London, Royal Opera House: LES VÊPRES SICILIENNES, 25.10.2017
Oper in fünf Akten | Musik: Giuseppe Verdi | Libretto: Eugène Scribe und Charles Duveyrier | Uraufführung (französische Originalfassung) : 13. Juni 1855 in Paris | Uraufführung der ersten italienischen Fassung unter dem Titel GIOVANNA DE GUZMAN: 26. Dezember 1855 in Parma | Aufführungen in London: 12.10. | 17.10. | 20.10. | 25.10. | 31.10. | 4.11.2017
Kritik:
Sie ist (und bleibt es auch nach diesem Wiederbelebungsversuch in London - Premiere war 2013) ein Sorgenkind unter Verdis Opernwerken, seine für Paris komponierte Grand Opéra LES VÊPRES SICILIENNES, eine Oper, die trotz all ihre wunderbaren musikalischen Kostbarkeiten den Einzug ins Standardrepertoire nicht geschafft hat. Warum bloss? Sie bietet doch dankbare, anspruchsvolle Rollen für die vier Hauptpartien, grandiose Chortableaus, mitreissende, hochdramatische Aktfinali, aufpeitschende Musik, die bei Verdi oft anzutreffende Verquickung von Politik und persönlichem, krudem Schicksal - Ingredienzien also, die man in den ungleich erfolgreicheren Werken wie TROVATORE, DON CARLO, AIDA oder ERNANI auch findet.
In London nun hat man sich auf die französische Originalfassung besonnen - das Royal Opera House präsentiert eine opulente, herausragend gut besetzte Produktion - und beisst sich sich trotzdem die Zähne an der langen (Spieldauer mit zwei Pausen: 4 h) Oper aus. Stefan Herheim (Regie), Philipp Fürhofer (Bühne), Gesine Völlm (wunderbar gearbeitete, kostbare Roben für die Damen und treffende Kostüme für das sizilianische Volk und die französische Offiziere und Soldaten aus der Zeit des Second Empire), André de Jong (Choreographie, ganz wichtig in dieser Produktion!) und Andres Poll (exzellente Lichtgestaltung) berufen sich in ihrem Inszenierungsansatz einerseits auf Verdis berühmten Satz - dass es besser sei die Wahrheit zu erfinden als sie zu kopieren - und andererseits auf den Maler Degas, welcher der konstruierten Künstlichkeit der Gefühle auf der Bühne (bei ihm insbesondere des Balletts) in seinen Gemälden Ausdruck verliehen hatte. Herheim und sein Team drehen nun an der Schraube der Künstlichkeit beinahe aller Opern noch eine Windung weiter und versetzen die Handlung in ein der Pariser Oper nachempfundenes Opernhaus. Theater auf dem Theater also, und der Kritiker stöhnt auf, denn diesen Regiekniff hat man langsam sowas von satt. Allerdings, das muss man dann doch lobend erwähnen, dieses Bühnenbild ist eine Wucht. Da öffnen sich Räume gigantischen Ausmasses, Säle, Spiegel, Wandmalereien, Logen, der Ballettsaal. Für PHANTOM OF THE OPERA wäre es perfekt gewesen. Herheim versuchte während des Vorspiels in einer überrealistischen Pantomine die verzwickte Vorgeschichte zu bebildern. Dabei griff er jedoch zu einem brutalen, naturalistischen Realismus, der zu der angestrebten Offenlegung der Künstlichkeit in krasser Opposition steht. Procida ist bei ihm ein strenger Ballettmeister, Montfort und seine Truppen dringen in den Ballettsaal ein, vergewaltigen die Ballerinen, lassen Sie tanzen, bis sie umkippen, die letzte wird dann von Montfort brutal geschändet, so zeugt er seinen Sohn und die fatale Vater-Sohn Geschichte nimmt ihren Lauf. Procida wird von den Soldaten verstümmelt, in der Folge tritt dann der Ballettmeister mit einer Beinprothese auf, was seine unstillbaren Gefühle der Rache erklären soll. Montfort wird jedoch zunehmend auch von Gewissensqualen heimgesucht, schwarz gewandete, teils schwangere Ballerinen umkreisen ihn, auch der Geist seines Sohnes, den er nie aufwachsen sehen durfte und dem er erst begegnet, als dieser zu seinem Gegenspieler herangereift