm ein Elaborat aus der Schreibwerkstatt von Eugène Scribe, der nur ein ursprünglich für Donizetti vorgesehenes Libretto (LE DUC D'ALBA) durch eine Verlegung nach Sizilien leicht zu LES VÊPRES SICILIENNES abzuändern bereit war und die Ausführung danach einem Assistenten überliess. Trotzdem geriet die Uraufführung zu einem Erfolg und ermöglichte Verdi, seine Fortschritte im Bereich der Harmonik und der Entwicklung der Figuren zu demonstrieren. In Italien musste aufgrund der Zensur die Handlung nach Portugal verlegt werden (die Oper hiess nun GIOVANNA DE GUZMAN) und erschien erst 1861 unter dem Titel I VESPRI SICILIANI auf den Bühnen. Obwohl des Werk in den 20er Jahren eine Renaissance erlebte, fristet es doch leider ein Aussenseiterdasein unter dem reichhaltigen Schaffen des Maestros. Sehr zu Unrecht, denn die Oper ist kompositorisch hervorragend gemacht, enthält fantasievolle melodische Eingebungen, differenziert gestaltete Ensembles, effektvolle Aktfinale und musikalisch subtil ausgestaltete Partien von Menschen in Dilemmata. Die beiden schwierigen Arien der Elena (In alto mare und der Boléro Mercé, dilette amiche) und die prächtige, patriotische Bassarie des Procida O patria – O tu Palermo, sowie der dritte Akt mit der grossen Szene des Monfort und der anschliessenden Auseinandersetzung mit seinem Sohn Arrigo und dessen Arie Giorno di pianto zu Beginn des vierten Aktes gehören zu den eindringlichsten Momenten von Verdis mittlerer Schaffensperiode. Eine sehr gelungene Komposition stellt auch die für die Pariser Oper obligate Balletteinlage (Les Quatre Saisons) dar, welche jedoch heutzutage oft Strichen zum Opfer fällt.