ist, sucht ihn heim. Das ist alles von der Personenführung und der Choreografie her sehr geschickt gemacht, zum Teil derart intensiv, dass man das unpassende Setting darob vergisst. Verdis Musik ist ja oft sehr tänzerisch in ihren Begleitfiguren. Dies haben Regisseur und Choreograf quasi eins zu eins umgesetzt und lassen die Sylphiden praktisch unentwegt dazu tanzen. Die vierzehn Ballerinen machen das hervorragend. Der grösste Witz ist jedoch, dass Verdis für diese Oper komponierte Ballettmusik (Die vier Jahreszeiten) komplett gestrichen und trotzdem eine Ballettoper aus dem Drama gemacht wurde. So blieb also diese Sizilianische Vesper szenisch eine eher zwiespältige Angelegenheit - musikalisch jedoch eine restlos begeisternde Sache und ein grandioses Plädoyer für diese Oper. Star des Abends war für mich der Montfort von Michael Volle. Wie er seinen widerstreitenden Gefühlen (Sohnesliebe, brutaler Tyrann) Ausdruck verlieh, war von packender Intensität. Herauszuheben ist auch seine ausgezeichnete Diktion des französischen Textes. Die Stimme strömte mit Kraft, Virilität und - wo geboten - mit Empfindsamkeit. Als sein Sohn Henri durfte man den zur Zeit hochgehandelten Tenor Bryan Hymel erleben. Bruchlos geführt ist sein direkt und sauber ansprechender, heller Tenor. Das Timbre für meinen Geschmack an einigen Stellen etwas zu "quäkig-nasal", aber das ist wie gesagt Geschmackssache, viele hören das komplett anders. Erwin Schrott gab einen stimmgewaltigen, erbarmungslosen Procida, den er in all seiner unerbittlich auf Rache sinnenden Art überzeugend darstellte. Sensationell für mich war die Helena von Malin Byström: Welch wunderbarer Spinto, herrliche Tiefe, sichere Koloraturen, angenehm bronzen schimmerndes Timbre. Die Partie ist extrem schwierig (viele berühmte Sängerinnen haben nur allzu gerne einen Bogen um diese Rolle gemacht), doch Malin Byström meisterte sowohl die effektvolle Caballetta im Gebet des ersten Aktes als auch den noch schwierigeren Boléro im vierten Akt mit Bravour. In den Duetten, Terzetten, Quartetten und Finali konnte sie zudem mühelos gegen ihre stimmkräftigen Partner bestehen. Aufhorchen unter den guten Sängern der kleineren Partien liessen Simon Shibambu als Béthune und der wunderschöne Tenor von Nico Darmanin als Danieli (dessen Rolle vom Regisseur enorm aufgewertet wurde). Chor (Einstudierung: William Spaulding, der von der Deutschen Oper Berlin ans Royal Opera House gewechselt hat) und das Orchestra of the Royal Opera House unter der präzisen, sehr schön die atmosphärischen Feinheiten von Verdis Partitur akzentuierenden Leitung von Maurizio Benini vermochten zu begeistern.
Inhalt:
Die Oper behandelt (historisch ziemlich fehlerhaft) den Aufstand in Palermo zur Vesperzeit am 30 März 1282 gegen die Herrschaft Karls von Anjou auf Sizilien.
Die sich unterdrückt fühlenden Sizilianer, aufgestachelt von der um ihren von den Franzosen ermordeten Bruder trauernden Elena, sinnen auf Rache an der Schreckensherrschaft der französischen Besetzer der Insel. Der Gouverneur Montfort will den eben aus der Haft entlassenen Widerstandskämpfer Arrigo auf seine Seite ziehen. Doch Arrigo eilt zu Elena.
Giovanni di Procida ist der geistige Führer der Widerstandskmpfer. Er kehrt eben aus dem Exil zurück (O tu Palermo) und ruft seine Landsleute zur offenen Erhebung auf. Arrigo sichert ihm Unterstützung zu. Er wird jedoch gegen seinen Willen in den Palast des Gouverneurs Montfort geschleppt. Procida versteht sich wunderbar in der Agitation und stachelt französische Soldaten zum Brautraub anlässlich eines sizilianischen Hochzeitsfestes an. Auch Elenas Zofe wird von den Franzosen entführt.
Monfort hat unterdessen durch einen Brief seiner von ihm getrennt lebenden Gemahlin erfahren, dass Arrigo eigentlich sein Sohn ist. Er gibt sich Arrigo gegenüber als Vater zu erkennen.
Maskenball im Palast Monforts: (Ballett LES QUATRE SAISONS). Elena will Montfort erdolchen, doch Arrigo wirft sich schützend vor seinen Vater. Arrigo wird als Verräter gebrandmarkt.
Arrigo erklärt der gefangen genommenen Elena sein Dilemma. Monfort verlangt die Hinrichtung der Verschwörer. Arrigo bittet seinen Vater um Gnade für Elena und Procida und deren Anhänger. Monfort stimmt unter der Bedingung zu, dass Arrigo ihn „Vater“ nenne. Arrigo weigert sich. Doch angesichts des Henkers ruft er Mio padre! Montfort hält sein Versprechen und will Arrigo und Elena am nächsten Tag zur Vesperstunde vermählen.
Es folgt ein Liebesuett Arrigo-Elena und ihr Hoffen auf Versöhnung zwischen den Franzosen und den Sizilianern. Procida flüstert jedoch Elena zu, dass nach dem Läuten der Hochzeitsglocken und ihrem Jawort das Gemetzel beginnen wird. Elena will deshalb auf die Hochzeit verzichten, um das Stichwort für den Aufstand nicht geben zu müssen. Arrigo klagt seinem Vater die geplante Verweigerung der Eheschliessung durch Elena. Monfort legt die Händer der Liebenden aber trotzdem ineinander. Procida lässt die Kirchenglocken läuten und trotz Elenas wiederholtem NEIN stürzen sich sizilianische Kämpfer auf die Franzosen und metzeln Monfort und die Franzosen nieder.
Werk:
Nach dem grossen Erfolg mit der Vertonung von Victor Hugos LE ROI S'AMUSE als RIGOLETTO standen Verdi auch die Türen der Pariser Oper weit offen. So nahm er den Auftrag, eine Oper für die Pariser Weltausstellung zu komponieren, gerne an. Die breitgefächerten Möglichkeiten des grossen Hauses lockten ihn, obwohl er sich wohl kaum ganz dessen bewusst war, dass er sich nicht (wie er es sich gewohnt war) mit dem Librettisten zusammenraufen konnte. Denn zur Verfügung gestellt wurde ihm ein Elaborat aus der Schreibwerkstatt von Eugène Scribe, der nur ein ursprünglich für Donizetti vorgesehenes Libretto (LE DUC D'ALBA) durch eine Verlegung nach Sizilien leicht zu LES VÊPRES SICILIENNES abzuändern bereit war und die Ausführung danach einem Assistenten überliess. Trotzdem geriet die Uraufführung zu einem Erfolg und ermöglichte Verdi, seine Fortschritte im Bereich der Harmonik und der Entwicklung der Figuren zu demonstrieren. In Italien musste aufgrund der Zensur die Handlung nach Portugal verlegt werden (die Oper hiess nun GIOVANNA DE GUZMAN) und erschien erst 1861 unter dem Titel I VESPRI SICILIANI auf den Bühnen. Obwohl des Werk in den 20er Jahren eine Renaissance erlebte, fristet es doch leider ein Aussenseiterdasein unter dem reichhaltigen Schaffen des Maestros. Sehr zu Unrecht, denn die Oper ist kompositorisch hervorragend gemacht, enthält fantasievolle melodische Eingebungen, differenziert gestaltete Ensembles, effektvolle Aktfinale und musikalisch subtil ausgestaltete Partien von Menschen in Dilemmata. Die beiden schwierigen Arien der Elena (In alto mare und der Boléro Mercé, dilette amiche) und die prächtige, patriotische Bassarie des Procida O patria – O tu Palermo, sowie der dritte Akt mit der grossen Szene des Monfort und der anschliessenden Auseinandersetzung mit seinem Sohn Arrigo und dessen Arie Giorno di pianto zu Beginn des vierten Aktes gehören zu den eindringlichsten Momenten von Verdis mittlerer Schaffensperiode. Eine sehr gelungene Komposition stellt auch die für die Pariser Oper obligate Balletteinlage (Les Quatre Saisons) dar, welche jedoch heutzutage oft Strichen zum Opfer fällt.